Vorschau Heft 25 (2014)

Musiktherapie bei Trennungskindern

Vater, Mutter, Kind – die Rollenbezeichnungen gibt es noch, das Zusammensein derselben immer weniger: Nur noch jeder Zweite von uns lebt im Familienverbund
(8, 1 Millionen mit einem minderjährigen Kind, eine Million weniger als vor zehn Jahren). Diese Zahl beinhaltet bereits die Familienzweitgründungen (patchwork-families). Kinder aus getrennten Elternbeziehungen sind eine nicht nur zahlenmäßig steigende Klientel in der Kinder- und Jugendlichen- Psychotherapie, sondern längst die Gegenüber von Musiktherapeutinnen und Musiktherapeuten in ihren Praxen. Die musikalische Abbildung in improvisierter Musik von den oft traumatischen Erfahrungen mit der aufgelösten triadischen Beziehung zu den Eltern und damit verbundene Bearbeitungsmöglichkeiten sind Schwerpunktthema im nächsten Heft.

 

Das Heft erscheint voraussichtlich im Februar 2014.

Editorial

Seien Sie willkommen in dieser MuG-Ausgabe! Unser Schwerpunktthema umgibt uns täglich: Trennungskinder, Scheidungswaisen. Thomas Stegemann und Georg Romer, beides Hochschullehrer mit breitem Praxisprojektbezug, titeln nicht nur, sondern zeigen „Chancen und Risiken“ für das Scheidungskind. Mit dem Kind „L.“ als lebendigem (Fall-)Beispiel begleiten sie uns Lesende zu Überlegungen, Informationen, Zahlen zu Ursachen/Verlauf und besonders zu den Phasen eines Scheidungsprozesses – bis hin zu dem Kernmoment, in dem die L.’s, die Kinder dieser Welt, endgültig von der vollzogenen oder bevorstehenden Scheidung erfahren. Dieses Kernmoment als dem „psychologischen Scheidungszeitpunkt“ löst all die Empfindungs- und Erfahrungsfolgen für das Kind aus. Und für seine Therapeuten.
Die von den Vorautoren bereits zitierte Fachfrau für dieses unsere gesamte Gesellschaft betreffende und (um)formende Leidensgebiet, Nicola Nawe, die über dieses Thema mit Auszeichnung promoviert hatte, umfasst mit dem Titel ihres Beitrags diese ganze Welt des Schwerpunktthemas: „Zwischen Vater- und Mutterland“. Sie vertieft mit dem Beispiel ihrer Kindergruppenmusiktherapie als Kurzzeittherapie unseren Blick in diese kindlichen Erfahrungswelten, die es in Teilen zu dem machen, was eine Waise ausmacht und wie diese Erfahrung gewürdigt werden kann und wird. „Wer ist der Held“ beschreibt den 13jährigen Jimmy, der seinen Vater nie kennenlernte.
Wir haben einen dritten Beitrag zum Thema Trennungskinder erbeten, bei dem die Semantik „Trennung“ scheinbar nur vom Wort her gilt – Martina Nunold arbeitet derzeit schwerpunktmäßig am Thema „Kaiserschnitt-Kinder“ – für ihre Mütter und manchmal auch Väter. Auch wenn es keine „Ätiologie“ bei einer Geburt durch künstliche Trennung gibt, auch wenn die „caesarische“ Trennung von Mutter und Kind eine Krisenintervention ist, auch wenn die Indikation für Kaiserschnitte eine gynäkologische ist und keine Elternentscheidung (wie bei Trennung durch Scheidung) – es gibt sie neben den vielen störungsfreien Folgen beim Kaiserschnitt durchaus, die „Kaiserschnittpersönlichkeiten“. Erfahrungen mit musiktherapeutischer Begleitung vermittelt dieser Beitrag über Trennungskinder anderer Art, als das Wort sonst assoziiert.

Weiterlesen: Editorial

Inhaltsverzeichnis

Editorial
Hans-Helmut Decker-Voigt

Musiktherapeutischer Klinikspaziergang
Hans-Prinzhorn-Klinik, LWL-Klinik Hemer
Halina Deutschmann-Hütt

Praxisvorstellung
Institut für Interdisziplinäre Musik- und Sprachtherapie, Duisburg
Monika Jungblut

Patienteninterview Neurologische Musiktherapie: Schlaganfall
Alexandra Takats

Schwerpunktthema
Nicola Nawe

Schwerpunktthema II
Thomas Stegemann/Georg Romer

Trennung durch Kaiserschnitt
Martina Nunold

Ausbildung: Berufsbegleitende Weiterbildung in Orff-Musiktherapie
Cornelia Fischer/Vanessa Fritz

Musiktherapie im Ausland: Musiktherapie in Luxemburg. Eine persönliche Perspektive
Marianne Wiltgen-Sanavia

Forschung.Wissen: Neuro-Musiktherapie bei akutem Tinnitus

Beim Singen und Sprechen: Die Stimme im Fokus
12. Leipziger Symposium zur Kinder- und Jugendstimme

Ankündigung einer neuen Rubrik: Capriccio cerebrale
Thomas Stegemann

Menschen und Orte: News. Hochschulnachrichten

Buch und Medien

Zum Mitmachen
Empathisches Surfbrett für Klangwellen –
Musiktherapeutischer Flow
Selma Suzan Emiroglu

Musiktherapeutischer Klinikspaziergang

Hans-Prinzhorn-Klinik, LWL-Klinik Hemer

Von Halina Deutschmann-Hütt

 

In sanften, grünen Hügeln des Sauerlandes, im Dorf Frönsberg, heute ein Stadtteil Hemers, nah am dicht besiedelten Ruhrgebiet, liegt die Hans-Prinzhorn-Klinik des Landschaftsverbandes Westfalen Lippe. Nicht weit davon gab es von 1964 bis 1978 die Westfälische Landespflegeanstalt Frönspert, die im Zuge der allgemeinen Novellierung der psychiatrischen Behandlung geschlossen und abgerissen wurde. Das Westfälische Landeskrankenhaus Frönspert-Hemer wurde gegründet und nahm in einem neuen Bau seine Arbeit auf. Es wurde ein für diese Zeit moderner, offener Klinik-Entwurf verwirklicht, der noch heute in weiten Teilen einer modernen Psychiatrie gerecht wird. 1988, zum 10jährigen Bestehen, erhielt die Klinik den Namen LWL – Hans-Prinzhorn-Klinik Hemer.

Hans Prinzhorn (1886 in Hemer geboren) erkannte als einer der ersten Ärzte das schöpferische Potential seelisch und geistig erkrankter Menschen und maß deren Bildern, im Gegensatz zur damaligen allgemeinen Überzeugung, eine inhaltliche und ästhetische Qualität zu. Als Assistenzarzt in Heidelberg sammelte er zwischen 1919 und 1921 im In- und Ausland Bilder von Patienten, die heute in der Sammlung Prinzhorn in Heidelberg zu sehen sind. Diesem Namen verbunden fand und findet ein breites, regelmäßiges Angebot künstlerischer und kreativer Therapien Einzug in die Behandlung. Die Klinik veranstaltet Ausstellungen mit Werken psychisch kranker bildender Künstler, initiiert Theaterprojekte mit Patienten, die auch außerhalb der Klinik zur Aufführung gelangen, und fördert außerdem die künstlerischen Ambitionen seiner Mitarbeiter.

In dem Zentralbau der Klinik befinden sich Räume der Medizintechnik, der Versorgungseinrichtungen, der zentralen Arbeits-, Sport- und Physiotherapie und ein neu gestaltetes Schwimmbad mit Wellnessbereich, in dem die Atmosphäre über eine Lichtdesign-Anlage verändert werden kann. Die fünf 2–3-geschossigen Bettenhäuser gegenüber sind mit Balkonen versehen und in einem gepflegten Gartenareal über geschwungene Wege verbunden. Der Anlage vorgelagert ist ein kleineres Gebäude, in welchem sich die Betriebsleitung, die zentrale Aufnahme und die Patientenverwaltung befinden. Die Bepflanzung und Pflege der Anlage und Balkone besorgt unsere Arbeitstherapie und Gärtnerei. Bis in den späten Herbst hinein schmücken viele blühende Pflanzen den Garten und die Balkone. Die nahe Umgebung besteht aus Wald und Wiese und im Sommer kann man Schafherden weiden sehen. Im Garten der Klinik ist ein „Weg der Be-Sinnlichkeit“ angelegt, der in Bögen an Skulpturen, Klang­objekten und kleinen Sitznischen vorbei führt. Die Therapieräume der Musiktherapie befinden sich alle im mittleren Bettenhaus, ein Einzeltherapieraum direkt auf einer Station und ein großer Gruppentherapieraum mit Ausgang zum Garten sowie ein kleinerer Gruppen-/Einzeltherapieraum im Hanggeschoss. Dort befindet sich auch unsere Disco, die jeden Mittwochabend gut besucht wird und für uns als Ausweichquartier zur Verfügung steht. Der Musiktherapieraum auf der Psychotherapiestation ist in direkter Nähe zu den Patientenzimmern gelegen und mit einem speziellen, zur Lichttherapie entwickelten Blue Light Lichtsystem ausgestattet. In allen Räumen befindet sich eine vielfältige Instrumenten-Ausstattung. Neben einem Klavier gibt es zahlreiche Schlagin­strumente, Saiten- und Blasinstrumente und auch exotische Instrumente. Im Hörsaal der Klinik befindet sich ein Steinway-Stutzflügel, der von uns Musiktherapeuten für Kammermusik genutzt werden kann, oder auf dem pianistisch gebildete Patienten üben können.
Das therapeutische Angebot der Klinik ist vielfältig. Es umfasst neben einer modernen pharmakologischen Behandlung auch psychologische Testverfahren und störungsspezifische Therapieangebote wie das DBT-Programm für Borderline-Patienten, Spezial-Stationen für affektive Störungen sowie eine Station für griechischsprechende Patienten. Um einen hohen Qualitätsstandard zu erfüllen, ist die Klinik nach KTQ der QMS Cert. zertifiziert (Registrierung: Z-2004-03). In der Klinik arbeiten elf künstlerische Therapeuten (vier Kunsttherapeuten, drei Ausdruckstherapeuten, eine Kreativtherapeutin und drei Musiktherapeuten), so dass auf allen Stationen künstlerische Therapien angeboten werden können. Musiktherapie wird auf den allgemein-psychiatrischen, psychotherapeutischen und gerontoneuropsychiatrischen Stationen angeboten. Wir arbeiten eingebunden in die jeweiligen Stationskonzepte in multiprofessionellen Teams. Frau Siegmund, musiktherapeutische Kollegin, leistet ihre Kernarbeit auf den Stationen für Psychotherapie. Außerdem bietet sie eine Gruppe im gerontoneuropsychiatrischen Bereich an (s. Kasten). Der fachliche Schwerpunkt meines Kollegen Herrn Kupski liegt in der Behandlung der Borderline-Erkrankung nach dem Konzept der DBT, für welches er speziell ausgebildet ist. Daneben betreut er das gesamte Spektrum seelischer Erkrankungen, auch in der Gerontoneuropsychiatrie. Die Autorin betreut allgemeinpsychiatrische Patienten mit gemischten Diagnosen, von der Kriseninterventionsbehandlung bis zu längeren einzeltherapeutischen Behandlungen auf Grundlage der psychodynamischen Musiktherapie (s. Fallbeispiel). Außerdem bietet sie auf der Station für transkulturelle Psychiatrie für griechische Mi­granten kunst-musiktherapeutische Gruppenangebote und kulturelle Exkursionen an.

Die Behandlungsdauer ist sehr verschieden und reicht von ein bis zwei Wochen als Krisenintervention bis hin zu mehreren Monaten, wenn es um eine Langzeit-Psychotherapie geht. Zur Krisenintervention werden zumeist chronisch Erkrankte aufgenommen, die durch wiederkehrende klinische Behandlung und Betreuung über Jahre einen therapeutischen Prozess durchlaufen haben und davon profitieren, dass sie auf lang gereifte therapeutische Beziehungen zurückgreifen können. Die musiktherapeutische Behandlung findet ein bis zwei Mal wöchentlich statt und beginnt meistens in der zweiten Behandlungswoche. Die Verordnung der MT erfolgt durch den behandelnden Arzt oder Psychologen. Das spezielle musiktherapeutische Verfahren wird durch uns Musiktherapeuten festgelegt. Wenn ein Patient den Wunsch nach Musiktherapie äußert, versuchen wir ihn zu erfüllen. Wenn ein Patient unsicher ist, ob er an der musiktherapeutischen Behandlung teilnehmen möchte, empfehle ich drei Sitzungen zur Probe, um zu einer Entscheidung zu gelangen. Für die musiktherapeutische Behandlung brauchen die Patienten keine musikalische Vorbildung. In den ersten Therapiestunden erklären wir die Hintergründe unseres Handelns und versuchen so, das Verfahren transparent werden zu lassen.Der besondere Unterschied einer Musiktherapie zu einer Gesprächstherapie ist, dass man sich bei der Improvisation ohne zu sprechen in einem fließenden Zeitfluss begegnet und kommuniziert. Dabei wird die Aufmerksamkeit weg vom Gedanken hin zur Empfindung gelenkt und mit dem Therapeuten geteilt. Dadurch kann manches, was noch keine Worte hat, zum Ausdruck gebracht werden. Musiktherapie weckt aber auch die Freude an der Musik, am Musizieren – sei es beim Singen von Liedern, beim Trommeln oder beim bewussten Gestalten von Musik nach Spielregeln. Mit Musik können jedoch auch starke Spannungen abgebaut werden, z. B. durch Trommelarbeit oder intensives lautes Singen mit CD. Ebenso kann das Hören von Musik zur Konzentrationsübung werden, ähnlich einer Meditation, die Gedanken sammeln hilft und entspannend wirkt. Wir Musiktherapeuten stehen untereinander in stetigem Kontakt, beraten uns gegenseitig und nehmen an Fortbildungen teil, um unsere Arbeit zu verbessern. Manchmal kommt es zu intensiven Flur-Disputen. Die Klinik unterstützt das durch eigene Fortbildungsveranstaltungen und durch bezahlte Freistellungen für Symposien und Kongresse.

Abschließend möchte ich auf das Leitbild der Klinik hinweisen, in dem es heißt:
„Dem Namensgeber der Klinik Hemer, Hans Prinzhorn, verbunden, hat die Klinik neben den in einer hochqualifizierten Institution üblichen diagnostischen und therapeutischen Angeboten einen besonderen Schwerpunkt gesetzt im Bereich Kunst und Psychiatrie. Die kreativen Therapien setzen innerhalb eines künstlerischen Prozesses die Medien Klang, Farbe, Form und Bewegung ein, um die Gestaltungs-, Ausdrucks- und Wandlungskräfte in der Persönlichkeit des Patienten zu beleben. Sie vermitteln positive Erfahrungen. Hinzu kommen kulturelle Projekte, an denen sich verschiedene Berufsgruppen beteiligen: Theaterarbeit mit psychisch Kranken, Konzerte, Kunstausstellungen und Kunstak­tionen, in denen künstlerische Werke aus den therapeutischen Prozessen hier und Arbeiten anderer Künstler, darunter auch psychisch Erkrankte, zusammengeführt werden. Künstlerische Tätigkeit hinterlässt in den Skulpturen am Rande unserer ›Wege der Besinnlichkeit‹ dauerhafte Spuren im Klinikgelände. Wir sehen die Kunst als ein Tor zwischen bekannten und unbekannten Welten. So mag sie Brücken schlagen zwischen Normalität und Abweichung und helfen, das Stigma psychischer Krankheit abzumildern.“


Dies ist für uns eine gute Arbeitsgrundlage.

 

Die Autorin:

Halina Deutschmann-Hütt
Dipl. Musiktherapeutin
Psychotherapie (HP)
Dipl. Musikpädagogin
Künstlerisches Diplom – Violine
Nach dem Musikstudium Violine in Dresden (Abschluss 1986) folgten Engagements an den Opernhäusern in Dessau, Essen und Dortmund sowie dem Rundfunkorchester des WDR. Sie wirkte in diversen Kammerensembles mit (Trio d’Este) und beteiligte sich als Mitglied der Dresdner Sinfoniker an Crossover-Projekten und Ur-/Aufführungen serieller Musik der Gegenwart.
Aufbaustudium Musiktherapie in Hamburg, Diplom 2002. Seit 2001 fest angestellt an der LWL-Klinik Hemer.
Mitglied der Deutschen musiktherapeutischen Gesellschaft DMtG
Mitglied der Gesellschaft für Psychoanalyse und Musik DGPM
Nebenberuflich als Musikpädagogin tätig.
Jurorin bei „Jugend Musiziert“.

Kontakt
Tel. 02372-861694
Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!

Quellen:

Angaben zur Klinik:

WL-Klinik-Hemer
Hans-Prinzhorn Klinik
Psychiatrie · Psychotherapie ·
Psychosomatik
Ärztlicher Direktor
Prof. Dr. U. Trenckmann
Frönsberger Str. 71
58675 Hemer
Tel.: 02372 861-0
www.hans-prinzhorn-klinik.de
LWL-Psychiatrieverbund Westfalen
www.lwl.org

Praxisvorstellung

Institut für Interdisziplinäre Musik- und Sprachtherapie, Duisburg

Von Monika Jungblut

 

Stellen Sie sich bitte kurz vor!
2004 habe ich die Praxis für SIPARI®-Therapie (s. Kasten) eröffnet, die 2008, auf Grund der erfolgreichen Zusammenarbeit mit Linguisten und Logopäden und dem Aphasiker-Zentrum NRW, in das Institut für Interdisziplinäre Musik- und Sprachtherapie integriert wurde. Mittlerweile gibt es zwei Anlaufstellen im Herzen des Ruhrgebietes, Duisburg und Essen.

Welche Situation Ihres musiktherapeutischen Berufslebens lag vor der Eröffnung Ihrer ambulanten Praxis?
Meine klinische Tätigkeit im Vorfeld der Praxiseröffnung betrifft die Bereiche Psychiatrie, Psychosomatik, Psychotherapeutische Medizin sowie Neurologie, Geriatrie und Neuropädiatrie. Parallel begann ich bereits vor der Praxiseröffnung ambulant mit Aphasikern in Kooperation mit verschiedenen Selbsthilfegruppen in NRW zu arbeiten.

Wie sind Sie zu dem Beruf des Musiktherapeuten/der Musiktherapeutin gekommen?
Nach meinem Gesangsstudium folgten ca. 15 Jahre freiberuflicher Tätigkeit als Opern- und Konzertsängerin und Lehrtätigkeit an Hochschulen und Universitäten. Speziell in der Arbeit mit Studierenden wurde mir klar, welch enge Verbindung zwischen Stimme und Psyche besteht. Des Weiteren begeisterte mich das Thema „Medizin“ seit meiner Kindheit. So entschied ich mich für die Aufnahme eines Musiktherapiestudiums an der Hochschule für Musik und Theater in Hamburg. Schon während dieses Studiums begann ich mich mit dem Thema „Aphasie“ zu befassen. Mit diesem Begriff wird eine zentrale Sprachstörung nach abgeschlossener Sprachentwicklung bezeichnet, verursacht z. B. durch Schlaganfall, Schädelhirntrauma, Hirntumor etc. Auslöser war die Lektüre des 1937 erschienenen Buches „Über die Untersuchung der musikalischen Funktionen bei Patienten mit Gehirnleiden, besonders bei Patienten mit Aphasie“ des norwegischen Mediziners Ustvedt, der u. a. auch über die erhaltene Singfähigkeit bei Aphasikern berichtet. Ich war fasziniert von dem Gedanken, meine musikalischen und stimmlichen Fähigkeiten möglicherweise nicht nur künstlerisch, sondern eventuell sogar gezielt therapeutisch einsetzen zu können. Von da an ließ mich dieser Gedanke bis heute nicht mehr los und hat mich dazu bewogen, die Behandlungsmethode SIPARI® zu entwickeln und meine musiktherapeutische Tätigkeit ausschließlich der Arbeit mit Menschen, die an Sprach- und Sprechstörungen leiden, zu widmen.

Erzählen Sie bitte von den Rahmenbedingungen und der Konzeption Ihrer Praxis?
Es gibt zunächst das therapeutische Angebot bestehend aus SIPARI® bzw. der Kombinationsbehandlung aus SIPARI® und speziell darauf abgestimmter Logopädie. Die Therapien werden in Form von Einzel- und/oder Gruppentherapie angeboten, auch als Intensivtherapie (mehrere Stunden der o.g. Angebote pro Tag). Einen weiteren wesentlichen Schwerpunkt des Instituts stellt die Forschung dar. In Kooperation mit dem Universitätsklinikum Aachen und dem Interdisziplinären Zentrum für Klinische Forschung werden seit 2008 Studien mit bildgebenden Verfahren (fMRT–funktionelle Magnetresonanztomographie) durchgeführt, um den Behandlungsansatz SIPARI® auch aus neurowissenschaftlicher Sicht zu untermauern.  Weiterhin werden im Institut SIPARI®-Fortbildungen von mir angeboten. SIPARI® ist eine geschützte Marke. Nur Therapeuten, die die 1-jährige Ausbildung erfolgreich abgeschlossen und eine entsprechende Behandlungslizenz haben, sind in der Lage, diese Therapie anzubieten. Leider wird SIPARI® häufig mit der aus den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts stammenden Melodischen Intonationstherapie (MIT) gleichgesetzt, einer sprachtherapeutischen Behandlungsmethode. Daher möchte ich an dieser Stelle auf einen wesentlichen Unterschied hinweisen: Die MIT zielt ausdrücklich darauf ab, sprachverwandte Regionen in der rechten Gehirnhälfte zu aktivieren, die SIPARI®-Therapie hingegen führt zur Aktivierungsübernahme von sprachverwandten Regionen rund um die Schädigung in der linken Hirnhälfte (die sog. „periläsionale“ Aktivierung). Dies steht im Einklang mit aktuellen Forschungsergebnissen aus der Sprachwissenschaft, die zeigen, dass periläsionale Aktivierung mit einer günstigen Prog­nose bezüglich der Spracherholung einhergeht, dauerhafte Aktivierung in der rechten Gehirnhälfte hingegen die Spracherholung behindert. Die Wirksamkeitsnachweise für die MIT stehen nach wie vor aus1.

Wie sind Ihre Praxisräume eingerichtet? Nach welchen Kriterien haben Sie sie gestaltet?
Es gibt an beiden Standorten jeweils zwei Praxisräume, einen Wartebereich, Büro und Küche. Die Räumlichkeiten sind hell und einladend gestaltet, so befindet sich z. B. einer der Therapieräume in einem 35 qm großen Wintergarten. Da ein Großteil der Patienten halbseitig gelähmt ist, werden In­strumente genutzt, die problemlos mit einer Hand gespielt werden können. Neben dem Hauptinstrument „Stimme“ kommen Handchimes, Percussionsinstrumente wie Congas, Djemben, Yambús und das Orff-Instrumentarium zum Einsatz. Als wichtigstes Begleitinstrument dient das Klavier, das von der Therapeutin gespielt wird.

Mit welchem Anliegen, Leiden oder Krankheiten können sich Menschen an Sie wenden?
Das Angebot des Instituts richtet sich an erwachsene Betroffene mit zentralen Sprach- und Sprechstörungen (Aphasie, Sprechapraxie, Dysarthrie), verursacht vorrangig durch Schlaganfälle. Während die Aphasie die verschiedenen Komponenten des Sprachsystems betrifft und auch sprachabhängige Leistungen wie Lesen, Schreiben und Rechnen beeinträchtigen kann, handelt es sich bei der Sprechaphaxie um eine Störung der Programmierung von Sprechbewegungen. Bei der Dysarthrie hingegen handelt es sich um eine Störung der Sprechmotorik, die in der Regel auch die Sprechatmung, die Stimmgebung und die Artikulation betrifft. Diese drei Störungsbilder können auch in Kombination auftreten; daher ist eine detaillierte Diagnostik äußerst wichtig, um gezielt therapieren zu können. Weiterhin werden Betroffene behandelt, die an Stimm- und Sprechstörungen leiden, die durch andere neurologische Krankheitsbilder wie z. B. Morbus Parkinson, Multiple Sklerose oder Kleinhirnerkrankungen verursacht wurden.

Nach welchem Konzept arbeiten Sie? Was hilft in Ihrer Therapie?
Ich arbeite ausschließlich nach der von mir entwickelten und u. a in Zusammenarbeit mit der medizinischen Fakultät der Universität Witten-Herdecke erprobten Behandlungs-methode SIPARI®, deren Ziel darin besteht, sprachliche und sprechmotorische Leistungen der Betroffenen messbar zu verbessern. In regelmäßigen Abständen werden daher von externen Fachleuten (Linguisten, Logopäden) Leistungs-/Qualitätskontrollen anhand standardisierter Tests durchgeführt. Bezüglich der Frage, was in der Therapie hilft, gibt unsere aktuelle Forschungsstudie mit chronisch kranken, schwer betroffenen Aphasikern Aufschluss, bei der wir neuronale und kognitive Untersuchungsverfahren kombiniert haben. Sie hat gezeigt, dass es durch diese Therapie zu einer Aktivierungsübernahme durch sprachverwandte Bereiche rund um die Schädigung in der linken Gehirnhälfte kommt, die mit signifikanten Verbesserungen der sprachlichen Fähigkeiten einhergeht (nachgewiesen anhand des Aachener Aphasie Tests).

Wie klingt die Musik, die Sie mit Patientinnen machen oder die Sie ihnen vorspielen?
Die Bandbreite reicht von Vokalisen mit unterschiedlichsten Formen der Stimmgebung bis hin zu rhythmisch komplexen Laut-/Wort-/Satzstrukturen, die teilweise wie Rap klingen. Die Improvisationen erinnern an sprachliche Kommunikationssituationen: es gibt Monologe, Dialoge, Diskussionen. Sowohl in der Einzel- als auch in der Gruppenimprovisation besteht ein ausgeprägtes Bedürfnis nach harmonischem Spiel, es soll „schön“ klingen! Die Kombination aus medizinischer Forschung und praxisnaher Umsetzung in spezifische musiktherapeutische Interventionen machen die Thematik „Aphasie, Sprechapraxie etc.“ zu einer Herausforderung. Aber gerade das ist ja das Spannende an dieser Arbeit!

An welche besonders schwierige, lustige oder glückliche Situation können Sie sich erinnern?
Als besonders glückliche Situationen habe ich die Szenen in Erinnerung, als ich meinen Studienteilnehmern, die zwei Jahre nach dem Ereignis zu mir kamen und sechs Monate von mir therapiert wurden, die Auswertung der Ergebnisse der funktionellen Magnetresonanztomographie zeigen konnte. Während vor der Therapie ausschließlich Hirn­areale in der rechten Hirnhälfte aktiv waren, zeigte die abschließende Messung, dass die Aktivierung sich in die linke Hirnhälfte verlagert hatte, und zwar in Bereiche rund um die Schädigung. Diese Aktivierungsübernahme ging einher mit messbaren, aber für die Betroffenen und ihre Angehörigen auch deutlich hörbaren Verbesserungen der sprachlichen Leistungen mit den entsprechenden Auswirkungen auf die Lebensqualität.

Welche Ideen im Bereich der Musiktherapie würden Sie gern verwirklichen, wenn Sie ausreichend Zeit und Mittel hätten?
Abgesehen von einer weiteren randomisierten und kontrollierten Therapiestudie, die jetzt auch Betroffene mit zusätzlicher Sprechapraxie einschließt, wäre mir sehr daran gelegen, in Kooperation mit erfahrenen Neurolinguisten ein Screening für eine Spontansprachenbewertung dieser Patienten zu entwickeln, in dem auch detailliert prosodische bzw. musikalische Fähigkeiten beurteilt werden. Hierdurch könnten zusätzliche diagnostische Erkenntnisse gewonnen werden, die speziell für diese Betroffenen im Hinblick auf eine gezielte Therapie äußerst wertvoll wären.
Beides ist in Arbeit!

 

Die Autorin:

Dr. rer. medic. Monika Jungblut
Institut für Interdisziplinäre
Musik- und Sprachtherapie
Am Lipkamp 14
47269 Duisburg
Tel. 0203-711319
www.sipari.de

Staatliche Musiklehrerprüfung sowie Konzertdiplom im Hauptfach Gesang. Diplom-Musiktherapeutin (Hochschule für Musik und Theater Hamburg). Heilerlaubnis für Psychotherapie (HPG).
Promotion an der medizinischen Fakultät der Universität Witten-Herdecke. Langjährige künstlerische Tätigkeit als Opern- und Konzertsängerin sowie pädagogische Tätigkeit an Universitäten und Hochschulen. Entwicklung der Behandlungsmethode SIPARI®, der einzigen musiktherapeutischen Behandlungsmethode zur Verbesserung sprachlicher Fähigkeiten bei Patienten mit chronischer Aphasie, die evidenzbasiert ist. Forschungsstudien mit bildgebenden Verfahren (fMRT) u. a. zum Thema „Einfluss des rhythmischen Singtrainings nach der Methode SIPARI® auf die sprachlichen Leistungen und die damit verbundene Reorganisation bei Patienten mit chronischer Aphasie und Sprechapraxie“ in Kooperation mit dem Universitätsklinikum Aachen (Prof. Huber) und dem Interdisziplinären Zentrum für Klinische Forschung am Universitätsklinikum Aachen. Nationale und internationale Publikationen, Vorträge und Präsentationen (u. a. bei Jahrestagungen der Organization for Human Brain Mapping 2009, 2010 und 2013) Associate Editor der Zeitschrift „Restorative Neurology and Neuroscience“.

Schwerpunktthema

Zwischen Vater- und Mutterland

Von Nicola Nawe

 

„Mama und Papa gehen auseinander, das kann ich nicht verstehen!“ (Gray, 2009). So heißt es in dem Kinderbuch „Der Elternkleber“, aus dem die Musiktherapeutin heute in der dritten Gruppensitzung vorliest. Anna, Balduin, Chris, Denny und Emma (7–9 Jahre alt) schauen hochkonzentriert auf die Buchseite. Hier sitzt ein Junge im Wohnzimmer. Alle Möbel sind durch einen blitzförmigen Riss zerteilt, der sich auch durch das Kind selbst zieht. Schon überschlagen sich die Erzählungen der Kinder in der Musiktherapiegruppe. Alle wollen berichten, wie es damals war, als sich ihre Eltern trennten. Der Junge in dem Buch wünscht sich, dass die Eltern zusammenbleiben und er beschließt, sie einfach wieder zusammenzukleben. Nach und nach kann er begreifen, dass dies nicht gelingen wird. Den nachvollziehbaren Wunsch nach Wiedervereinigung der Eltern teilen auch die Gruppenteilnehmer und sie werden noch einige Zeit brauchen, um die Realität zu akzeptieren. Diese Gruppe ist noch am Anfang ihres Weges. Es handelt sich um eine geschlossene Musiktherapiegruppe im Kurzzeitsetting mit 25 Sitzungen (vgl. Nawe 2010, 143ff). Die Musiktherapeutin will heute zunächst Folgendes anbieten: „Deine Trauer, deine Bestürzung und auch deine Wut haben in dieser Gruppe ihren Platz, sollen aufgefangen werden und können sich vielleicht mit der Zeit auch wandeln. Die Musik wird uns dabei helfen und du kannst dazu beitragen!“ Nach dem Anschauen des Buches beginnen die Musiktherapeutin und die Kinder, den Riss buchstäblich „aufzubauen“ und ihn durch Klang zum Sprechen zu bringen. Es entsteht eine lange Instrumentenreihe durch den Raum. Hier sitzen und explorieren die Kinder, wie diese Trennlinie in der Mitte klingt. Sie wird nun zu einem Raum, den die Kinder gestalten können. Ihre Gefühle in Bezug auf den Bruch bekommen einen symbolischen Ausdruck, werden hörbar und können mit anderen im gemeinsamen Klangereignis geteilt werden. Von dieser Instrumentenlinie in der Mitte beobachten sie auch die beiden Seiten rechts und links. Denny hat die Idee: „Rechts ist das Mama-Land und links das Papa-Land“. Auch diese Länder erhalten Klang und Gestalt. Die Kinder können sich zwischen den Ländern frei bewegen, hin und her gehen, mal verweilen, dann wieder schnell aufbrechen. Das entspricht äußerlich ihrer Lebenssituation mit zwei Lebensmittelpunkten bei ihren getrennt lebenden Eltern. Im neutralen Musiktherapiesetting wird es möglich, das „Dazwischen“ weitgehend ohne Loyalitätskonflikte auszuprobieren und einen anderen, inneren Raum dabei zu entdecken. Bei dieser szenisch-musikalischen Erarbeitung geht es symbolisch darum, die Verbindungen zu Vater und Mutter in sich weiterzutragen und zu einer eigenen Identität zu verbinden – auch wenn es auf der äußeren Ebene zu einer Unterbrechung in dieser Elternbeziehung kam. Dies ist für alle Trennungskinder ein sehr wichtiger, oft langjähriger Prozess.
Die fünf Kinder der Gruppe gestalten die Instrumentenreihe und die Eltern-Länder sehr lebhaft und energisch. Unter dieser hohen Aktivität liegt auch etwas anderes versteckt, das im Moment vielleicht noch zu weh tut: die Frage nach dem Grund für die Trennung ihrer Eltern. Schon im ersten Satz des „Elternklebers“ heißt es: „Ich kann es nicht verstehen“. Sehr viele Trennungskinder erleben die Trennung als etwas Unverständliches. Einige erhalten einfühlsame und kindgemäße Erklärungen von ihren Eltern und können sie dennoch nicht recht glauben. Sie suchen weiter nach Gründen und kommen oft zu dem Schluss, dass sie selbst mit schuld sind am Auseinandergehen der Familie (vgl. Figdor 2012, 36). Die 9-jährige Emma formuliert das in einem späteren Therapieabschnitt so: „Wenn die Eltern ein Baby bekommen und sich danach immer streiten, dann ist doch das Baby schuld, oder?“ Dafür erhält sie zunächst viel Zustimmung aus der Gruppe, denn Anna, Balduin, Chris, Denny und Emma sind Kinder, die mit sehr starken Schuldgefühlen beschäftigt sind. Diese Schuldgefühle erschweren es, die Trennung zu integrieren und die notwendige Trauer zuzulassen. Hierbei brauchen sie therapeutische Unterstützung. Emma und andere Kinder ihres Alters sind auch noch nicht ausreichend in der Lage, die Dinge aus der Distanz zu betrachten. Immer noch sehen sie sich im Zentrum des Geschehens und somit auch im Zentrum der Trennung. Denny will sogar wissen: „Wenn ich besser geschlichtet hätte, wären sie dann noch zusammen?“ In den speziellen Trennungsgruppen muss die Musiktherapeutin als neutrale Person immer wieder betonen: „Nein, das kann und muss ein Kind nicht leisten.“ Viel wichtiger und tiefgreifender als diese sprachlichen Markierungen sind jedoch die musikalischen Möglichkeiten, mit denen die Kinder wieder einen konstruktiven Zugang zum eigenen Handeln finden können. Ein Vorschlag der Therapeutin lautet z. B.: „Lasst uns eine musikalische Spielregel erfinden, die für die ganze Gruppe gilt!“ Die Kinder entwerfen nun eine Reihenfolge: Wer fängt an, welche Instrumente werden miteinander kombiniert, wie wird die Schlusswirkung gemeinsamen erzeugt? Dann probieren alle die erfundene Gruppenspielregel aus. Verbesserungsvorschläge kommen von Denny und Emma, dann wird erneut gemeinsam gespielt. In diesem Prozess entfaltet sich für alle eine zu den Schuldgefühlen alternative Erfahrung. Sie lautet: „Mein Beitrag, mein Handeln führt in dieser Gruppe zu einem wachsenden, konstruktiven Miteinander. Ich kann Einfluss nehmen, ohne zerstörerisch zu sein – so wie ich es ‚vermeintlich‘ in Bezug auf meine Familie war.“ Diese modulierte Erfahrung der eigenen Urheberschaft unterstützt die Kinder, ihr eigenes Handeln wieder als stärkend zu entdecken. Sie können die Erfahrung verankern, dass sie zum Gelingen einer Gruppe beitragen können. Das ist eine immens wichtige Neuerfahrung in Bezug auf spätere eigene Gruppen- und Familienbeziehungen.

Wir sehen uns vor Gericht!
Szenenwechsel: Ralf, Sanja, Timo, Umut und Victor befinden sich an der Schwelle zur Vorpubertät (10–11 Jahre) und können sich somit bereits besser vorstellen, was eine Trennung bedeutet. In dieser Gruppe „fliegen die Fetzen“. Die Musiktherapeutin macht einen Vorschlag nach dem anderen, von denen keiner angenommen wird. Niemand will über die Trennung sprechen. Niemand will überhaupt irgendetwas sagen. Und Musik ist sowieso blöd. Stattdessen „erzählen“ die Kinder auf eine ganz unmittelbare Weise von ihren Erfahrungen. Sobald ein musikalisches Duo entsteht, entwickelt es sich zu einem „Battle“. Konflikte werden nicht ausgetragen, sondern durch Hinauslaufen abgehakt. Es wüten gegenseitige Drohungen: „Wir sehen uns vor Gericht!“ oder „Ich schicke dir das Jugendamt nach Hause!“ Dann wiederum „kleben“ jeweils zwei Kinder aneinander und wecken den Neid der anderen. Und die innere Resonanz der Therapeutin in diesem Geschehen signalisiert beständig: „Alles tut weh!“ und „Zu gerne würde ich mal auf den Tisch hauen, um dem Ganzen ein Ende zu setzen.“
Die Kinder in dieser Gruppe haben eine Gemeinsamkeit. Sie alle kommen aus sogenannten „hochstrittigen“ Trennungsfamilien, d. h. alle hatten Kontakt mit Familiengericht und Gutachtern im zähen und langwierigen Streit der Eltern um das Sorge- und Umgangsrecht. Nicht selten war die Familiengeschichte von viel Gewalt begleitet. Vor allem aber können die Kinder in dieser Gruppe die Erfahrung nicht machen, dass die Trennung Entlastung bringt. Im Gegenteil, für einige verschlechtert sich die Situation hinterher dramatisch. Die oben beschriebenen Szenen sind Eins-zu-Eins-Abbildungen der Realität dieser Kinder. Ihre konflikthaften Erfahrungen können noch nicht verdaut werden, sondern zeigen sich hautnah im Gruppengeschehen und in der Resonanz der Therapeutin. Darin liegt auch die dringliche Anfrage der Kinder, ob dieses Setting mit dieser neuen Gruppe unzerstört aus den Streitigkeiten hervorgehen kann. Vordergründung wird jedoch von den Kindern zunächst „alles getan“, damit diese Anfrage nicht in Erfüllung geht. Hier ist ein modifiziertes musiktherapeutisches Arbeiten angezeigt, welches auch traumatherapeutische Aspekte integriert. Die Therapeutin ist immer wieder aufgefordert, stellvertretend für die Kinder zu verbalisieren: „Ich sehe, wie schmerzhaft es für euch war. Ich kann es nachfühlen, wie unübersichtlich und verwirrend alles ist. Ihr zeigt mir, wie hilflos und wütend ihr euch dabei fühlt. Und ich verstehe euren Wunsch, jemand möge ein Machtwort sprechen!“ In dieser aufgewühlten Affektlage sind zunächst einfache Regulationsspiele hilfreich, z. B. gemeinsam ein langes Crescendo gestalten und zum leisen Ausgangspunkt zurückkehren. Damit entsteht eine erste Ahnung, dass überwältigende Affekte gesteuert werden können. Eine besondere Situation in den hochstrittigen Trennungsfamilien ist auch diese: Die Kinder geraten mit ihrer eigenen Bedürftigkeit vollständig aus dem Blick, werden stattdessen zum Spielball im Konflikt der Eltern. Bildlich gesprochen entsteht folgende Situation: Die Triade aus Mutter, Vater und Kind zerfällt zur Zweidimensionalität einer Linie, die zwischen den verfeindeten Elternteilen besteht und mitten durch die Kinder hindurch verläuft. Ihnen steht kein eigener „dritter“ Raum zur Verfügung – innerlich wie äußerlich. Verständlich ist, dass in einer solchen Situation das Spielen schwerfällt. Die Kinder fühlen sich in der Gruppe zunächst entlastet, nacheinander in kleinen Solo-Runden zu spielen. Ungestört und ohne Einfluss (besser: Manipulation) von außen. Um jedoch in Beziehung neue Erfahrungen zu machen, braucht es das gemeinsame Spiel. In der vierten Stunde ereignet sich dann eine Wendung aus der Gruppe selbst. Umut, der vorher stets hinausgelaufen war, zieht zufällig eine Zauberer-Handpuppe aus einem Korb: „Das ist mein Beschützer!“ Auch für alle anderen ist schnell ein solcher gefunden. Hier wird sichtbar, wie groß das Bedürfnis nach einer kindlichen Position ist. Nun beginnt ein szenisches Spiel, in dem jeder für sich und mit seinem Beschützer einen musikalischen „sicheren Ort“ aufbaut. Die ser Ort erhält eine eigens entworfene Erkennungsmelodie: „So klingt mein Raum!“ Sehr berührend ist Victors Äußerung: „Mein Ton ist die Stille!“ Doch auch dieser Prozess ist mühsam. Die Grenzen der jeweils eigenen „Musik-Orte“ sind diffus, löchrig, verlaufen über- und ineinander (Abb. 1) oder markieren eher Enge und Eingrenzung. Doch jetzt hat die Gruppe eine Richtung. Die Therapeutin hilft dabei, einen neutralen Raum zwischen den einzelnen Musik-Orten zu errichten und auf die Klarheit des jeweils eigenen Bereiches zu achten. Dies gelingt nach einigen Stunden schon besser (Abb. 2). Auch das ist symbolisches Arbeiten am äußeren und inneren Raum, jedoch auf ganz andere Weise als in der ersten Gruppe. Dieser eigene Musik-Ort unterstützt die Kinder auf der elementaren Ebene ihres Kern-Selbst und der Unversehrtheit ihrer eigenen (Körper-)Grenzen. Als alle in der siebten Stunde wieder in ihrem Musik-Ort sitzen, taucht etwas Neues auf: Es wird erstmals wirklich gespielt! Sanja kocht ein „musikalisches“ Menü und lädt Gäste dazu ein. Ralf beginnt mit einem berührenden Geigensolo, bei dem alle aufhorchen. Timo läuft in den neutralen Raum und beginnt, sich mit der Flöte auf Ralfs Geigenspiel abzustimmen. Es entsteht eine Spielphase, die nicht auf zerstörerischem Kampf, sondern auf Wechselseitigkeit beruht. Victor kommentiert das Neue so: „Ich mag keine klassische Musik!“ Das ist natürlich sein gutes Recht. Er bestätigt damit jedoch geradezu, dass etwas Neues, deutlich Hörbares entstanden ist: Eine musikalische Abstimmung, eine zusammenhängende Form. Etwas Drittes ist aufgetaucht. Dieses zarte Neue wird jetzt auf eine harte Probe gestellt. Es steht die Weihnachtszeit an, die für Kinder aus hochstrittigen Trennungsfamilien häufig sehr belastend ist. Ob die bisherigen Erfahrungen der Gruppe der Realität schon gewachsen sind, wird sich zeigen. Es ist jedoch etwas entstanden, auf das die Gruppe zurückgreifen und an das sie wieder anknüpfen kann, wenn es mal wieder hoch hergehen sollte.

Wo ist der Held?
Ein kurzer Blick in die Einzeltherapie mit dem dreizehnjährigen Jimmy, der seinen Vater nie kennengelernt hat. Als kleines und größer werdendes Kind konnte Jimmy nicht zwischen Mama und Papa hin- und herlaufen, wenn er mal wütend auf die eine oder enttäuscht über den anderen war. Für ihn gab es keinen Zwischenraum, von dem aus er z. B. erkennen konnte, dass Mama manchmal „ziemlich doof“, aber insgesamt eigentlich doch ganz in Ordnung ist (vgl. Dammasch 2004). Er hat sich ein sehr idealisiertes Bild von einem Vater-Helden erschaffen, das nie bedroht wurde durch tägliche Reibereien oder auch größere Konflikte. Mit diesem Vaterbild hat Jimmy sich bislang identifiziert und beschreibt auch sich selbst als grandios, allmächtig und einzigartig. Im Gegenzug dazu konzentriert sich alles Schlechte der Welt auf seine Mutter, „die strengste Mutter der Welt“. Jetzt, am Beginn der Pubertät, kommt er mit dieser Aufteilung zwischen grandiosem Vater und entwerteter Mutter in große innere Not, denn er muss sich langsam innerlich von der Mutter ablösen und trotzdem ein verlässliches, positives Bild von ihr in sich bewahren. Neben vielen anderen Themen geht es in der Musiktherapie auch um die Erfahrung, dass Zuneigung und Abgrenzungswut in der Beziehung zu ein und derselben Person Platz haben können. Jimmy muss schmerzhaft realisieren, dass er nicht nur seinem vermeintlich makellosen Vater nacheifern kann, sondern dass in Jimmy selbst Stärken und Schwächen vorhanden sind. Anfangs wird er sehr wütend, wenn er feststellt, dass auch die Musiktherapeutin begrenzt ist, dass sie z. B. seine Songs und Lieblingsfilmmusik nicht sofort perfekt auf dem Klavier spielen kann, ohne diese je gehört zu haben. Gemeinsam arbeiten sich beide durch die Enttäuschung hindurch, dass kein Mensch dieser Welt unfehlbar ist: auch nicht Jimmys Vater. Seine Wut, Enttäuschung und Sehnsucht finden Platz in der musikalischen Abstimmung der freien Improvisation. Dann geht es darum, Jimmy immer wieder die Erlaubnis zu geben, sich von der Musiktherapeutin abgrenzen zu dürfen, ohne sie vollständig entwerten zu müssen: durch eine Sitzordnung mit viel Entfernung zwischen beiden, durch Jimmys regelmäßige Bekundungen, er wolle hier gar nicht sein und ob heute nicht eher Schluss sein könne. Manchmal wird die Therapeutin zwar ärgerlich über Jimmys permanentes „Auf-die-Uhr-Schauen“, versteht dies aber auch als Notwendigkeit für Jimmy, sich von ihr zu unterscheiden. Sie lässt sich in ihrer inneren zugewandten Haltung nicht beirren. Eine metaphorische Szene entsteht eher zufällig, als Jimmy eine Handvoll Schlagzeug-Sticks gegen den Gong schleudert. Hier treffen Aggressives und Angriffslustiges auf Stabilität und Halt, und zwar deutlich hörbar. Der unzerstörbare Gong fängt Jimmys Wünsche nach Krafterprobung auf – wohlwollend betrachtet von der Musiktherapeutin, die etwas abseits sitzt, innerlich aber mittendrin ist. Ein nächster Schritt sind Jimmys Lieder, die er nachspielt oder spontan erfindet. Er hält aggressive Text- und Melodiefetzen („Die Welt ist Scheiße“) und sehnsuchtsvolle Songs („Love love me do“) anfangs deutlich auseinander. Nach einiger Zeit entstehen Texte, die Ambivalenz zulassen können, z. B.: „Wieso singe ich, obwohl ich gar nicht singen kann? Ich hasse Musik, aber wieso kann ich gut singen? Ich weiß es nicht! Im Singen bin ich gut, im Singen von deutschen Texten, aber nicht von englischen…“ Jimmy, der es nicht kennt, von zwei Eltern betrachtet zu werden, entwickelt langsam einen inneren Raum, sich selbst aus unterschiedlichen Perspektiven anzuschauen.

Was immer bleibt…
Kontinuität ist ein Thema, das Trennungskinder beschäftigt. „Wie wird es nach der Trennung weitergehen?“ „Werde ich noch derselbe sein?“ Es ist eine große Herausforderung, den Bruch in der Familiengeschichte in eine kohärente Lebensgeschichte zu integrieren. Dafür kann es mehr oder weniger geglückte Lösungen geben. Zum Abschluss folgt jetzt ein Lieblingsspiel aus Einzel- und Gruppentherapie, das den Aspekt der Kontinuität unterstützt. In der Mitte des Raumes steht die größte Doum-Doum-Trommel. Alle einigen sich auf einen leicht eingängigen Rhythmus. Dieser Rhythmus wird über eine festgelegte Zeit ununterbrochen erklingen. Die Gruppenteilnehmer wechseln sich gegenseitig ab, diesen Rhythmus auf der Doum-Doum zu spielen, geben sich die Schlegel gegenseitig weiter. In der Einzeltherapie wechselt dieser Basisrhythmus zwischen Therapeutin und Klient. Während der Rhythmus nun von wechselnden Personen kontinuierlich gespielt wird, dürfen alle anderen im Raum eigene Klangwege gehen. Sie können ihr Lieblingsinstrument wählen, Fremdes ausprobieren, sich zu Duos oder Trios zusammenfinden. Im Hintergrund läuft dabei die ganze Zeit der verlässliche Rhythmus auf der großen Trommel. Dieses musikalische Miteinander verbindet die menschliche Notwendigkeit zur Veränderung mit dem ebenso menschlichen Wunsch nach Halt und Kontinuität. Ein Spannungsfeld, für das Trennungs- und Scheidungskinder vielleicht besondere Experten sind…

 

Die Autorin:

Nicola Nawe
Dipl.-Musiktherapeutin (DMTG), Sonderpädagogin, Heilpraktikern (Psychotherapie), Dozentin. Forschungsschwerpunkte: Musiktherapie mit Trennungskindern, Gruppenmusiktherapie.

Literatur

  • Dammasch, F. (2004): Die innere Erlebniswelt von Kindern alleinerziehender Mütter. Frankfurt: Brandes & Apsel.
  • Figdor, H. (2012): Kinder aus geschiedenen Ehen: Zwischen Trauma und Hoffnung. Wie Kinder und Eltern die Trennung erleben. Gießen: Psychosozial-Verlag.
  • Grey, K. (2009): Elternkleber. Hamburg: edelkids.
  • Nawe, N. (2010): Musiktherapie mit Trennungskindern. Triangulierungsprozesse in der Einzel- und Gruppentherapie. Wiesbaden: Reichert Verlag.

Schwerpunktthema II

Wenn Eltern sich trennen – Chancen und Risiken für die Kinder

Von Thomas Stegemann und Georg Romer

 

Fallvignette
Schon bevor L. geboren wurde, war die Beziehung seiner Eltern sehr brüchig und nach der Geburt ihres ersten Kindes stritten sich der 19-jährige Vater und die noch minderjährige Mutter ständig. Wegen der Beziehung zu einer anderen Frau – Hauptgrund der Streitigkeiten – verließ der Vater schließlich die junge Familie. Die Mutter, plötzlich auf sich allein gestellt, brachte L. bei ihrer Mutter unter, die vorerst zu seiner Hauptbezugsperson werden sollte. Auch der Bruder seines Vaters kümmerte sich um L., was jedoch dazu führte, dass L. zwischen dem Haushalt seiner Großmutter und dem seines Onkels hin und her gereicht wurde. Zum Vater bestand kaum Kontakt; auch die Mutter, die mutmaßlich als Prostituierte „anschaffen ging“, war die meiste Zeit nicht für L. präsent. Obwohl sich die Eltern, als L. 2 Jahre alt war, wieder versöhnten und auch ein zweites Kind bekamen, blieb L. zunächst bei seiner Großmutter wohnen. Erst als sich die Eltern erneut trennten – L. war inzwischen 5 Jahre alt – und die Mutter ernsthaft erkrankte, kehrte L. zu ihr und seiner Schwester zurück. Ohne die Fürsorge und die Struktur, die ihm seine Großmutter hatte bieten können, und unter den negativen Einflüssen der neuen sozialen Umgebung entwickelte L. eine Störung des Sozialverhaltens mit oppositionellem, aufsässigem Verhalten. Als L. im Alter von 12 Jahren zu Silvester mit einer Handfeuerwaffe, die er einem seiner „Stiefväter“ entwendet hatte, auf der Straße in die Luft schoss, wurde er durch die Polizei der Jugendhilfe zugeführt. L. wurde daraufhin im Rahmen eines neuen sozialen Projektes fremduntergebracht. Musik spielte in der Institution eine große Rolle und so bekam L., der unbedingt in der hauseigenen Band mitspielen wollte, seinen ersten Trompetenunterricht. Dieses Ereignis veränderte sein ganzes Leben und sollte der Beginn einer unvergleichlichen Karriere sein: 20 Jahre später schrieb der mittlerweile berühmt gewordene L. an den Direktor des Heimes: „Ich werde nie die Menschen vergessen, die alles für mich getan haben. Obwohl ich aus dem Waif’s Home fort bin, habe ich das Gefühl, ganz in der Nähe zu sein. Ich habe nie anders empfunden… Bin immer stolz, der Welt von dort zu erzählen, wo mein Weg als erstklassiger Musiker begann.“ (Bergreen, 2000, S. 102).
Unterschrieben war der Brief mit „Louis Armstrong“.

Sicherlich ist die Geschichte des kleinen Louis Armstrongs nicht die des „typischen“ Trennungskindes, aber sie zeigt eindrücklich, wie der Lebensweg eines Menschen trotz (oder vielleicht auch wegen) der Trennung der Eltern, bzw. seiner Trennung vom Vater und zeitweise von beiden Elternteilen, eine positive Entwicklung nehmen kann. Dieser Artikel fokussiert daher – neben den bekannten ungünstigen Auswirkungen von Trennung und Scheidung auf die betroffenen Kinder – insbesondere auf die Chancen und positiven Aspekte, die sich für die (neue) Familie und die Persönlichkeitsentwicklung der Kinder und Jugendlichen ergeben können.

Statistisches
Im Jahr 2012 wurden in Deutschland 179.147 Ehen geschieden (statista.com). Damit liegt die Scheidungsquote, die seit 2005 leicht rückläufig ist, aktuell bei 46,23 %, d. h., fast jede zweite Ehe wird geschieden (im Vergleich: die Scheidungsquote 1960 lag bei 10,66 %). In der Hälfte der Scheidungsfälle sind Kinder betroffen; im Jahr 2012 ca. 143.000 minderjährige Kinder (destatis.de). Nach den im Rahmen des Kinder- und Jugendgesundheitssurveys (KiGGS) erhobenen repräsentativen Daten lebten 85,9 % der befragten Kinder und Jugendlichen in einer vollständigen Familie (Erhart et al., 2007). Aktuelleren Zahlen zufolge ist die Anzahl der Alleinerziehenden von 1996 bis 2010 von 1,3 auf 1,6 Mio. angestiegen, während die Gesamtzahl der Familien mit minderjährigen Kindern in der gleichen Zeitspanne von 9,4 auf 8,2 Mio. gesunken ist (Statistisches Bundesamt, zitiert nach Monitor Familienforschung, 2012). Das bedeutet, dass knapp 20 % der Familien mit minderjährigen Kindern von Alleinerziehenden geführt werden, in neun von zehn Fällen von der Mutter. Nach wie vor stellt die Ein-Eltern-Familienkonstellation ein Armutsrisiko dar: Vollständige Familien weisen in 23,6 % einen niedrigen sozioökonomischen Status auf, während es bei den unvollständigen mit 51,2 % über die Hälfte sind (Erhart et al.,2007).

Trennung/Scheidung:
Ursachen und Verlauf
Die Auflösung einer Paarbeziehung ist in den seltensten Fällen ein „spontaner“ Entschluss, sondern in der Regel die Konsequenz eines länger andauernden Prozesses von Entfremdung und Distanzierung der Partner. Durchschnittlich erfolgte 2012 eine Scheidung nach 14 Jahren und 7 Monaten Ehedauer (destatis.de). Zartler und Werneck (2004) betonen den Funktions- und Bedeutungswandel von Ehe bzw. Partnerschaften, der sich im vergangenen Jahrhundert vollzogen hat: Die „Wirtschafts- und Arbeitsgemeinschaft“ ist zugunsten einer „Partnerbeziehung (…), welche die Erfüllung persönlicher Glückserwartung verspricht“ (S. 59) in den Hintergrund getreten. Verbunden damit haben sich auch die gegenseitigen Erwartungen der Partner deutlich verändert (dies gilt beispielsweise für die Aufgabenverteilung im gemeinsamen Haushalt). Die fehlende Kongruenz dieser Erwartungen und Ansprüche – insbesondere bei mangelnden Kommunikations- und Konfliktlösekompetenzen – kann als wesentlicher Faktor für einen negativen Beziehungsverlauf angesehen werden.

Kraul et al. (2008) unterscheiden drei Phasen der Scheidung:
1.    Ambivalenzphase: Unsicherheit und Unentschlossenheit
2.    Scheidungsphase: Verstärkung der aggressiven Konflikte
3.    Nachscheidungsphase: von der juristischen zur psychischen Scheidung

Aus Sicht der Kinder hängt die gelingende Verarbeitung der Scheidung in erster Linie vom „Konfliktniveau der Eltern, der sozialen Unterstützung durch geeignete AnsprechpartnerInnen (v. a. Geschwister und Großeltern) und ihrem Informationsstand über die elterliche Trennung“ ab (Zartler & Werneck, 2004, S. 105). Weil Zeitpunkt und Art der Information der Kinder von großer Relevanz sind, schlägt Figdor (2012) vor, „die Information der Kinder von der stattgefundenen oder bevorstehenden Scheidung, also die Mitteilung über die unwiderrufliche Trennung der Eltern, als ‚psychologischen Scheidungszeitpunkt‘ zu definieren“ (S. 28f.).
Dieser „psychologische Scheidungszeitpunkt“ stellt für Kinder einen radikalen Einschnitt in ihr Leben und in ihr Lebenskonzept dar. Sie erleben – häufig zum ersten Mal – den „Verlust“ eines nahestehenden Menschen (denn der scheidende Elternteil verlässt nicht nur den Partner, sondern auch die Kinder) und sie müssen registrieren, dass „Liebe“ endlich sein kann: Beides löst Angst aus. „Diese Angst, die viele Kinder auch ganz bewußt erleben, leitet sich in erster Linie von der – schockierenden – Erfahrung über die Vergänglichkeit der Liebe her. ‚Mama und Papa verstehen sich nicht, haben viel gestritten und lieben sich nicht mehr wie früher…‘ – so oder ähnlich erklären die meisten Eltern ihren Kindern den Grund für die Scheidung. Nichts liegt näher, als daß sich das Kind sagt: ‚Wenn die Mama den Papa nicht mehr liebhat und ihn verläßt/wegschickt, wer weiß, ob sie mich morgen, übermorgen vielleicht ebenso nicht mehr mag und auch von mir fortgeht oder mich wegschickt?‘“ (Figdor, 2012, S. 38). Neben der Angst sind es vor allem auch Schuldgefühle, die die betroffenen Kinder quälen. „Die Entwicklung von Gefühlen, an der Scheidung der Eltern schuld zu sein, ist in der Tat eher die Regel als die Ausnahme (…)“ (Figdor, 2012, S. 37). Zu den weiteren typischen Reaktionen/Symptomen von Kindern während der Scheidung gehören: Trauer, Wut/Aggressionen, Verleugnung/Affektisolierung, regressive Tendenzen, Antriebslosigkeit, Schulprobleme, Pseudo-Autonomie („Notreifung“). Generell lässt sich sagen, dass im ersten Jahr nach der „psychologischen Trennung“ praktisch alle der oben aufgeführten „Symptome“ auftreten können, ohne dass es eine Aussagekraft für die weitere Entwicklung hätte. Bedenklich ist es eher, wenn keine Reaktionen/Symptome zu beobachten sind. Aus „Rücksicht“ auf die belasteten Eltern (oder einen Elternteil) bzw. aus der bewussten oder unbewussten Angst heraus, auch verlassen zu werden, verhalten sich nicht wenige Kinder besonders angepasst und „kompetent“, um Konflikte in der Familie zu vermeiden. In der Hoffnung, ihre Eltern wieder zusammenbringen zu können, betätigen sich viele Kinder auch als „Mediatoren“ oder „Streitschlichter“, wodurch die Gefahr für die Kinder, in eine Loyalitätsfalle zu geraten, besonders hoch ist. Mit den Worten Figdors besteht die „wichtigste und zugleich schwierigste Aufgabe, die sich Eltern in dieser schwierigen Zeit nach der Scheidung (bzw. Scheidungsinformation) stellt, (…) darin, die Schuld am Leid der Kinder mit gutem Gewissen auf sich zu nehmen“ (2012, S. 50).

Die Perspektiven der Kinder
Die US-amerikanische Psychologin E. Mavis Hetherington hat die Ergebnisse aus drei Langzeitstudien zu Scheidungsfolgen, in welche die Befragungen von über 2.500 Kindern und annähernd 1.400 Familien eingingen, in einem viel beachteten Buch zusammengefasst (Hetherington & Kelly, 2003). Auf der Grundlage von Verläufen, die z. T. bis zu 30 Jahre umfassen, räumt Hetherington mit einigen gängigen Mythen auf: Dazu gehört beispielsweise die Annahme, dass „Kinder immer die Leidtragenden einer Scheidung“ sind. Die Untersuchungen haben gezeigt, dass in den ersten zwei Trennungsjahren die meisten Kinder emotionale, soziale und Verhaltensstörungen aufweisen. Zwei Jahre nach der Trennung kommen die meisten Jungen und Mädchen jedoch wieder ganz gut zurecht (S. 169). Auch wenn sechs Jahre nach der Trennung die Rate der Auffälligkeiten bei Kindern aus geschiedenen bzw. wiederverheirateten Familien doppelt so hoch ist wie bei Kindern aus vollständigen Familien, zeigen sich bei der Mehrzahl der Betroffenen keine negativen Auswirkungen mehr. Im Gegenteil: „Die Herausforderungen, die mit einer Scheidung und dem Leben mit nur einem Elternteil einhergehen, scheinen tatsächlich bei manchen Kindern die Fähigkeit zu stärken, zukünftige Belastungen besser zu bestehen“ (Hetherington & Kelly, 2003, S. 215).
Hetherington (Hetherington & Kelly, 2003) zieht aus ihrer Forschungstätigkeit folgende Schlussfolgerungen:

Lektion 1: Verschiedenheit
„Misstrauen Sie Durchschnittswerten.“ Hetherington betont in ihrem Fazit zu den Langzeitstudien, dass das Auffallende in ihren Untersuchungen nicht die „Vorhersehbarkeit oder Unvermeidlichkeit“ bestimmter Entwicklungen war, sondern vielmehr die große Heterogenität und Individualität von Beziehungsverläufen.

Lektion 2: Geschlechtsspezifische Unterschiede
Bei allen Ähnlichkeiten, die Männer und Frauen aufweisen, gilt es wichtige geschlechtsspezifische Unterschiede zu berücksichtigen, z. B. in der Art der Kommunikation, der Nähe-Distanz-Regulation oder der Art, mit Konflikten umzugehen. Bezogen auf die Kinder bedeutet dies beispielsweise, dass die Studien gezeigt haben, dass vorpubertäre Jungen mehr Schwierigkeiten im Zusammenleben mit einer alleinerziehenden Mutter haben; vorpubertäre Mädchen haben mehr Schwierigkeiten, sich mit einer Stieffamilie zu arrangieren (S. 216).

Lektion 3: Veränderung und Formbarkeit
„Eheliche Veränderungen bieten eine große Chance für persönliches Wachstum und Neuorientierung“ (S. 366). Hetherington spricht vom „Fenster der Veränderung“, das sich während der Krisenzeiten auftut und das „zum Guten oder zum Schlechten“ genutzt werden kann.

Lektion 4: Aktive Teilnahme
„Menschen sind keine passiven Spielbälle des Schicksals“. Hetherington findet in ihren Untersuchungen bestätigt, dass diejenigen, die in der Lage sind, aktiv auf die durch die Trennung veränderte Situation zu reagieren, eher zu den „Gewinnern“ der Scheidung gehören. „Diejenigen, die in Hilflosigkeit, Selbstmitleid und Inaktivität verharren, bleiben zurück“ (S. 367).

Lektion 5: Gegenwärtige Vergangenheit
„Viele Schwierigkeiten, die der Scheidung angelastet werden – bei Eltern z. B. Depressionen, antiso­ziales Verhalten, Mangel an persönlichen Beziehungen, die Unfähigkeit, Probleme zu lösen; bei Kindern mangelhafte Erziehung, emotionale und Verhaltensprobleme – sind in schlecht funktionierenden Familien häufig schon lange vor der Scheidung sichtbar“ (S. 367). Entscheidend ist also für den Verlauf nach einer Trennung, welche Ressourcen zur Verfügung stehen und ob die neue Familiensituation – mittelfristig – von weniger Stress und Belastungsfaktoren gekennzeichnet ist als vor der Trennung.

Lektion 6: Risiko- und Schutzfaktoren
„Scheidung und Zweitehe sind in der Regel stark belastende Übergangssituationen. Wie gut Erwachsene und Kinder diese Veränderungen meistern, hängt mit dem Gleichgewicht von Risiko- und Schutzfaktoren zusammen“ (S. 367f.).

Lektion 7: Biologie und Verhalten
„(…) die genetische Disposition beeinflusst in gewissem Umfang die Art, wie andere Menschen auf uns reagieren, die Stresssituationen, in die wir geraten, und die Unterstützung, die uns zugänglich ist, die Qualität unserer Intimbeziehungen und die Wahrscheinlichkeit, ob unsere Beziehung stabil und erfüllend oder kurzlebig, turbulent und unglücklich verläuft“ (S. 369). Obwohl es kein „Scheidungsgen“ gibt, spielen bestimmte Persönlichkeitsmerkmale (siehe Tab. 1 + 2) eine wichtige Rolle bei dem Aufbau und der Aufrechterhaltung von Beziehungen und erhöhen bzw. reduzieren die Wahrscheinlichkeit des Gelingens.
Lektion 8: Intimbeziehungen
„Enge, unterstützende Vertrauensbeziehungen – ob zwischen Eheleuten, Liebespaaren, Eltern und Kindern, Geschwistern oder zu Menschen außerhalb der Familie – spielen die wichtigste Rolle, um Menschen gegen stressbelastende Ereignisse zu schützen“ (S. 369). Diese Erkenntnis zeigt sich auch in der oben angeführten Fallvignette von Louis Armstrong, der von den positiven Beziehungserfahrungen zu seiner Großmutter und später zu seinem Trompetenlehrer profitieren konnte.

Lektion 9: Widerstandskraft
Die „Lehren“ zur Bedeutung der Widerstandskraft (heute würde man von „Resilienz“ sprechen) sind nach Hetherington die wichtigsten, die die Forscher aus den Scheidungsstudien ziehen konnten: „Scheidung und Wiederverheiratung werden anfangs sowohl von Kindern wie von Erwachsenen als seelisch überaus anstrengende Lebensveränderungen erlebt. Im Rückblick beschreiben viele Eltern und erwachsen gewordene Kinder die Scheidung als das schmerzvollste Ereignis ihres Lebens, doch sie sagen auch, dass sie sich in ihre neue Situation einfinden konnten und gegenwärtig ein vergleichweise erfülltes Leben führen. Etwa 70 bis 80 Prozent der Erwachsenen und Kinder zeigen nur wenige ernste nachhaltige Probleme bei dem Anpassungsprozess nach der Scheidung und ‚funktionieren‘ innerhalb der normalen Bandbreite. Viele, die anhaltende Probleme nach einer Scheidung hatten, zeigten diese auch bereits davor. Und eine beträchtliche Anzahl von geschiedenen Frauen und einige Töchter gingen tatsächlich gestärkt aus der Scheidung hervor, sie entwickelten neue Kompetenzen, um mit den drängenden Herausforderungen im Gefolge der Scheidung und des Lebens als allein Erziehende fertig zu werden“ (S. 370).

Zusammenfassung und Fazit
Die eingangs skizzierte Biografie des weltberühmten Jazzmusikers Louis Armstrong wurde als Beispiel dafür gewählt, wie trotz widrigster Umstände eine belastete Kindheitsbiografie von Kreativität, Selbstwirksamkeit und Erfolg geprägt werden kann, wenn protektive Ressourcen verfügbar sind. Dies ist nichts Neues. Dennoch sollten wir uns als professionelle TherapeutInnen immer wieder auf’s Neue darin schulen und üben, biografische Risikobelastungen wie die Trennung und Scheidung der Eltern während der Kindheit nicht zu deterministisch zu verstehen oder gar als spezifisch in ihren Auswirkungen auf eine gesunde seelische Entwicklung anzusehen. Die ausführlich dargestellten Befunde der weltweit bislang umfangreichsten Langzeitfolgeuntersuchung von Scheidungsfamilien von Hetherington und KollegInnen in den USA illustrieren anhand naturalistischer Verlaufsdaten bei einer nicht durch therapeutische Inanspruchnahme selektierten Zielpopulation, wie heterogen die Verlaufsmuster im realen Leben sind. Insbesondere wird deutlich, dass Trennung und Scheidung als kritisches Lebensereignis in familiären und Kindheitsbiografien in seiner Auswirkung nicht isoliert zu verstehen ist, sondern als eine Phase eines familiären Umbruchs anzusehen ist, in dessen weiteren Verlauf es nur bei einem Teil der Betroffenen bei der Nachscheidungs-Familienstruktur mit getrennten Eltern ohne neue Partner bleibt. Bei einem Großteil der Betroffenen kommt es zur Wiederverheiratung eines oder beider Elternteile mit der Folge, dass die Entwicklung weiter geht hin zur Stief- oder Zweitfamilie. Diese Entwicklung birgt neben allen Fallstricken, denen sogenannte Patchwork-Familien ausgesetzt sind, auch viele Chancen der Heilung der erlittenen Verletzungen bei den geschiedenen Elternteilen sowie bei den betroffenen Kindern, die ihre Elternbeziehungen flexibel auf mehrere Erwachsene verteilen dürfen und müssen. Zweitfamilien sind in ihrem Selbsterleben bei weitem nicht nur „Scheidungsfamilien“, sondern eben neue Familien im zweiten Anlauf, die aus den schmerzlichen Erfahrungen des Einbruchs eines ursprünglichen familiären Lebensentwurfes ihre Lehren ziehen konnten. Im günstigen Fall geht dies mit mehr Achtsamkeit und einer flexibler gelebten Familienideologie einher, was beides die kreativen Entwicklungsräume der Kinder in diesen Familien begünstigen kann. Lang anhaltende und virulent bleibende Stressbelastungen von Kindern aus Scheidungsfamilien können in diesem Sinne weniger als lang andauernde Nachwirkungen eines „Traumas“ der Vergangenheit verstanden werden, sondern sollten unter dem Blickwinkel des Nicht-Gelingens neuer Lebens- und Familienentwürfe auf Seiten der betroffenen Eltern verstanden werden, was mitunter für Therapeuten, die diese Familien begleiten, lebensaktuellere Ansatzpunkte für eine hilfreiche Überwindung dieser Belastungen eröffnet.

 

Die Autoren

Thomas Stegemann
Professor für Musiktherapie (Diplom-Musiktherapeut), Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Psychoanalytischer Paar- und Familientherapeut (BvPPF).

Universität für Musik
und darstellende Kunst Wien
Abteilung für Musiktherapie
Rennweg 8
1030 Wien
Österreich
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Georg Romer
Lehrstuhlinhaber und Klinikdirektor, Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Ausbilder in Psychoanalytischer Paar- und Familientherapie am Institut Göttingen-Heidelberg-Hamburg (BvPPF).

Universitätsklinikum Münster
Klinik für Kinder- und Jugend­psychiatrie, -psychosomatik
und -psychotherapie
Schmeddingstr. 50
48149 Münster
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Literatur

  • igdor, H. (2012): Kinder aus geschiedenen Ehen: Zwischen Trauma und Hoffnung. Wie Kinder und Eltern die Trennung erleben. Gießen: Psychosozial-Verlag.
  • Hetherington, E. M. & Kelly, J. (2003): Scheidung. Die Perspektiven der Kinder. Weinheim: Beltz.
  • Kraul, A., Ratzke, G., Reich, G. & Cierpka, M. (2008). Familiäre Lebenswelten. In M. Cierpka (Hrsg.), Handbuch der Familiendiagnostik (S. 199–221). Heidelberg: Springer.
  • Nawe, N. (2009): „Wer spielt den dritten Ton?“ Triangulierungsprozesse und triadische Dimensionen in der Musiktherapie mit Trennungskindern. Dissertation. Hamburg.
  • Zartler, U. & Werneck, H. (2004): Die Auflösung der Paarbeziehung: Wege in die Scheidung. In U. Zartler, L. Wilk & R. Kränzl-Nagl (Hrsg.), Wenn Eltern sich trennen (S. 57–105). Frankfurt: Campus.


Die ausführliche Literaturliste kann bei den Autoren erfragt werden.