Schwerpunktthema

Was kann Musiktherapie in der Schule leisten?

Von Hans Ulrich Schmidt und Tonius Timmermann

 

„Barbara, ein 9jähriges, geistig behindertes Mädchen, wurde von pädagogischen Mitarbeitern und einer therapeutischen Kollegin für die Musiktherapie vorgeschlagen… Sie verdarb es sich mit vielen Menschen, beschimpfte, verfluchte, verlachte oder bespuckte ihre Umgebung und stand so ohne Freunde, insbesondere ohne jegliche liebevolle Kontakte in Schule und heilpädagogischer Tagesstätte da… In der Musiktherapie zeichneten wir zunächst das, was sie wollte, einander am Tisch gegenübersitzend, wie in einer abgebrochenen Therapie zuvor. Im Hintergrund lief Musik vom Band, wir summten, brummten, blödelten mit oder sangen ihre Lieblingslieder. Barbara wurde ausgelassener, erlaubte sich dann alles: So zerstörte sie z. B. meine gezeichneten Kopien ihrer eigenen Bilder, verlachte meine Empfindungen. So vor den Kopf gestoßen, spielte ich manchmal Gitarre, anfangs zurückhaltende, später lustiger werdende Lieder über ihre Frechheit, aber auch über das, was sie Schönes tue. Musikalisch begleitet, ging sie öfters vorsichtig vom Tisch weg, Musikinstrumente anspielend, die stimmungsvolle Hintergrundmusik und die „Situationslieder“ des Musiktherapeuten annehmend und zunehmend nutzend. Sie bewegte sich nun vertrauensvoller im Therapieraum. Sie fühlte mit der Musik mit, wurde weicher, beweinte den Tod des Löwenvaters in der Geschichte vom „König der Löwen“, entdeckte ihre eigene Traurigkeit… Nach zwei Jahren konnte die Musiktherapie beendet werden. Die Musik in der Musiktherapie hat das zunächst vor den Kopf stoßende Verhalten ausgehalten, nahm es auf. Barbara konnte sich dem reichhaltigen Spektrum der Musik öffnen und ihre abgewehrten Gefühle integrieren. Barbara geht es weiterhin gut, sie ist eine lebensfrohe, kontaktfreudige Jugendliche.“ (Deutsche Gesellschaft für Musiktherapie 2001, 3–4)

Als eine andere geeignete Klientel für ein schulisches musiktherapeutisches Angebot seien neben den Kindern mit geistigen Behinderungen hyperaktive Kinder erwähnt: Sie sind anscheinend ein Symptom unserer modernen Lebensweise. Sie belasten Eltern und Lehrer, den Familien- und Schul-„Betrieb“, aber auch die sozialen Beziehungen zu anderen Kindern oft derart, dass meist pharmakologische Beruhigung als Mittel gewählt wird. Die Musiktherapeutin Rosa Büchele (1998) geht hier einen anderen Weg und offeriert Kindern mit dieser Problematik eine Rhythmikgruppe. Diese findet zwar hier im Rahmen einer kinder- und jugendpsychiatrischen Station statt – im Prinzip ist dieses Projekt jedoch auch in außerklinischen Settings anwendbar. Einmal wöchentlich bietet sie hyperaktiven Kindern einen Rahmen, in dem durch strukturierte Aufgaben Lernfelder geschaffen werden, die einen „rhythmischen Ausgleich“ ermöglichen. Dabei werden sie abgeholt, wo sie sind (Iso-Prinzip): bei ihrer Hyperaktivität, bei ihrer Wildheit, bei dem Bedürfnis, herumzutoben. Diese Mentalität wird kanalisiert durch eine strukturierte Aufgabenstellung, die Spaß macht, aber auch viele Fähigkeiten erfordert, sodass sie für ein gemeinsames Tun zentriert werden. Im Prinzip wird hier nicht Disziplin gegen das angewendet, was die Kinder zu ihrem Verhalten drängt, sondern die Energie und die entsprechenden Impulse werden quasi kreativ genutzt und dürfen zum Ausdruck kommen. Durch die klare Strukturierung in diesem spielerischen Vorgehen kann sich mit der Zeit die tiefe innere Sehnsucht der Kinder nach Ordnung, Sich-Einordnen, nach einem sinnvollen und fruchtbaren Umgang mit der eigenen Lebenskraft erfüllen. Der Umgang mit Aggressionen fällt leichter, Gruppenfähigkeit und Selbstwertgefühl werden gestärkt. Durch anschließende Gespräche werden den Kindern die ihnen innewohnenden ordnenden Kräfte bewusst und können dann auch in die Alltagswirklichkeit transferiert werden.
Diese Beispiele mögen stellvertretend dafür stehen, warum es sinnvoll sein kann, ein musiktherapeutisches Angebot in einer Regelschule bereitzustellen.


Historisches

Historisch erscheint in diesem Zusammenhang bemerkenswert, dass die moderne Musiktherapie nicht aus psychotherapeutischen Verfahren hervorgegangen ist, sondern dass sich neue Wege der Musikpädagogik (vor allem die Improvisation) und die Entfaltung der modernen Psychotherapie eine Zeit lang parallel entwickelten, bevor sie gemeinsame Ansätze in der Musiktherapie vereinten. Wichtige Namen sind in diesem Zusammenhang der Musikpädagoge Heinrich Jacoby (1889–1964), der die Musiktherapie nachhaltig beeinflusste. In seinen Büchern „Jenseits von begabt und unbegabt“ und „Jenseits von musikalisch und unmusikalisch“ entwarf er eine moderne Musikpädagogik, die stark kulturtherapeutisch motiviert war. Jacoby plädierte für eine Verbindung von ins­trumentalem Ausdruck und Therapie. Er war mit Psychologen und Psychoanalytikern befreundet, vor allem mit Alfred Adler, der die Zusammenarbeit von Künstlern, Psychotherapeuten, Erziehern und Seelsorgern bereits in den 1930er Jahren für notwendig erachtete (Linke 1977, 54 f). Wiener Ärzte und Psychotherapeuten wie Erwin Ringel, Andreas Rett, Hans Strotzka und später Peter Gathmann, konnten diese Ansätze schließlich 1959 in die Wiener Musiktherapie-Ausbildung integrieren. Ein weiterer wichtiger Name ist in diesem Zusammenhang Alfred Schmölz (1921–1995), über viele Jahre Leiter der Wiener Ausbildung an der Hochschule, heute Universität für Musik und Darstellende Kunst Wien. Er definiert Musiktherapie als ein „kreatives, emotionales und sozial-kommunikatives Übungs- und Erfahrungsfeld“ (Gathmann & Schmölz 1991, 263f). Man könnte dies auch als „tiefenpsychologisches Üben“ bezeichnen. Den Klienten gegenüber spricht man am besten von Probehandeln, experimentellem Handeln, Experiment oder einfach Ausprobieren (Timmermann 2004, 25).
Eine Pionierin der deutschen Musiktherapie mit Kindern ist Gertrud Orff. Sie charakterisiert ihre Orff-Musiktherapie (Orff 1985) als multisensorische Therapie. Alle Sinne sollen von der Musik gleichermaßen berührt werden. So wird Orff-Musiktherapie z. B. bei geistigen, körperlichen und Sinnes-Behinderungen eingesetzt, aber auch bei Verhaltens-, Entwicklungs- und Kommunikationsstörungen. Dabei werden Klang, Rhythmus, Melodie, Sprache und Bewegung angewandt, um Defizite in einem Sinn durch Förderung eines anderen zu kompensieren. Karin Schumacher verwendet und kombiniert in ihrer musiktherapeutischen Behandlung autistischer Kinder Musik-, Bewegungs- und Sprachspiele. Hier allerdings sollen Spiele und Übungen nicht allein Wahrnehmung und Kompensation verbessern, sondern vor allem Beziehung und Dialog ermöglichen (Schumacher 1994).


Um welche Klientel geht es?

Kinder und Jugendliche, die z. B. einen Zugang über die Sprache verweigern, nehmen Angebote aus der Musiktherapie eher an. Institutionen wie Schulen für Lernbehinderte, Hör-, Seh- oder Sprachbehinderte, Verhaltensgestörte und Kranke (vgl. Linke 1977, 105) liegen im Grenzbereich von Musikpädagogik und Musiktherapie. Im Wesentlichen steht hier im Zentrum der Aktivität die musikalische Bildung von Menschen mit Behinderungen, Störungen und Krankheiten, nicht eine darauf bezogene Therapie. Heute wird deshalb musiktherapeutische Arbeit aber auch zunehmend in traditionell pädagogischen Einrichtungen wie Kindergarten, Schule und Musikschule als ergänzende Maßnahme angeboten. Über die Arbeit in einer Städtischen Musikschule berichten Dagmar Sinkwitz und Marjolein Kok. Durch Zusammenarbeit mit einem Kinderarzt und verschiedenen Beratungsstellen sowie gute Kontakte zu Sonderschulen werden Kinder und Jugendliche an die Musiktherapeuten der Musikschule vermittelt (vgl. Sinkwitz und Kok 1998).
Einer Vielzahl von Einsatzmöglichkeiten stehen letztlich ökonomisch begründete Grenzen gegenüber, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann. Umso wichtiger sind gerade vor diesem Hintergrund Forschungsergebnisse, die den Stellenwert des vor allem auch präventiven Einsatzes von Musik im Schulbereich oder regelrechter musiktherapeutischer Behandlung betonen. Dabei spielen aus unserer Sicht gezielte Indikationsstellungen mit möglichst klaren Abgrenzungen zwischen pädagogischen und therapeutischen Fragestellungen eine wesentliche Rolle. Bis zum Jahr 2004 wurden z. B. 17 Forschungsbeiträge zum Thema „Musiktherapie und behinderte / entwicklungsverzögerte Kinder“ veröffentlicht. Entwicklungsfördernde Musiktherapie orientiert sich dabei vor allem an der Heil- und Sonderpädagogik. Forschungsergebnisse „belegen, dass Musiktherapie bei Entwicklungsstörungen zu einer Verbesserung der Kommunikationsfähigkeit, der Konzentrationsfähigkeit bzw. der Aufmerksamkeit und der ganzheitlichen Wahrnehmung führt“ (Reif und Ehrhardt, 2004, 75). Neun Beiträge wurden bis 2004 zum Thema „Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom mit Hyperaktivität“ veröffentlicht. Musiktherapeutische Behandlungsansätze basieren hier noch vorwiegend auf subjektiven Therapiekonzepten und Überlegungen. „Insgesamt belegen die Rechercheergebnisse, dass (hier) die häufigsten Ziele … die Stärkung des Selbstwertgefühls und die Förderung sozialer Kompetenzen sind“ (Schneider und Wilmers, 2004, 70).
Leider kann hier nur sehr begrenzt auf Indikationen und geeignete musiktherapeutische Vorgehensweisen eingegangen werden. Typische Indikationen (s. Frohne-Hagemann, Pleß-Adamczyk 2005) sind z.B. umschriebene Entwicklungsstörungen des Sprechens und der Sprache, emotionale Störungen des Kindesalters oder kombinierte Störungen des Sozialverhaltens und der Emotionen. Die Autoren betonen die oft schmale Grenze zwischen Pädagogik und Therapie. Für die Arbeit in einem Sozialpädiatrischen Zentrum nennt Koch-Temming (1998) z. B. als wichtige Indikationen Sprachentwicklungsstörung oder -verzögerung, Störungen in Redefluß oder -rhythmus, Konzentrationsstörungen, Hyperaktivität sowie Beziehungsstörungen.
Die Angebote musiktherapeutischer Interventionen im schulischen Rahmen sollten gut strukturiert sein (Regeln, Themen, Lieder…), die Ergebnisse rein phänomenologisch betrachtet werden. Zum Beispiel kann das Finden eines gemeinsamen Rhythmus’ oder die Vertonung eines „Gewitters“ durchaus in einem kleineren Klassenverband oder einer Kindergruppe versucht werden. Mahns (1998) weist darauf hin, dass „Klangerleben, Spielaktionen, Interaktionen und Kontext“ in der Musiktherapie mit Kindern eng ineinandergriffen, manchmal „schwer zu verstehen“ und „noch schwerer zu hantieren“ seien.


Möglichkeit der Umsetzung in Schule und Elternhaus

Grundsätzlich ist Musiktherapie in erster Linie Krankenbehandlung. Eine Vermischung von pädagogischen und therapeutischen Ansätzen ist daher nicht unproblematisch, manchmal möglicherweise gefährlich. Gerade in einer Situation, in der sich musiktherapeutische Angebote zunehmend auch in Angebotsprofilen von Jugendmusikschulen finden, scheint es uns wichtig, eine Trennlinie zwischen Therapie und Pädagogik zu ziehen (s. a. Timmermann, Schmidt 2007). Gleichwohl eignen sich in der Musiktherapie entwickelte musikalische Handlungsmodelle (vgl. z.B. Decker-Voigt 1975) u. U. auch für den schulischen oder privaten Bereich, wenn sie achtsam gehandhabt werden. Die tiefenpsychologische Dimension sollte bei pädagogisch orientiertem Einsatz von Musik in jedem Fall außen vor bleiben, zumindest aber äußerst sorgsam angewandt werden. Auf Interpretation und „Beratung“ sollte weitgehend verzichtet werden. Musikpädagogik und Musiktherapie müssen klar von einander abgegrenzt werden, auch wenn beide Wachstumsprozesse initiieren wollen und können. Im Falle der Musikpädagogik handelt es sich um einen primär pädagogisch motivierten Lernprozess, in dem definierte Ziele durch geplantes Handeln als gewünschte und überprüfbare Resultate angestrebt werden. Andererseits beinhaltet dieser Lernprozess aber auch Ziele im Sinne einer psychologischen Entwicklung. Hier seien Entfaltung von Kreativität, ganzheitliche Bildung und Förderung emotionaler und sozialer Intelligenz genannt.
Eine Zusammenarbeit von Musikpädagogen und Musiktherapeuten ist in vielen Bereichen sinnvoll und fruchtbar, solange jeder seinen spezifischen Auftrag und dessen Grenzen kennt und anerkennt.

 

Die Autoren:

Prof. Dr. Hans Ulrich Schmidt
Co-Leitung des Berufsbegleitenden Weiterbildungsstudiengangs mit Masterabschluss am Leopold-Mozart-Zentrum, Universität Augsburg.Bereich Ärztliche Psychotherapie, Ambulanzzentrum des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf, Martinistraße 52, 20246 Hamburg
Tel.: 0 40-74105-29 74
e-mail: uschmidt(at)uke.uni-hamburg.de

 

Prof. Dr. Tonius Timmermann
Leitung des Berufsbegleitenden Weiterbildungsstudiengangs mit Masterabschluss am Leopold-Mozart-Zentrum, Universität Augsburg, Maximilianstr. 59, 86150 Augsburg
Tel. 08 21/45 04 16 – 32
e-mail: hfm-musiktherapie(at)a-city.de

 

Literatur:

  • Büchele, Rosa: Impulskontrolle oder die Lust an Grenzen. Die Rhythmusgruppe als Therapieangebot für hyperaktive Kinder. In: Musiktherapeutische Umschau 19, 190–194, 1998
  • Decker-Voigt, Hans-Helmut: Musik als Lebenshilfe. Lilienthal/Bremen, Eres 1975
  • Deutsche Gesellschaft für Musiktherapie: Werbebroschüre. Berlin, Karnath 2001
  • Frohne-Hagemann, Isabelle; Pleß-Adamczyk, Heino: Indikation Musiktherapie bei psychischen Problemen im Kindes- und Jugendalter. Musiktherapeutische Diagnostik und Manual nach ICD-10. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht 2005
  • Gathmann, Peter & Schmölz, Alfred: Musiktherapie. In: Stumm, Gerhard & Wirth, Beatrix (Hrsg.): Psychotherapie. Schulen und Methoden. Wien, Falter 1991
  • Jacoby, Heinrich: Jenseits von ‚Begabt’ und ‚Unbegabt’, 1980
  • Jacoby, Heinrich: Jenseits von ‚Musikalisch’ und ‚Unmusikalisch’. Hamburg, Christians 1984
  • Koch-Temming, Hedwig: Musiktherapie in einem Sozialpädiatrischen Zentrum. Musiktherapeutische Umschau Bd. 19, S. 226–230, 1998
  • Linke, Norbert: Heilung durch Musik? Wilhelmshaven, Heinrichshofen 1977
  • Mahns, Wolfgang: Musiktherapie mit Kindern – Ein Überblick. In: Musiktherapeutische Umschau, Bd. 19, S. 151–163, 1998
  • Orff, Gertrud: Die Orff-Musiktherapie. Frankfurt am Main, Fischer 1985
  • Reif, Veronika; Ehrhardt, Franziska: Behinderte / entwicklungsverzögerte Kinder. In: Themenheft: Praxis und Forschung. Musik-, Tanz- und Kunsttherapie. 15. Jahrgang, Heft 2, S. 75–76, 2004
  • Schneider, Regina; Wilmers, Christiane: Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom mit Hyperaktivität. In: Themenheft: Praxis und Forschung. Musik-, Tanz- und Kunsttherapie. 15. Jahrgang, Heft 2, S. 70–72, 2004
  • Schumacher, Karin: Musiktherapie mit autistischen Kindern. Musik-, Bewegungs- und Sprachspiele zur Integration gestörter Sinneswahrnehmung. In: Reihe Praxis der Musiktherapie. Stuttgart, Fischer 1994
  • Sinkwitz, Dagmar; Kok, Marjolein: Musiktherapie an einer Musikschule. In: Musiktherapeutische Umschau, Bd. 19, S. 212–215, 1998
  • Timmermann, Tonius : Tiefenpsychologisch orientierte Musiktherapie. Bausteine für eine Lehre. Wiesbaden, Reichert 2004
  • Timmermann, Tonius; Schmidt, Hans Ulrich: Unterstützung durch Musiktherapie. In: Menzel, Wiater (Hrsg.): Kinder und Jugendliche mit Förderbedarf in der Regelschule. Bd. III. Schulische und außerschulische Unterstützungssysteme, S. 256-269. Donauwörth, Auer 2007