Musiktherapie im Ausland

Musiktherapie in Polen. Ein Bericht

Von Hanna Skrzypek

 

Geschichte der Musiktherapie in Polen

Die Anfänge der polnischen Musiktherapie gehen auf die späten 1960er und frühen 1970er Jahre und die Stadt Wrocław (ehemals Breslau) zurück. Die Geschichte der Breslauer Musiktherapie-Schule (Wrocławska Szkoła Muzykoterapii) beginnt mit der Idee, Musiktherapie als eine nonverbale Therapieform anzuwenden. Sie entstand aus dem Bedürfnis heraus, neben der Psychotherapie als einer verbalen, intellektuellen Behandlungsmethode, eine Therapieform zu finden, die den Patienten auf der emotionalen Ebene erreichen kann.
Inspiriert durch einen – in der Zeitschrift „Ruch Muzyczny“ („Die musische Bewegung“) im Jahr 1968 erschienenen Artikel über Musik in der Therapie schizophrener Patienten des polnischen Psychiaters Dr. med. Andrzej Janicki (*1927), wandte der Komponist und Musikwissenschaftler Prof. Dr. Tadeusz Natanson (1927–1990), sein wissenschaftliches Interesse der Musiktherapie zu.
Natanson und Janicki gelten als die Pioniere der Breslauer Musiktherapie Schule.

Eine andere, parallel zu der Breslauer Musiktherapie Schule entstandene musiktherapeutische Strömung repräsentiert Dr. Elżbieta Galińska aus Warszawa. Aus ihrer praktischen klinischen Arbeit entwickelte sie kontinuierlich – als einzige Psychotherapeutin in Polen, die musikalisch ausgebildet war (Klavier und Musikwissenschaft) – einen eigenen tiefenpsychologisch, psychoanalytisch und körpertherapeutisch orientierten Musiktherapie-Ansatz.
Beginn der Musiktherapie in Polen war die Einrichtung des Studienganges an der Akademie für Musik in Wrocław/Breslau.
Eingegliedert in die Fakultät für Komposition und Musiktheorie der Hochschule für Musik in Wrocław entstand im Jahr 1972 die erste Ausbildungsstätte für Musiktherapie in Polen. Aus der damaligen Abteilung für Musiktherapie entwickelte sich sukzessive das heutige Institut für Musiktherapie.
Seit dem Studienjahr 1973/74 konnte man an der Akademie für Musik (damals Staatliche Hochschule für Musik) in Wrocław Musiktherapie studieren. Die Breslauer Musikakademie war damals die erste und einzige Lehrstätte für Musiktherapie in Polen, die die Musiktherapie zu einer akademischen Disziplin erhoben hatte.
Der politische Machtwechsel in Polen zog die mehrmaligen Umstrukturierungen und Umkonzipierungen des Studienganges nach sich.
Seit dem Jahr 1980 arbeitete das musiktherapeutische Institut in vier Schwerpunkten: musiktherapeutische Forschung in Verbindung mit elektroakustischen, psychophysiologischen, audiomedialen und musikpsychologischen Untersuchungen – theoretische und praktische Entwicklung der Musiktherapie mit Fokus auf der Verbindung von psychischen Erkrankungen und musikalischer Perzeption, in pathologischen, präventiven und edukativen Bereichen – Wirkungsforschung von Tönen auf der physiopathologischen Ebene – Berufsausbildung und Fortbildung.
Zu dem Institut gehörten auch ein Informationszentrum und eine gut ausgestattete Bibliothek – was damals eine Besonderheit darstellte.
Die wissenschaftliche Leitung teilten sich Natanson, Janicki und Dr. Hora.
Ab 1984 leitete Andrzej Janicki das Institut, ab 1997 übernahm Prof. Dr. hab. med. Sławomir Sidorowicz diese Aufgabe.
Von 1980 bis 1996 wurde ein 5–jähriger Vollzeit–Studiengang mit dem akademischen Abschluss Magister Artium in Musiktherapie durchgeführt. Zurzeit wird an der Anpassung dieses Musiktherapie–Studienganges an die europäische (Bologna) Standardisierung gearbeitet (3- jährigen BA und 2–jährigen MA).
Gegenwärtig bestehen weitere Musiktherapie-Ausbildungen am Collegium Medicum in Bydgoszcz, an der Akademie für Musik in Łódź, an der Universität in Lublin und an der Akademie für Musik in Kraków.


Symposien und Workshops

Die wissenschaftliche Bedeutung der Musiktherapie wird durch regelmäßig stattfindende Tagungen, Konferenzen und Symposien unterstrichen. Seit 1980 gastieren internationale Musiktherapeuten in Polen – zu Beginn die Professoren Alfred Schmölz/ Wien und Dr. Christoph Schwabe/ Leipzig.
Seit 2008 in Zusammenhang mit den aktuellen berufspolitischen Aktivitäten (Berufsgesetz), werden immer mehr Musiktherapeutinnen und Musiktherapeuten aus dem Ausland nach Polen eingeladen, wie Dr. Monika Nöcker-Ribaupierre und Ilse Wolfram/ Deutschland, Clive Robbins und Dr. Simon Procter/ England, Dr. Stefano Navone/ Italien, Dr. Aleksander Kopytnin/ Russland und Hanna Skrzypek/ Deutschland/Österreich.


SMP – Polnische Gesellschaft für Musiktherapie

Am 08.03.1996 wurde beim Wojewodtschaftsgericht in Wrocław die Polnische Gesellschaft für Musiktherapie (SMP – Stowarzyszenie Muzykoterapeutów Polskich) registriert. Eingegliedert sind Ausschüsse für die Wissenschaftliche Forschung und für die Ausbildung der Musiktherapeuten sowie die Redaktion der Fachzeitschrift Muzykoterapia Polska (Polnische Musiktherapie).
Der Sitz der SMP ist die Akademie für Musik in Wrocław, unter dem Vorsitz von Dr. Paweł Cylulko. Die SMP ist Mitglied in der World Federation for Music Therapy WFMT und in der European Music Therapy Confederation EMTC.
Nach der Amtszeit von Prof. Dr. Wita Szulc wird Polen in der EMTC nun von Mag. Agnieszka Szymajda vertreten.

Methoden und Techniken

In den späten 70ern spezifizierte Natanson zwei musiktherapeutische Techniken, und zwar die Technik der rezeptiven (als Psychotherapie) und der aktiven (als schöpferische Tätigkeit) Musiktherapie. Wichtig zu betonen ist, dass in den rezeptiven Formen nur klassische Musikwerke verwendet werden – Musik anderer Kulturkreise wäre, so Natanson, wegen ihrer Fremdartigkeit und anderer kultureller Prägung auf den polnischen Musikgeschmack und die polnische Kultur nicht übertragbar.
Andere in Polen angewendete Methoden sind:

  • „Das musikalische Porträt” von Elżbieta Galińska aus Warszawa, welches ihre o. g. tiefenpsychologische Musiktherapie mit dem Psychodrama Morenos verbindet,
  • „Die mobile musikalische Rekreation” von Maciej Kierył aus Warszawa
  • Die „Tyflomusiktherapie“ (typhlós gr. – blind), die Dr. Paweł Cylulko aus Wrocław nach 10-jähriger musiktherapeutischer Arbeit mit blinden, sehbehinderten und -gestörten Kindern auf den Grundlagen der entwicklungsorientierten Musiktherapie u. a. nach Orff entwickelte.

In Polen gibt es viele kreative autodidaktische Musiktherapeuten, die mit viel Energie die Entwicklung eigener Methoden der Musiktherapie vorantreiben.


Anwendungsgebiete der Musiktherapie

In Polen wird Musiktherapie in der Psychiatrie, Psychosomatik, Chirurgie, Kardiologie, Gynäkologie und Geburtshilfe, Onkologie, Stomatologie, Geriatrie und Rehabilitation eingesetzt, sowie in erzieherischen Zentren und Rehabilitationszentren: bei Kindern, autistischen Kindern, geistig Behinderten, Blinden und Sehgestörten, neurotischen Patienten und bei Langzeit–Patienten, in Betrieben, Kinderheimen, Hospizen, Wohngruppen, Sanatorien, Kuranstalten, Kliniken, Krankenhäusern, Resozialisierungs- und Strafanstalten und Schulen angeboten. Musiktherapie in Einzel- und Gruppenverfahren wird ebenso in der Prophylaxe und Rehabilitation und in Heilverfahren sowie bei psychischen, psychosomatischen und somatopsychischen Erkrankungen angewandt. Insgesamt arbeiten etwa 700 Musiktherapeuten klinisch, ambulant und in Einrichtungen.


Der heutige Stellenwert der Musiktherapie

Einen wichtigen Meilenstein in der Geschichte der polnischen Musiktherapie stellt die Etablierung des Berufsgesetzes für MusiktherapeutInnen dar, an der intensiv gearbeitet wird. Leider bilden die an den Diskussionen und an der Formulierung des Gesetzestextes ausgebildeten Musiktherapeuten die Ausnahme, die Entscheidungsmehrheit liegt derzeit in anderen Händen.
Zurzeit ist die relativ umfangreiche polnische Literatur nur in der Landessprache erhältlich, aber umgekehrt: das Interesse an ausländischer Literatur wächst mit der Öffnung nach außen. So wurden die Beiträge aus den Seminaren übersetzt in verschiedene Sammelbände der Breslauer und Krakauer Musikakademie aufgenommen.
Den Aktivitäten von immer mehr FachkollegInnen, insbesondere von Dr. Paweł Cylulko und Prof. Dr. Wita Szulc, ist sicher auch das wachsende internationale Interesse an der polnischen Musiktherapieszene zu verdanken.
Wegen des uneinheitlichen Berufsbildes von Musiktherapie wird die Etablierung des Berufsgesetzes ein wichtiger Schritt zur Anerkennung und Qualitätssicherung dieses Berufes in Polen werden.

 

Die Autorin:

Hanna Skrzypek
Diplom-Musiktherapeutin, Musikpädagogin, Pianistin.
Sie arbeitet als Musiktherapeutin an der Klinik für Psychische Gesundheit (Akutpsychiatrie) in Braunau am Inn (Österreich) und ist Doktorandin an der sozialwissenschaftlich-philosophischen Fakultät der Universität Augsburg.