Musiktherapeutischer Klinikspaziergang

Klinik St. Marienstift, Magdeburg

Von Claudia Weschke

Die Klinik St. Marienstift ist ein Krankenhaus der Basisversorgung nach dem Krankenhausplan des Landes Sachsen-Anhalt im Magdeburger Stadtteil Stadtfeld-West in der Trägerschaft der Katholischen Wohltätigkeitsanstalt zur heiligen Elisabeth mit Sitz in Reinbek bei Hamburg. Die Klinik gehört zu den traditionsreichsten Magdeburger Einrichtungen und feierte 2006 ihr 100-jähriges Bestehen.
Nach Einweihung am 18. Oktober 1906 war das Haus zunächst eine Einrichtung zur Betreuung nicht schulpflichtiger Kinder arbeitender Eltern, von Waisenkindern und älteren Menschen. Außerdem diente es als Haushaltsschule für Mädchen und Heimstatt für die Schwestern von der Heiligen Elisabeth.

1909 wurde eine erste Krankenstation mit 31 Betten eingerichtet und von Ärzten verschiedener Fachrichtungen betreut (Innere Medizin, Chirurgie, Gynäkologie, Augenheilkunde). Während des Ersten und Zweiten Weltkrieges wurde das komplette Haus als Lazarett für 170 Verwundete genutzt. Die Zerstörung der Stadt am 16. Januar 1944 überstand die Klinik nahezu unversehrt.
Die Zeit der DDR war geprägt von der allgemeinen Mangelwirtschaft, die für das Marienstift durch die Unterstützung durch die Caritas gemildert wurde. Obwohl von staatlicher Seite offiziell Einrichtungen der Kirchen abgelehnt wurden, war das Haus als Krankenhaus, welches zu dieser Zeit lediglich über die Fachgebiete Chirurgie und Innere Medizin verfügte, auch bei Funktionären der SED beliebt, wenn es um die eigene Behandlung ging.
Das ursprüngliche Gebäude steht unter Denkmalschutz, wurde in den letzten Jahren aufwändig saniert und 1999 und 2005 durch einen Anbau erweitert.
Heute verfügt die Klinik über 121 stationäre Betten in den Fachgebieten Gynäkologie und Geburtshilfe, Chirurgie und Kinderchirurgie, Urologie, Gastroenterologie, Kinder- und Jugendmedizin, Anästhesiologie, Schmerztherapie, Orthopädie, Augenheilkunde, Gefäßchirurgie, Neurochirurgie und Handchirurgie. Das Haus betreibt ein Brustzentrum, welches nach den Kriterien der Deutschen Krebsgesellschaft und der Deutschen Gesellschaft für Senologie, sowie der EUSOMA zertifiziert ist. Jährlich werden etwa 14000 Patienten betreut. Über 750 Kinder kommen jährlich im Haus zur Welt. Die Klinik St. Marienstift verfügt auch über eine Babyklappe. In der Kapelle des Hauses finden neben regelmäßigen Gottesdiensten auch Orgelkonzerte statt.
Die Klinik möchte schwerkranken Patienten als Ergänzung zu den im Allgemeinen Krankenhaus üblichen medizinischen Behandlungen eine zusätzliche emotionale Unterstützung und Begleitung anbieten. Im Jahr 2003 wurde die Musiktherapie im Bereich der gynäkologischen Onkologie für das in dieser Zeit entstehende Brustzentrum aufgebaut und konnte sich nach und nach auch in anderen Bereichen etablieren. Nun richtet sich das musiktherapeutische Angebot an stationäre und ambulante Patienten mit einer Karzinomerkrankung in der Gynäkologie, Chirurgie und Urologie und an Patienten mit chronischen Schmerzen in der Schmerztherapie.
In Einzel- oder Gruppensettings bieten zwei Musiktherapeutinnen die Möglichkeit, Musik zu hören (Klangreisen mit verschiedenen Instrumenten oder Musik vom Tonträger), Musik gemeinsam zu gestalten (Klangerfahrungen mit Instrumenten, freies oder themengeleitetes Improvisieren einzeln oder in der Dyade/Gruppe und Singen von Liedern) und natürlich auch Raum für reflektierende Gespräche (aktuelle Lebensthemen, Austausch über die Musik). Als Raum steht der Musiktherapie ein relativ kleines, hellgrün gestrichenes Zimmer mit Blick auf einen großen Baum zur Verfügung. Es ist mit zwei Korbstühlen, einem kleinen Glasbeistelltisch und einem naturfarbenen Wollteppich eingerichtet und macht so eher den Eindruck eines Wintergartens als den eines Krankenhausraumes.
Es gibt verschiedene Saiteninstrumente (Körpertambura, Monochord, Bordunstab, Gitarre, Leier und Kantele), unterschiedliche Percussionsinstrumente (Djembé, Rahmentrommel, Schlitztrommel, Ballaphon, Steeldrum, Gong und Klangschale), ein Akkordeon und andere kleine Instrumente wie Sansula, Rasseln und Glöckchen.
Als Teil der multimodalen Schmerztherapie soll die Musiktherapie Patienten an Entspannungstechniken mit Musik heranführen, was die Schmerzstärke verringern kann. Auf diese Art können Eigeninitiative und Selbstfürsorge der Patienten gefördert werden. Mithilfe verschiedener Techniken der aktiven und rezeptiven Musiktherapie können durch das Verlagern des Aufmerksamkeitsfokus (der bis dahin hauptsächlich auf den Schmerz und damit einhergehende – mehr oder weniger erfolgreiche – Verarbeitungs- und Vermeidungsstrategien gerichtet war) auf kreatives Handeln und Erleben Schmerzerleben und Schmerzbewältigung verbessert und Komorbiditäten, wie z.B. Ängste und Depressionen, verringert werden. Die Patienten der Schmerztherapie erhalten während ihres Klinik­aufenthaltes von 10 Tagen durchschnittlich 4–5 Einzelmusiktherapiesitzungen. An zwei Samstagen im Monat findet vormittags eine Gruppenmusiktherapie mit allen Schmerztherapiepatienten statt.
Im Bereich der Onkologie kann das musiktherapeutische Angebot den Patienten helfen, die individuellen Krisensituationen zu meistern und einen entlastenden Raum zu eröffnen, in dem Erwartungen, Hoffnungen und Ängste Platz haben. Nach der Operation erhalten die Patienten nach Bedarf 2–3 Therapien pro Woche. Die Kontakte finden meist am Patientenbett oder im Musiktherapieraum statt. Ambulante Patienten, die in unterschiedlich großen Abständen einen Tag lang zur Chemotherapie in die Klinik kommen, erhalten ebenfalls bei Bedarf Musiktherapie. Für die Kontakte am Patientenbett eignet sich besonders die Körpertambura. Durch selbstständiges Agieren im Rahmen der Musiktherapie wird den Patienten die Möglichkeit gegeben, aus einer „Passivrolle“ in eine aktive Rolle zu gelangen, sich zu stabilisieren, Ressourcen und Selbstwertgefühl zu stärken.
Da das musiktherapeutische Angebot im onkologischen Bereich optional ist, kommt es hin und wieder vor, dass Patienten es ablehnen. Musik findet schnell direkten Zugang zu Gefühlen, kann stark berühren, Blockaden lösen und zu Tränen rühren. Wenn Patienten sich zu diesem Zeitpunkt ihrer Erkrankung einfach nicht in der Lage fühlen, sich an die manchmal überwältigenden Gefühle von Trauer, Angst, Wut und Hilflosigkeit heranzuwagen, respektieren wir dies. Es erfordert viel Fingerspitzengefühl, herauszufinden, wann es gut ist, Patienten mit Gefühlen zu konfrontieren und wann es zu viel wäre. Vor allem bedeutet das Angebot der Musiktherapie die Möglichkeit, sich selbst zu begegnen, sich zuzuhören, sich angenommen und aufgefangen zu fühlen, egal, wie man ist – mit oder ohne Musik.


Fallbeispiel
Frau S. und Frau B., zwei Frauen um die Sechzig, die beide eine Brustamputation (Ablatio) hinter sich haben, wollen eigentlich nicht zur Musiktherapie kommen. Sie fühlen sich nicht in der Stimmung, Musik zu hören. Sie sind „gut drauf“, lachen viel, reden viel und schnell, unternehmen viel. Sie befürchten, dass die Musik sie irgendwie runterziehen könnte, dass sie in der Öffentlichkeit weinen müssten oder dass sie sich Musik anhören müssen, die ihnen gar nicht gefällt. Sie suchen eher Power und Action. Ich habe aber besonders bei Frau S. das Gefühl, dass mit ihrem Verhalten eine Fassade aufgebaut wird, dass sie viel Energie darauf verwendet, Kontrolle und Haltung zu bewahren und Stärke zu zeigen. Energie, die sie gut für die Genesung und den langen Behandlungsweg, der noch vor ihr liegt, brauchen könnte.
Die Neugier der beiden Frauen siegt jedoch und zu zweit kommen sie mit in den Musiktherapieraum. Frau S. beginnt gleich zu erzählen, welche negative Erfahrungen sie mit anderen Entspannungsverfahren bei vergangenen Kuren gemacht habe. Ich beruhige sie und sage, dass sie jederzeit den Raum verlassen könne, wenn ihr danach sei. Frau B. würde eigentlich sehr gern Entspannungsmusik hören, jetzt, wo sie die verschiedenen Instrumente sieht. Allein wollen aber beide nicht zur Musiktherapie kommen.
Frau S. erzählt auch munter drauf los, dass es ein Glück sei, dass sie in einem Zimmer liegen und wie gut sie und Frau B. zusammenpassen würden, da Frau B. doch die Ruhigere sei und sie sich so schön ergänzen könnten. Frau B. wirkt überrascht. Auf mein Nachfragen, ob da etwas sei, was sie anders sähe, schaltet sie sich ins Gespräch ein. Eigentlich sei sie auch eher unruhig und zappelig seit einer Schilddrüsen-OP, müsse ständig irgendwas tun und komme nie zur Ruhe. Das belaste sie sehr. Dass sie nun als die Ruhigere gelte, verwundere sie. Frau S. besteht aber auf ihrer Meinung und lenkt nicht ein. Diese Differenz in der gegenseitigen Einschätzung nehme ich zum Anlass, die Musik ins Spiel zu bringen. Ich schlage vor, ihre jeweilige „Hippeligkeit“ zum Klingen zu bringen. Überrascht, vielleicht auch ein wenig erschrocken schauen mich die beiden an: Wie – wir sollen selbst was machen? Aber wir sind doch gar nicht musikalisch! Ich drücke Frau B. auf gut Glück eine kleine Harfe in die Hand mit der Aufforderung, einfach mal auszuprobieren, welche Klänge und Geräusche sie dem Instrument entlocken kann. Und dann etwas zu finden – einen Klang, ein Geräusch –, das ihrer jetzigen Befindlichkeit entspricht.
Unsicher zupft sie an den Saiten, schnell und hektisch. Dann, nach kurzer Zeit, wird ihr Spiel melodiöser. Es klinge „wie nacheinander aufgefädelte Perlen“ meint Frau S. Ich nehme den Bordunstab zur Hand und begleite Frau B., gebe ihrer Melodie Grundton und Halt und Rahmen gebenden Rhythmus. Sie lächelt und meint, dass sie sich an China erinnert fühlt. Wir spielen eine Weile, Frau S. hört interessiert zu. Schließlich gebe ich ihr den Bordunstab, den sie auch gleich annimmt und zu spielen beginnt. Sehr zart, leise und vorsichtig. Da ist nichts zu hören von „Hippeligkeit“, Unruhe, Power und Action. Die beiden Frauen spielen eine Weile zusammen. Es ist eine ruhige, besinnliche, trotzdem muntere Musik.
Als ich Frau S. sage, dass sie für mich gerade eben nicht hektisch und schnell, unruhig und zappelig klang, überlegt sie einen Moment und sagt dann: Das stimmt. Ich bin eigentlich nicht so. Eigentlich bin ich manchmal unsicher und habe Angst, und das überspiele ich mit diesem hektischen, lauten Getue.
Ich frage, ob sie noch einmal spielen wollen und ob ich sie begleiten darf mit der Tambura, einem indischen Saiteninstrument. Sie tauschen ihre Instrumente. Eine kurze Zeit spielen wir zu dritt, dann legt Frau B. den Bordunstab beiseite und hört dem gemeinsamen Spiel von Harfe und Tambura zu. So kommt sie doch noch zu ihrer Entspannungsmusik, denke ich. Frau S. spielt versunken auf der Harfe, lässt sich von den Klängen der Tambura tragen. Sie wird von der Musik nicht heruntergezogen, bricht nicht in Tränen aus (was sie befürchtete), und kann trotzdem ein wenig von ihrem Schutzschild der „guten Laune“ und Redseligkeit loslassen, sich selbst und anderen zeigen, wie es ihr gerade wirklich geht. Indem sie selbst aktiv ist, läuft sie nicht Gefahr, die Kontrolle über sich und die Situation zu verlieren, kann sich aber trotzdem einlassen, sich Fremdem, vorher Abgelehntem öffnen, Angst und Unsicherheit benennen und zulassen.

 

Musiktherapeutinnen
Marit Bürger, geb. 1978, Dipl.-Musiktherapeutin (FH). Seit 2005 in der Klinik St. Marienstift tätig.
Claudia Weschke, geb. 1979, Dipl-Musiktherapeutin (FH), derz. Weiterbildung Psychoonkologie (WPO). Seit 2007 in der Klinik St. Marienstift in Magdeburg und seit 2009 an der Uniklinik Magdeburg im Bereich Pädiatrische Hämatologie und Onkologie tätig.

Verwendete Quellen
http://www.st-marienstift.de
http://de.wikipedia.org/wiki/Klinik_St._Marienstift_Magdeburg