Schwerpunktthema

„Das klingt ja wie die Stimme meines Papas!“

Von Markus Sommerer

 

Musiktherapie mit ausgewählten digitalen Medien – Möglichkeiten und Grenzen

Wenn wir unsere Umwelt betrachten, können wir bemerken, wie uns digitale Medien umgeben und unseren Alltag prägen. Sie sind aus unserer Lebenswelt nicht mehr wegzudenken. Digitale Medien umgeben uns bei der Arbeit, in der Freizeit und zu Hause. Es ist kaum möglich, nicht mit ihnen in Berührung zu kommen: Computer sind allgegenwärtig, fast jeder besitzt ein Mobiltelefon oder ein tragbares Musikabspielgerät wie Mp3-Player oder iPod.
Seit meiner Kindheit faszinieren mich digitale Musikinstrumente. Wie ist es möglich, aus einem einzigen Instrument Hunderte erklingen zu lassen? Ehrfurcht, Begeisterung, aber auch Ablehnung und Misstrauen können hervorgerufen werden, wenn jemand Klänge aus anderen „Sphären“ am Synthesizer entstehen lässt und aus einer Kinderstimme eine dunkle Männerstimme zaubert.

Für Musiktherapeuten stellt sich die Frage: Für welche Klientel ist der Einsatz digitaler Medien adäquat? Vor allem in der Arbeit mit sogenannten „digital natives“, Kindern und Jugendlichen also, für die die Beziehung zur Elektronik etwas Selbstverständliches und Vertrautes ist, kann dies ein wichtiger therapeutischer Ansatzpunkt sein. Dieses belegt auch die Jim-Studie 2009 des medienpädagogischen Forschungsverbundes Südwest, die zeigt, dass Jugendliche im Alter von 12 bis 19 Jahren in hohem Maße mit Mediengeräten ausgestattet sind. Dies zeigte sich in der Anzahl der Geräte im Haushalt. Dabei wurde festgestellt, dass 2009 pro Haushalt im Durchschnitt 3,9 Mobiltelefone, 2,6 Computer oder Laptops, 2,4 Fernseher, 2,1 MP3-Player, 1,6 Internetzugänge und jeweils 1,1 feste bzw. tragbare Spielkonsolen vorhanden waren (Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest – JIM-Studie, 2009, 6f). Eine weitere darin veröffentlichte Tabelle veranschaulicht, dass wir nicht nur in einem Zeitalter der digitalen Medien leben, sondern dass diese Medien zu etwas Selbstverständlichem, Vertrautem und Begleitendem für die Jugend von heute geworden sind. Dies bildet einen wichtigen Anknüpfungspunkt in der Musiktherapie, die schließlich nach dem Grundsatz arbeitet: „Den Patienten dort abholen, wo er steht“. Die in der Studie aufgezeigte Dichte elektronischer Medien in deutschen Haushalten und die damit einhergehende Vertrautheit der Kinder mit diesen kann auch als Chance gesehen werden, diese Gruppe über den Einsatz von elektronischen Medien zu erreichen. In der Musiktherapie können diese Patienten im weiteren Therapieverlauf auch an akustische Instrumente herangeführt werden, mit denen viele nicht vertraut sind.
Die zentralen Fragen sind, was Musiktherapeuten dazu bewegen kann, im therapeutischen Setting digitale Medien einzusetzen, wann eine Anwendung digitaler Medien sinnvoll erscheint, welche Chancen sie bietet und welchen Grenzen sie unterliegt.
In meiner Augsburger Masterthesis (betreut von Prof. Dr. H. U. Schmidt und Prof. Dr. T. Timmermann) über digitale Medien und Geräte habe ich mich mit diesem Thema auseinandergesetzt und konnte durch viele Erfahrungsberichte von Kollegen und aus meiner eigenen Praxis mit digitalen Medien (in u. a. der Gerontopsychiatrie, der Neurorehabilitation, der Kinder- und Jugendpsychiatrie, der Erwachsenenpsychiatrie und der Arbeit mit behinderten und mehrfachbehinderten Menschen) erfahren, welche Vorteile und (zum Teil erstaunliche) Möglichkeiten die Verwendung digitaler Medien bietet.
Es gibt eine Vielzahl digitaler Medien, die im musiktherapeutischen Setting eingesetzt werden können (siehe Tabelle) – manche bekannter (wie z.B. das Keyboard), manche weniger bekannt.


Übersicht über einige digitale Medien, die im musiktherapeutischen Rahmen zur Anwendung kommen können:

  • Keyboard/Synthesizer
  • Elektronisches Schlagzeug mit Soundmodul
  • Effektgeräte für die Stimme: Vocalist, Vocoder
  • Mikrofon
  • Mixer bzw. Mischpulte
  • Aufnahmegeräte (z.B. MiniDisk-Recorder, Mp3-Recorder, DAT- Recorder, Handy-Recorder)
  • Abspielgeräte mit Veränderung der Abspielgeschwindigkeit, Tonhöhenänderung (z.B. CD-Player, Mp3-Player)
  • Soundbeam mit Ultraschallköpfen und Soundmodul
  • Weitere Effektgeräte (z. B. Halleffekt)
  • Sampler
  • Computer unter Verwendung von:
    - Musikbearbeitungssoftware
    - Kompositionssoftware
    - Aufnahmesoftware
    - Internet
  • Drumcomputer
  • MIDI- Instrumente mit Trigger/Sensoren-, Lichtschranken- und Lasertechnologie


Ich möchte in diesem Artikel nun eines der weniger bekannten, dafür umso eindrücklicheren Medien, vorstellen: Den Vocalisten.


„Das klingt ja wie die Stimme meines Papas!“ – oder „meine Stimme klingt so, als ob ich schon ganz groß wäre!“

Diese oder ähnliche Sätze von Kindern sind mir beim Einsatz des Vocalisten mit Kindern und Jugendlichen schon begegnet.
Was ist der Vocalist?
Vocalist bezeichnet den Markennamen eines digitalen Effektgerätes, das es ermöglicht, die menschliche Stimme in der Tonhöhe, in der Tonlänge, im Klang, der Klangqualität und der Stimmenanzahl zu verändern.
Was passiert, wenn ein Patient in der Kinder- und Jugendpsychiatrie seine äußere Gestalt bzw. sein Aussehen einmal so verändern könnte, z. B. mit Masken etc., um aus seiner Rolle des ängstlichen und mit niederem Selbstwert versehenen Menschen zur Probe in eine Ressourcen anbietende Rolle zu schlüpfen? Er bedient sich dazu einer Perücke, die den Kopfumfang vergrößern soll, benutzt Lippenstift, Schuhe mit einem sehr hohen Absatz und einen langen roten Mantel, um erwachsen zu wirken, und sich so geschützt zu fühlen und selbstsicher zu wirken.
Was würde passieren, wenn wir diese „Verkleidung“ nicht nur mit äußeren Dingen machen können, sondern mit der persönlichsten Ausdrucksmöglichkeit, die wir besitzen – unserer Stimme. Der Vocalist gibt uns die Möglichkeit, nicht nur die Stimme in verschiedenen Tonhöhen, sondern z. B. auch als Instrumentenklänge wiederzugeben. Dies kann ein „Schutzmantel“, eine „Perücke“ sein, unter der endlich das ausgesprochen bzw. ausgedrückt werden kann, was ohne diesen Schutz nicht möglich gewesen wäre. Der Vocalist gibt uns aber auch die Möglichkeit, die eigene Stimme um viele Oktaven zu erhöhen oder zu vertiefen. Dies birgt die Möglichkeit, die eigene Stimme altern zu lassen, indem man sie erniedrigt, oder sie zur „Verjüngung“ erhöht. So kann sich die Stimme eines Patienten wie die eines nahen Verwandten anhören. Darin steckt ein enormes therapeutisches Potential. Ein Patient sagt erstaunt und mit leuchtenden Augen: „Das klingt ja wie die Stimme meines Papas!“. Diese Möglichkeit der Stimmmodulation kann ein „Gänsehautgefühl“ auslösen, das im therapeutischen Prozess sehr viel bewirken und auslösen kann und deshalb mit Bedacht eingesetzt werden sollte. Was würde ich mit der Stimme meines Vaters sagen, was mein Vater nicht sagt oder nicht sagen kann?
Durch die Verwendung zweier an den Vocalisten angeschlossener Mikrofone können beispielsweise mit einer sehr tiefen und lauten „Monsterstimme“ Aggressionen zwischen zwei Patienten auf einer intensiveren, aber „distanzierteren“ Ebene ausgedrückt und verarbeitet werden. Unterdrückte Emotionen finden damit einen Weg des Ausdrucks. Im weiteren Schritt kann der Patient wieder mit der natürlichen Stimme auf einer Metaposition über das Vorherige (evtl. am PC aufgenommenes Material) reflektieren. Eine weitere Möglichkeit stellt das Erzeugen einer „Stimmenpeergroup“ dar, die durch das Vervielfältigen der eigenen Stimme erzeugt werden kann. Weiter ermöglichen es die Motivationssteigerung und der Spaßfaktor, die Patienten einzuladen, die ihre Stimme in der Therapie nicht oder nur wenig verwenden, sich über den Umweg der Entfremdung mit den Möglichkeiten der digitalen Effektgeräte, der intimen und oft schambesetzten eigenen Stimme im therapeutischen Prozess zu nähern und sich mit ihr anzufreunden.


Der Vocalist und seine Möglichkeiten

  • Spaßfaktor
  • Annäherung an die eigene Stimme über den Umweg der Entfremdung
  • Förderung der Selbst- und Fremdwahrnehmung
  • Schaffung einer geschützten Position oder Metaposition
  • Motivation zur Verwendung der eigenen Stimme
  • Selbstvertrauen durch eigene „Stimmenpeergroup“
  • Ausdrucksmöglichkeit für unterdrückte Emotionen auf einer anderen Ebene
  • Umwandlung der Sprache oder eines gesungenen Tones in eine am MIDI- Keyboard improvisierte Melodie
  • Erweiterung der stimmlichen Improvisationsmöglichkeiten
  • Ausdruck von Empathie durch Imitieren, Spiegeln oder Übertreiben der Stimme des Patienten durch den Therapeuten unter Verwendung des Vocalisten
  • Der Vocalist und seine Grenzen
  • Gefahr der Manipulation durch den Therapeuten
  • Gefahr von Überforderung
  • Auslösen von Ängsten
  • Kontraindikation durch die Eigenschaft der „Stimm-Entfremdung“ bei Ich-strukturellen Störungen etc.


Bei meinen Recherchen bemerkte ich, dass noch ein enormer Bedarf an Forschung und Aufklärung von Musiktherapeuten über die Möglichkeiten und Grenzen auf diesem Gebiet notwendig ist. Da das Instrumentarium eines Musiktherapeuten nicht statisch, sondern immer auch ein für seine Arbeit wesentlicher Prozess ist (vgl. Timmermann, 2004, 47), wird die Zukunft zeigen, inwieweit sich Musiktherapeuten der Möglichkeiten von digitalen Medien bedienen und in ihre therapeutische Arbeit mit einbeziehen. Dabei kann an die je nach Klientel bestehenden Interessen und Anforderungen angeknüpft werden.
Den Begriff „Hybrid“, der von Joseph Nagler (USA) in diesem Zusammenhang verwendet wurde, finde ich sehr treffend. Ich denke, dass digitale Medien und traditionell akustische Instrumente als eine sich ergänzende „Hybridtechnologie“ für die Musiktherapie der Zukunft eine kaum zu überschätzende Bedeutung haben und den Weg der Musiktherapie und deren Bedeutung in der Zukunft mitbestimmen wird.

Der Autor:

Markus Sommerer
Musiktherapeut M.A. Universität Augsburg
Diplom-Musikpädagoge
Heilpraktiker für Psychotherapie, Musiktherapeut in der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universitätsklinik Erlangen

 

Quellenverzeichnis

  • Sommer, Markus (2010): „Das klingt wie die Stimme meines Papas!“ Musiktherapie mit ausgewählten digitalen Medien-Möglichkeiten und Grenzen. Masterarbeit. Universität Augsburg.
  • Timmermann, T. (2004): Tiefenpsychologisch orientierte Musiktherapie. Bausteine für eine Lehre. Reichert Verlag, Wiesbaden.
  • Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest; JIM-Studie – Jugend, Information, Multi- Media (2009): www.mpfs.de/fileadmin/JIM-pdf09/JIM-Studie2009.pdf