Editorial

„Singe, sodass ich Dich erkenne“


Die Hamburger Gesangsprofessorin Elisabeth Bengtson-Opitz lässt keine Gelegenheit aus, uns deutsche KollegInnen, die mit Stimme und Singen zu tun haben, freundlich zu mahnen, nicht noch mehr zu verarmen – und unser gestörtes Verhältnis zum Singen neu qualifizieren zu müssen –, wenn wir denn nicht auf eines der psychologisch wie medizinisch wirksamsten Mittel zur Gesunderhaltung (Salutogenese, Prävention) bzw. in der Therapie und der seelischen Rehabilitation verzichten wollen: das Singen.

Sie, die Schwedin Bengtsson-Opitz, und viele andere verweisen auf den elementaren Bezug zum Singen, den z.B. unser Nachbar Schweden (oder auch die Schweiz) pflegt: Kein Geburtstag, an dem nicht gesungen wird – weit über das bei uns im tiefen Grummelkeller versackende verwahrloste „Happy Birthday“ hinaus. Kein Firmenjubiläum, keine Behördenfeier, kein Vereinstreffen, an dem nicht spontan gesungen wird. Nur wir Deutsche mit unserem gestörten Verhältnis aufgrund der destruktiv manipulativen Handhabung des Singens im Nationalsozialismus – lassen singen: von anderen im TV und auf Tonträgern.
Noch Anfang der 70er erschienen ganze Schulmusikwerke, die sich allem Möglichen und Unmöglichen der Musikbildung und -industrie annahmen und Musik im Dritten Reich analysierten aber kein Singen anregten. In der damaligen PH Lüneburg wurde für das Lehramt Musik weitgehend ohne Singen ausgebildet.
Die bei uns historisch begründete Angst vor dem Singen beweist nur seine Mächtigkeit der Wirkung.
Sichten wir Musiktherapie-Literatur und den umgebenden KollegInnen-Kreis – da ist zumindest bis auf rühmliche Ausnahmen deutlich, dass angesichts der psychologisch wie neurowissenschaftlich wie statistisch bestens begründeten Bedeutung des Singens in der Therapie vergleichsweise wenig los ist.
Dabei reicht es nicht einmal, wenn Singen in der Musikpädagogik als „von Kindesbeinen an…“ wichtig beschrieben und gefordert wird. Entwicklungspsychologisch prägt uns die Stimme der Mutter bereits intrauterin, wir lernen noch als Fetus durch die Sprech- und besonders die Sing-Stimme der Mutter erste Erfahrungen von „Anwesenheit und Abwesenheit“ (die Psychoanalytikerin Suzanne Maiello) auf der Protowahrnehmungsebene kennen, als Vorerfahrungsfeld für spätere Trennungen und Wiedersehen. Als Kinder singen wir mehr oder weniger unterstützt, um dann zunehmend die Unbefangenheit unseres wichtigsten Ich-Ausdrucks durch Befangenheit auszutauschen.
Bewegungen innerhalb der Community Music Therapy wie z.B. die „Singenden Krankenhäuser“ (s. letzte MuG-Ausgabe) außerhalb des musiktherapeutischen Settings oder das „Heilsame Singen“ innerhalb der Musiktherapie(n) – in dieser MuG beschrieben von Karl Adamek und Christiane Feinen-Thibold – und die langjährige ebenso fleißige wie forscherisch lehrreiche Arbeit von Sabine Rittner sind hoffnungsvolle Komponenten im Gesamterscheinungsbild Musiktherapie.
Die März-Tagung des Freien Musikzentrums München (FMZ) ist ein weiterer Neu- und Wiederanfang der Bewusstseinsschärfung für das appellreichste Instrument überhaupt, dasjenige in uns, dasjenige im Gegenüber. „Singe, sodass ich Dich erkenne“, dieser Titel des didaktisch so wichtigen Beitrags von Imke McMurtrie (S. 15) zum Thema „Stimmbildung in der musiktherapeutischen Ausbildung“ oder der Titel „Ich singe, also bin ich“ (Christiane Feinen-Thibold S. 20) spiegeln die Bedeutung des Singens für das Mensch-Sein nicht nur literarisiert.
Die spannende psychoanalytische Sicht eines Musiktherapeuten auf das Singen mit Migranten ermöglicht Angelo Toro („Sing mir ein Lied aus der Heimat“ S. 28) – ein Beitrag, der uns MuG-Herausgeber für das geplante Schwerpunkthema im übernächsten Heft nur verstärkt.
Nicht nur ein Herzensanliegen war uns und mir, das Lebenswerk unseres holländischen Kollegen Prof. Henk Smeijsters zu würdigen (S. 42), der über sein Land hinaus sowohl unsere deutsche Musiktherapie mit prägte als auch durch und seit dem Weltkongress 1996 in Hamburg internationale Akzente setzte.
Wenn Ihnen gerade nicht nach Noten zumute ist – dann suchen Sie sich einen kleinen, aber feinen Rückzugsort, schließen die Augen und transportieren auf dem Ausatmen Ihnen bequeme Summtöne und hören sich einmal zu, wie Sie tönen – also sind!
Vielleicht öffnet sich der Lippenspalt und das Summen wird zum ersten Singen nach langer Zeit…

 

Ihr
Hans-Helmut Decker-Voigt

(für den Herausgeberkreis)