Schwerpunktthema

Singen als Aktivierung der Selbstheilungskräfte am Beispiel der Methode des Meridiansingens

Von Karl Adamek

 

Seit frühester Kindheit inmitten der allgegenwärtigen emotionalen Verwundungen der Nachkriegsmenschen erlebte ich in meiner Familie täglich die heilsame Wirkung des gemeinsamen Singens. Diese eindrücklichen Erfahrungen weckten meinen Pioniergeist und verdichteten sich immer mehr zu meiner Lebensaufgabe bis hin zu einer kreativen Auseinandersetzung mit der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM), aus der ich über viele Jahre das Meridiansingen entwickelte: eine besondere Form des ‚Heilsamen Singens‘ zum Zwecke der Aktivierung der Selbstheilungskräfte.

Die Möglichkeiten des Singens sind bekanntermaßen in der musiktherapeutischen Forschung und Praxis besonders hierzulande bis heute wenig beachtet (vgl. Rittner 2009). Vor allem im Vergleich zu dem Potenzial, das heute aufgrund von fünfunddreißig Jahren der eigenen forschenden und praktischen Tätigkeit in diesem Feld zu erkennen ist. Ende der 1980er Jahre fand ich auf breiter Basis erstmals empirisch heraus, dass Menschen, die singen, sowohl psychisch als auch physisch und sozial signifikant gesünder sind als Menschen, die nicht singen und dass Singen im Sinne der Copingforschung eine wirkungsvolle Bewältigungsstrategie ist (vgl. Adamek 1990 u. 1996).
Daraufhin verschmolz ich meine musikalischen Ausbildungen, meine Hochschulausbildungen und meine Zen-Künste sowie das Obertonsingen und kreierte einen „Weg des Heilsamen Singens“ als Ergänzung besonders der psychotherapeutischen Arbeit, den grundsätzlich jeder gehen kann, der gerne singt (vgl. Adamek 1989). Da das Thema Singen zu dieser Zeit absolut jenseits des Mainstreams lag, erfand ich meinen Beruf neu und entschied mich für einen freiberuflichen Weg.
Die Neurobiologie bestätigte später meine sozialwissenschaftlichen Erkenntnisse und zeigte, welche Hirnprozesse durch Singen entstehen. Nachweislich wirkt Singen umfänglicher und nachhaltiger als jedes pharmazeutische Antidepressivum. Denn es hat keine Nebenwirkungen und kurbelt zugleich im Gehirn die Produktion der Glückshormone an. Es verstärkt darüber hinaus die Produktion von Oxytocin, das für die Fähigkeit zu Mitgefühl zuständig ist. Mitgefühl kann als ein wesentlicher Kern psychischer Gesundheit betrachtet werden, denn es macht uns gemeinschaftsfähig und stärkt die Selbstliebe. Der Neurobiologe Gerald Hüther: „Singen fördert in jeder Lebensphase die Potenzialentfaltung des Gehirns.“ (Hüther 2007, vgl. Blank/Adamek 2010) Der Neurowissenschaftler und Nobelpreisträger Eric Kandel belegte, dass Gesundheit letztlich von der Funktionsfähigkeit des Gehirns abhängt. Angst behindert die gesunde Funktion des Gehirns und bringt als dauerhafte Grundbefindlichkeit Krankheit hervor. Singen hingegen löst in seiner Eigenart Angst auf und fördert Empathie und Vertrauen, weshalb wohl der Mensch in dieser einzigartigen Weise mit dieser Fähigkeit ausgestattet ist. Arbeit gegen den Verfall der Alltagskultur des Singens ist Prävention.
Sollte die Musiktherapie Patienten einen Zugang zur Lebensressource Singen als Hilfe zur Selbsthilfe eröffnen, fragte ich 1990? (vgl. Adamek 1990). Durch MeridianSingen fördert man systematisch die Fähigkeit, die eigenen Gefühle zu erkennen, anzuerkennen und zu wandeln. Meridiansingen kann besonders gut in der Gruppenarbeit als gelingende Beziehung und Gemeinschaftlichkeit wirken und ist ein potentes Werkzeug zur eigenverantwortlichen Arbeit. Es fördert eine Orientierung auf Lebensfreude, eine optimistische Lebenshaltung. Singend können sich Praktizierende in eine positive Befindlichkeit schwingen. Unsere Gefühle färben unseren Blick auf die Welt – positiv wie negativ. So wie wir uns fühlen, so erscheint uns die Welt. In der TCM ist Leben ein Fließgleichgewicht von Energieströmen. Es entsteht dabei immer wieder ein Zuviel oder ein Zuwenig, das zur Mitte hin ausgeglichen werden will. In der Mitte hat das Leben sein Optimum. Wer durch Singen seine Gefühle gestalten kann, hat dadurch die Möglichkeit sich immer wieder neu zur Mitte hin auszugleichen.
Es werden in der hochkomplexen TCM zwölf Meridiane oder Energiebahnen unterschieden. Sie stehen in Verbindung mit den verschiedenen Organen und psychischen Themen. In der TCM gab es früher keine vergleichbare Arbeit mit Musik, mit der die Meridiane gezielt beeinflusst werden konnten. Aber wir fanden Ansätze in diese Richtung. Jedoch die Kargheit der sogenannten „Sechs heilenden Lauten“, die den Meridianen zugeordnet sind, gaben uns einen wichtigen Anstoß (vgl. Höting 1988). Es entstand der Wunsch nach Musik. Wir wollten in vergleichbarer Zuordnung zu den Meridianen wirkungsvolle Mantren schaffen, bei denen man aufgrund ihrer Schönheit Freude empfindet, wodurch ein natürliches Verlangen entsteht, sie zu praktizieren. Bei dieser Zielstellung gingen wir von der Erfahrung aus, dass Schönheit und Sinnenfreude die besten Voraussetzungen schafft, dass Gesundheitspraktiken auch tatsächlich einen selbstverständlichen Platz im Alltag der Menschen finden. Das MeridianSingen ist Kernstück unserer ‚Sintala-Methode des Heilsamen Singens‘ (Sintala = Singen-Tanzen-Lauschen).
Die Bewegung beim Singen erfuhren wir als wichtiges heilsames Prinzip. Durch Bewegung werden bekanntlich Erkenntnisse besser im Gehirn verankert. Deshalb kreierte Heike Kersting auf den Grundlagen des Qigong zu jedem der zwölf Meridianmantren ergänzend je ein Bewegungsmantra, das Sintala-Qigong. Heike Kersting studierte Ende der 1980er Jahre für mehrere Jahre in China TCM, praktizierte dort in verschiedenen Krankenhäusern und erhielt von einem der führenden Qigongmeister Gu Fangi in der Tradition von Meister Yue Huanzhi eine Authorisierung in Tai Chi und Qigong. Seit über 20 Jahren führt sie in Hattingen im Ruhrgebiet eine große Praxis für TCM.
Eine grundlegende, im Qigong vermittelte Weisheit der alten Chinesen lautet: Die Vorstellungskraft bewegt die Lebenskräfte. Die Worte eines jeden Meridian-Mantras regen durch heilsame Sinnbilder die Vorstellungskraft an. Jedes Bild lädt ein, die eigenen biographischen Themen singend auszudrücken und den wandelnden Prozessen anzuvertrauen. Die Wiederholungsstruktur des mantrischen Singens fördert die neuronale Verankerung der lebensförderlichen Bilder und ‚überschreibt‘ lebenshinderliche Glaubenshaltungen.
Ein ausgeglichener Energielevel im Herzmeridian fördert zum Beispiel u. a. die Empathiefähigkeit, die intuitiven Kräfte, die Glücksfähigkeit, den Wahrhaftigkeitssinn, den Selbstrespekt und das Gewissen. Ein gestauter Energielevel kann einhergehen mit überschwemmender Freude, Ungeduld, Hektik, Verwirrung, Arroganz bis hin zu Hass und Grausamkeit. Ein erschöpfter Energielevel zeigt sich häufig in emotionaler Kälte und einem Verschlossensein, in Misstrauen und Egoismus. Das Singen eines Meridian-Mantras führt nachweislich zur Tonisierung des jeweiligen Meridians. Das Mantra für den Herzmeridian lautet:

Ja, ich fühle Sinn
Geb´ das Klagen hin
Und was vorher schwer
wandelt sich ins Mehr
Liebe soll allein
Ziel und Weg mir sein
Wunden werden dann
Wunder – irgendwann

Viele tausend Menschen konnten bisher vom Meridiansingen, das ich gemeinsam mit der Musiktherapeutin Carina Eckes in Kursen weitergebe, für ihren Lebensalltag profitieren. Es entstanden Bücher, CDs und Videos. Zahlreiche Angehörige helfender und heilender Berufe, die seither an unseren Ausbildungen teilnahmen, nutzen die von uns entwickelten Formen und Materialien (vgl. Schultz 2009). Wieviele ungeschöpfte menschliche Ressourcen im Singen liegen, ahnt der weltberühmte Geiger Sir Yehudi Menuhin (1916–1999), unter dessen Schirmherrschaft ich 1998 das Internationale Netzwerk zur Alltagskultur des Singens Il canto del mondo e.V. ins Leben rief:

„Wenn einer aus seiner Seele singt,
heilt er zugleich seine innere Welt. Wenn alle
aus ihrer Seele singen und eins sind in der Musik,
heilen sie zugleich auch
die äußere Welt.“
(Menuhin 1999)

 

Der Autor:

Karl Adamek
www.karladamek.de
www.il-canto-del-mondo.de
www.cantoverlag.de

 

Literatur

  • Adamek, Karl (2008): Die Stimme – Quelle der Selbstheilung. Hattingen.
  • Adamek, Karl (1990): Elemente der Selbstorganisation des Singens. In: Musik-Tanz- und Kunsttherapie 3, 125–132.
  • Adamek, Karl (2007): Meridiansingen als Konzept zur Stärkung der Selbstheilungskräfte im kreativen Spannungsfeld von Wissenschaft und Kunst. In: Bossinger, Wolfgang/Eckle, Raimund (Hrsg.): Schwingung und Gesundheit. Neue Impulse für eine Heilungskultur aus Wissenschaft, Musik und Kunst. Battweiler, 177–191.
  • Adamek, Karl (2009): Singen als Lebenselixier oder wie aus Wunden Wunder werden. Siehe Alfred Schultz, 267–283.
  • Adamek, Karl (2009): Wie Sie das Heilsame Singen praktizieren können. Siehe Alfred Schultz, 267–283.
  • Blank, Thomas/Adamek, Karl (2010): Singen in der Kindheit. Eine empirische Studie zur Gesundheit und Schulfähigkeit von Kindergartenkindern und das Canto elementar-Konzept zum Praxistransfer. Hattingen.
  • Bossinger, Wolfgang (2006): Die heilende Kraft des Singens. Battweiler.
  • Galuska, Joachim (2006): im Booklet der CD MeridianMantren – Lauschendes, Heilsames Singen von Karl Adamek und Carina Eckes, Hattingen.
  • Höting, Hans (1988): Die sechs heilenden Laute. Freiburg.
  • Hüther, Gerald (2007): Singen ist „Kraftfutter“ für Kindergehirne. Die Bedeutung des Singens für die Hirnentwicklung. Expertise von Prof. Dr. Gerald Hüther als Beirat von Il canto del mondo e.V. www.il-canto-del-mondo.de
  • Menuhin, Yehudi (1999): Zur Bedeutung des Singens. www.il-canto-del-mondo.de.
  • Schultz, Alfred (2009): Singe JA, lebe JA. Heilsames Singen als therapeutische Ressource. Mit den sieben JA-Mantren auf Audio CD von Karl Adamek und Carina Eckes. Hattingen.
  • Rittner, Sabine (2009): Stimmforschung. In: Decker-Voigt, Hans-Helmut/Weymann, Eckhard (Hrsg.): Lexikon der Musiktherapie. 2. überarbeitete und erweiterte Auflage. Göttingen.


CD

  • Karl Adamek & Carina Eckes (1996): Meridian Mantren. Lauschendes, Heilsames Singen. Hattingen.