Ausbildung: Studierende berichten

Hamburg

Von Vera Stein

 

1. Nennen Sie bitte Inhalte Ihres Studiums, die Sie für Ihre Praxis für effizient halten?

Sehr viel weiter gebracht hat mich alles, was mit Reflexion zu tun hat: Das waren die Fallbesprechungen im Psychoanalyseunterricht und im Unterricht in therapeutischer Improvisation, außerdem die Supervision und die Lehrtherapie. Das Fach Psychodynamic Movement hat für mich unterschiedlichste Aspekte vereint und meinen Horizont in viele Richtungen erweitert: Zum Einen habe ich viele neue Erfahrungen mit mir und meinem Körper gemacht, meine Ausdrucksfähigkeit erweitert und mich in den Beziehungen mit anderen unter ganz neuen Bedingungen ebenso neu kennen gelernt. Und zum anderen habe ich meine Fähigkeiten zum Transfer von nonverbalen Erfahrungen in verbale Beschreibungen und Reflexion geübt und darüber hinaus gelernt, dass nonverbale Darstellung häufig den Kern einer Sache viel eher trifft als verbale. Den Improvisationsunterricht – künstlerisch und therapeutisch – habe ich als sehr essentiell erlebt. Für mich hat er die Basis für meine jetzige Arbeit gelegt, weil ich einerseits die nötigen musikalischen Fertigkeiten erlernt habe und andererseits glaube, dass ich durch diese eigene Erfahrung und Übung ein für die Musiktherapie taugliches Musikverständnis entwickelt habe.

2. Welche Ausbildungsinhalte erfuhren Sie dabei für sich selbst am wertvollsten?

Die Fallbesprechungen und die Selbsterfahrung, außerdem das Fach Psychodynamic Movement. Zudem hilft es mir im Austausch mit Kollegen anderer Therapierichtungen und bei der Diagnostik und Reflexion, dass wir unterschiedliche theoretische Ansätze kennengelernt haben und geübt haben, musikalisches Geschehen und Erlebtes zu verbalisieren.


3. Würden Sie sich zurückblickend zusätzlich noch weitere Inhalte wünschen, die Ihnen momentan eventuell fehlen?

Der Musiktherapiestudiengang war sicher derjenige meiner drei absolvierten Studiengänge, in dem ich am meisten persönlich und berufsbezogen gelernt habe. Ein paar Inhalte fehlten mir trotzdem: Zum Beispiel systemische Ansätze, weil ich in der Kinder- und Jugendpsychiatrie arbeite, wo meistens die ganze Familie oder ein noch größeres Umfeld berücksichtigt werden müssen, um ein Störungsbild zu verstehen und sinnvolle Arbeit zu leisten. Außerdem haben wir zu theoretisch und knapp die Diagnostik behandelt. Ich hätte mir mehr Einblick in das gewünscht, was üblicherweise gemacht (und von Kassen, Ämtern und Kollegen anderer Fachrichtungen erwartet) wird. In der Kinder- und Jugendpsychiatrie ist das weit mehr als ein Erstgespräch und ein Anamnesebogen. Es sind besonders Kompetenzen im Umgang mit ICD 10 und DSM IV. Dazu und zum Schreiben von Arztbriefen und Anträgen wären Übungen toll gewesen.


4. Welche Inhalte haben Sie zwar bereits in der Ausbildung kennengelernt, konnten diese aber nicht in Ihre Praxis übertragen?

GIM (Guided Imagery and Music) fand ich in der Theorie spannend, kann aber kaum davon Gebrauch machen, weil fast alle Patienten (Kinder und Jugendliche) selbst aktiv werden möchten und Schwierigkeiten mit der üblicherweise verwendeten klassischen Musik haben.


5. Welche Methoden, Ansätze oder Konzepte der Musiktherapie stehen in Ihrer beruflichen Praxis im Mittelpunkt?

Ich arbeite hauptsächlich mit freier Improvisation, teils als Beziehungsgeschehen, teils tiefenpsychologisch oder gestalttherapeutisch. In den Gruppen entsteht oft eine Art Psychodynamic Movement „aus dem Moment heraus“, in dem ein Teil der Patienten die Spielszenen der anderen musikalisch begleitet.


6. Welche arbeitsrechtlichen Inhalte fehlten Ihnen besonders auf die Musiktherapie bezogen?

Mit den Themen Antragsstellung bei Krankenkassen und Ämtern und dem Umgang mit Kostenträgern haben wir uns viel zu wenig beschäftigt. Das ist auch nach dem Studium ein großes Rätsel und bleibt eine gewisse Herausforderung.
Ich würde es aus heutiger Sicht sinnvoll finden, die Bedingungen im Hamburger/norddeutschen Raum kennen zu lernen; vielleicht in einer Art Planspiel. Es gibt unzählige Maßnahmen, Kostenträger, Projekte, Stiftungen, die auf komplizierte Weise zusammenhängen und es gibt wohl auch viel mehr Stellen, die eine Finanzierung übernehmen würden. Davon wurde immer wieder gesprochen, aber wir haben nie etwas Konkretes gehört oder gar unternommen.


7. Welche Störungsbilder und Formen der Behinderung haben Sie während des Studiums kennengelernt? Welche fehlen Ihnen?

Im Studium haben wir (ohne Vollständigkeitsgarantie) mehr oder weniger ausführlich folgende Störungsbilder und Behinderungen behandelt:

  • wesentliche psychiatrische/psychotherapeutische Erkrankungen: Psychosen, Borderline-Erkrankungen, Essstörungen, Psychosomatische Erkrankungen, Depression und Manie, Zwangsstörungen,
  • Demenz,
  • Epilepsie,
  • Autismus,
  • Traumatisierung.

Wenig haben wir explizit über „undramatische“ kinder- und jugendpsychotherapeutische Themen wie ADHS oder Hochbegabung erfahren, was aber für die Praxis nicht gestört hat. Mir fehlt weniger Wissen über Störungsbilder, da diese sich letztlich sehr bald wiederholen und doch bei jedem Patienten sehr individuell ausgestaltet sind, sondern Modelle zur Beschreibung (und vielleicht Veränderung) von Familiensystemen und Interaktionsstrukturen.


8. Welche Berufsbezeichnung benutzen Sie (Musiktherapeut/in und/oder ggf. Ihren Grundberuf)?

Meist nenne ich beide Berufe. Je nach Situation „(Dipl.)-Musiktherapeutin“ zuerst oder als zweites, dazu „Klavierlehrerin“ oder „Musiklehrerin“ – ganz selten gebe ich „Musikerin“ als Berufsbezeichnung an.


9. Welche Berufsidentität hatten Sie mit Abschluss des Studiums eingenommen?

Damals arbeitete ich schon mehrere Jahre einen Tag pro Woche als Musiktherapeutin. Der Übergang in eine Zweiberufe-Identität ging allmählich. Zu Studienende waren es wohl eher zwei Berufe, wobei ich mich mit jedem identifiziert habe und noch eine Weile brauchte, um sie zu einer gemeinsamen beruflichen Identität zu integrieren.


10. Welche ist es jetzt?

Ich sehe mich als Begleiterin von Menschen, die Musizieren dazu nutzen wollen, sich und ihre Umwelt besser kennen zu lernen und sich in dieser Umwelt möglichst adäquat, authentisch und wirksam zu äußern – letztlich auch ohne Musik.


11. Arbeiten Sie als Musiktherapeutin selbstständig und/oder sind Sie teilangestellt?

Ich arbeite teilangestellt und habe einen weiteren Musiktherapeuten mit ebenfalls fester Anstellung als Kollegen – zusammen ca. 45h–50h/Woche.

 

Vera Stein
Beruflich bin ich ca. zur Hälfte Musiktherapeutin mit Festanstellung in einer Praxis für Kinder- und Jugendlichenpsychiatrie und -psychotherapie in Ahrensburg bei Hamburg und selbständige Klavier- bzw. Improvisationslehrerin. Als Abiturientin habe ich Musiktherapie vehement abgelehnt und fand, man solle so etwas mit Musik nicht machen. Das hat sich durch die zwischenmenschlichen Fragen, die beim Klavierunterrichten aufgetaucht sind, gewandelt und 2008 habe ich an der HfMT schließlich meinen Abschluss als Diplom-Musiktherapeutin gemacht.