Inhaltsverzeichnis

Editorial
Hans-Helmut Decker-Voigt

Musiktherapeutischer Klinikspaziergang
Alexianer Münster
Wolfgang Böhrer

Praxisvorstellung
Praxis für Musik- und Psychotherapie in Lübeck
Gundula Buitkamp-Nagel/Andreas Nagel

Patienteninterview
Neurologische Musiktherapie:
Musiktherapie bei Autismus
Alexandra Takats

Schwerpunktthema
mit Borderline-Persönlichkeitsstörung – ein Überblick
Gitta Strehlow/Hans Ulrich Schmidt

Schwerpunktthema II: Persönlichkeitsstörungen oder wenn Patienten
besondere Akzente in der Beziehungsgestaltung setzen
Heike Plitt

Ausbildung
Viola Schmidt

Musiktherapie im Ausland: Musiktherapie in Frankreich
Adrienne Lerner

Tagungsberichte Forschung Wissen: Musiktherapie und Körper
27. Werkstatt für musiktherapeutische Forschung in Augsburg
Martina Niehaus

„Was macht satt? – Musiktherapeutische Ansätze
in der Behandlung von Ess-Störungen“
23. Fachtagung Musiktherapie im Freien Musikzentrum München
Silke Siebert/Flora Kadar

8th Nordic Conference „Music Therapy across contexts“
Gitta Strehlow

Psychotherapie und Prostitution
Überlegungen zur Struktur der therapeutischen Beziehung
Klaus Brücher

Capriccio celebrale: Perlen vor die Säue oder Genie und Wahnsinn
Thomas Stegemann

Menschen und Orte: News und Hochschulnachrichten

Zur Person. Ralph Spintge
Hans-Helmut Decker-Voigt

Zur Person. Volker Bernius
Hans-Helmut Decker-Voigt

Buch und Medien

Zum Mitmachen
Musiktherapeutisches im Alltag
Gefühlvolles Persönlichkeitspingpong – eine Musikmeditation
Selma Suzan Emiroglu

Praxismodelle
Das Taschenlampenspiel
Hans-Helmut Decker-Voigt

Editorial

3 x P: Von Prostitution und Psychotherapie und Persönlichkeitsstörung und vielem anderen

Musiktherapie und Persönlichkeitsstörung – am Beispiel der Borderline-Persönlichkeit.
In dieses dramatische Feld der Psychotherapie und Musiktherapie begleiten die Kollegen Gitta Strehlow, Hans Ulrich Schmidt und Heike Plitt die Leser mit dem Schwerpunktthema dieser MuG. Alle drei sind erfahrene Kliniker, wissenschaftlich tätig und kennen die Anfänge und Entwicklungen einer Borderline-Therapie nicht nur aus der eigenen Praxis, sondern auch durch Supervision anderer Therapeutinnen und Therapeuten. Und sie wissen um die enorme Spannung und Anspannung gerade dieser Therapien, die nicht nur die Patienten an ihre Grenze führen (Borderline, Engl. = Grenzline), sondern auch die erfahrensten Therapeuten, die die Patienten auf deren Schlingerkurs mit Symptomen zwischen schwerer Neurose und Psychose begleiten.
Der Autor dieses Editorials war selbst in seiner Zeit als Therapeut in der Psychiatrie auf den Austausch unter den Therapeutinnen und Therapeuten angewiesen, um erleichtert zu lernen: In den Anfangskontakten begegnen Borderline-persönlichkeitsgestörte Patienten ihren Therapeuten mitnichten mit den Signalen der Hilfsbedürftigkeit, sondern oft mit offener de­struktiver Aggression.
Umso tiefgreifender dann die Wendungen hin zu den konstruktiven Anteilen der Persönlichkeit des Patienten, zu seinen verschütteten Ressourcen und sozialen Resilienzen.
Danke den Autoren für die Aufbereitung von Einblicken in diese hochkomplexe Arbeit!

Weiterlesen: Editorial

Musiktherapeutischer Klinikspaziergang

Aktuelles und Geschichte der Alexianer

Von Wolfgang Böhrer

„Behandlung und Begleitung vom Fach und von Herzen“ ist das ausgegebene Motto der Alexianer-Einrichtungen. Die Dienstleistungen und Angebote richten sich an Menschen mit Behinderungen oder psychischen Erkrankungen, an ältere und pflegebedürftige Menschen, aber auch an junge Menschen und Kinder. Das Rückgrat aller Angebote bildet die Stiftung der Alexianerbrüder als Träger unseres Hauses. Die Stiftung ist Träger der Alexianer GmbH, die somatische und psychiatrische Krankenhäuser, Einrichtungen und Werkstätten für Menschen mit Behinderungen, Senioreneinrichtungen sowie sonstige soziale Einrichtungen betreibt. Die Alexianer GmbH mit Hauptsitz in Münster ist ein Unternehmen der Gesundheits- und Sozialwirtschaft und beschäftigt bundesweit 11.300 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in neun Regionen. Die Alexianer gibt es in Aachen, in Berlin (in Mitte, Köpenick und Pankow), in Köln/Rhein-Sieg (Köln, Siegburg und Troisdorf), im Landkreis Diepholz, in Krefeld, Münster, Potsdam und in Sachsen-Anhalt (Dessau und Wittenberg). Die Einrichtungen der Alexianer zeichnen sich dadurch aus, dass sie starke regionale Anbieter sind.
Die Alexianerbrüder haben sich seit ihren Anfängen vor rund 800 Jahren entschieden, die Menschen in den Mittelpunkt zu stellen, die an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden. Seit ihrer Entstehung kümmern sich die Alexianerbrüder um arme, leidende und ausgegrenzte Menschen.
Auf dem heutigen Stammgelände der Alexianer in Münster-Amelsbüren wurde 1888 die Niederlassung im „Haus Kannen“ gegründet. Dann wurden erste Bewohner aus der sogenannten „Irrenabteilung“ eines Münsteraner Krankenhauses eingeliefert. Nach 25 Jahren wurden 370 Patienten ausschließlich von 45 Brüdern des Alexianer-Ordens betreut. In den 1950er-Jahren wurden die Schlaf­säle ausgebaut, die Handwerksbetriebe modernisiert. Anfang der 1980er-Jahre bildeten die Alexianerbrüder beim Pflegepersonal und in der Verwaltung ihrer Einrichtungen nur noch eine Minderheit, was insbesondere in dem starken Wachstum der einzelnen Häuser begründet war. Auch „Haus Kannen“ war mittlerweile enorm gewachsen und verlangte daher einen stärkeren Grad an Professionalisierung im kaufmännischen und verwaltungstechnischen Bereich. Aufgrund des Nachwuchsmangels in allen Ordensgemeinschaften ging im Laufe der Jahre der Pflegedienst in die Hände weltlicher Mitarbeiter über. Seit den 1980er-Jahren wurden verschiedene Therapiebereiche für eine bestimmte Klientel wie akut psychisch Kranke oder gerontopsychiatrische Patienten eingerichtet. Ergo- und Physiotherapie wurden angegliedert. Gemeinsames, geleitetes Spielen von Musik, gemeinschaftliches Singen bis hin zu öffentlichen Auftritten von Alexianer-Bands und -Chören waren die Wurzeln, Musik als Darstellungs- und Entfaltungsmittel im Sinne der Musiktherapie einzusetzen und Menschen mit psychischen oder geistigen Behinderungen an klanglichen Ausdruck heranzuführen.
Die heutige Alexianer Münster GmbH betreibt auf dem Stammgelände in Münster-Amelsbüren das Alexianer-Krankenhaus, eine Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, eine Fachklinik für Gerontopsychia­trie, eine Kinder- und Jugendpsychia­trie, eine Fachklinik für forensische Psychiatrie, Werkstätten und Wohngruppen für Menschen mit psychischer Behinderung sowie in Außenbereichen noch Kliniken für Psychotherapie und Suchterkrankungen. Der Standort verfügt aktuell über 254 vollstatio­näre Betten, 42 tagesklinische Plätze, 350 Plätze im Wohnbereich, 154 Plätze in der stationären Seniorenpflege, 18 Plätze in der jungen Pflege und viele ergänzende teilstationäre und ambulante Angebote.


Vor Ort
Das Gelände des Alexianer-Hauptsitzes liegt außerhalb von Münster. Es wirkt weitläufig, durchsetzt von Wegen, der Parkanlage, dem Kunsthaus Kannen und Gebäuden, die scheinbar lose zueinander stehen. Der Sinnespark wurde 1994 eingeweiht. Auf einer Fläche von ca. zwei Hektar laden die unterschiedlichen Erfahrungsstatio­nen die Besucher ein, ihre Sinne auf spielerische Art und Weise ganzheitlich wahrzunehmen und zu erproben. Objekte, die jeweils einzelne Sinne ansprechen, geben Impulse zur eigenen Wahrnehmung. Im Kunsthaus Kannen werden seit 1996 kontinuierlich Ausstellungen und Projekte zu den Themen zeitgenössische Kunst und Psychiatrie, Art Brut und Outsider Art präsentiert.
Ein Zentrum auf dem Gelände ist das Café, in dem Patienten der verschiedenen Stationen, Besucher und Mitarbeiter zu Mittag essen, es wird Kaffee getrunken, es werden Zigaretten gekauft oder geschnorrt. Am Rande dieses sozialen Ortes liegt der Musiktherapieraum. Patienten und Mitarbeiter kommen auf dem Weg ins Café daran vorbei.
Manche berichten in den Vorgesprächen, dass sie schon merkwürdige oder ansprechende Klänge im Vorbeigehen gehört hätten und sich auch fragten, was sich da wohl gerade abspielte. Klänge sind bisweilen also schon zu den Patienten gedrungen, bevor diese direkte Verbindung mit ihnen hatten.
Wenn ich die Tür zum Musiktherapieraum zwischen Therapiesitzungen zum Lüften offen stehen lasse, nehmen Menschen das auch als unverbindliche Einladung an, mal einen Blick zu riskieren oder einen Schritt in den Raum zu machen und ein paar Worte zu wechseln. Teilweise bekomme ich kurze Episoden und Erinnerungen zu hören, was Menschen mit Instrumenten, Klängen und Musik schon verbunden haben oder welche Verbindung sie gerne hätten.
Diese Episoden beschreiben den durchlässigen und offenen Aspekt der zentralen Lage auf dem Gelände.
Auf der anderen Seite bedarf die therapeutische Arbeit auch eines geschützten Raumes – dies gilt gleichermaßen für den inneren wie den äußeren Raum. Der Musiktherapieraum liegt am Durchgang, ist von außen weder zu öffnen noch einzusehen. Manchmal berichten Patienten von Sorgen, was andere „da draußen“ von ihren Klängen halten könnten. Sorgen, abgewertet zu werden aufgrund „mangelnder musikalischer Fertigkeiten“ oder „ungenügendem Talent“. Die Sorgen werden aufgegriffen und lassen sich in einen Kontext setzen, sodass die Patienten handlungsfähig bleiben.
Die Musiktherapie ist in der Klinik Maria Brunn, der Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, und in der Damian Klinik, der Fachklinik für Psychotherapie und Gerontopsychia­trie, vertreten. Die Aufenthaltsdauer der Patienten liegt hier in der Regel bei fünf bis zwölf Wochen. Die Musiktherapie für Menschen in Wohngruppen ist längerfristig angelegt.
Menschen begeben sich mit ihrer ganzen Persönlichkeit und den bislang gemachten psychischen Erfahrungen in die Therapie. Innerhalb der Behandlungskonzepte der einzelnen Stationen oder Wohngruppen kommt der Musiktherapie insbesondere die Rolle zu, den Menschen Spielräume zu geben.
Spielraum meint hier einerseits für die Patienten, sich mit erweiterten Handlungsmöglichkeiten in ihrem Tun als selbstwirksam zu erleben. Andererseits ist auch buchstäblich damit gemeint, das Spielerische als therapeutisch wirksames Mittel einzusetzen. Hier beziehen wir uns auf Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie mit psychoanalytischen Wurzeln, wie sie etwa Daniel Stern oder Donald Winnicott erarbeitet haben. Das Spielen zeigt einen Weg, der eigenen Entwicklung einen öffnenden Blick oder ein offenes Ohr zu geben. Handeln und Entwicklung brauchen Zeit. Um innerhalb der vorhandenen Zeit der stationären Behandlung (meist auf einige Wochen klar begrenzt) auch einen Spielraum erleben zu können, ist es nötig, das Geschehen vom Ergebnisdruck zu befreien. (Psychische) Entwicklung ist auf Freiräume angewiesen, Entwicklung soll passieren dürfen, nicht hergestellt oder gemacht werden. Das bedeutet, dass die Suche, sich in eigener kreativer Entfaltung selbst entdecken zu dürfen, im Vordergrund steht. Anpassungsdruck an vorgegebene Ziele kann dagegen eigene Kreativität ersticken.
Offenheit und Spielraum sind nicht beliebig. Das Probieren mit eigenen Händen, das Hören und Fühlen der eigenen Klänge gibt Patienten eine unmittelbare körperliche und emotionale Rückmeldung. Aufgabe des Therapeuten ist, den Spielraum oder das Spielfeld so zu gestalten, dass es begehbar wird. Der Therapeut hat die Funktion, mit seinen Worten und seinen Klängen dem Patienten eine Art Spiegel zu sein, der es ermöglicht, zu sich selbst zu kommen. In der Musiktherapie wird nicht das äußere Abbild gespiegelt, eher die gerade vorhandenen Möglichkeiten, mit sich und anderen in Beziehung zu treten. In Beziehung zu sein ist der Kern einer Psychotherapie und auch einer Musiktherapie.
Musiktherapie ist für viele etwas Gewagtes. Sich klanglich zu äußern, ist oft ein unbekannter, unbegangener oder gefürchteter Weg. Um sich auf das Wagnis der Offenheit und der Ungewissheit einzulassen, ist es nötig, einen stützenden und versichernden Rahmen zu bieten. Offenheit, Vertrauen und die Würdigung des Leidens sind die Basis dazu. Dem Therapeuten kommt die Aufgabe zu, Vertrauen und Zuversicht für kommende Schritte zu vermitteln. Und zwar für Schritte, die auch der Therapeut nicht vorher wissen kann. Innerhalb dieses Freiraums können nächste erreichbare Schritte innerhalb einer psychischen Entwicklung gegangen oder angebahnt werden.
Konkret bedeutet das, den Menschen die Instrumente zur Verfügung zu stellen und auch das Zutrauen zu verkörpern, dass die (suchenden, verunsicherten, gehemmten, gewagten, schrägen, exotischen) Klänge aus den Händen, der Seele, dem Bauch und dem Herzen der Patienten ein gangbarer und wertvoller Ausgangspunkt sind. Jeder darf alles benutzen. Musikalische Vorkenntnisse und Ziele können den offenen, unmittelbaren Zugang verstellen. Sie sind nicht Thema der Musiktherapie.
Für die Musiktherapie für Bewohner der Wohngruppen kann ich das Motto der Wohnbereiche „selbstverständlich und selbstbestimmt leben“ übernehmen. Die längerfristige Begleitung erlaubt es, dass sich die Gruppen langsam entwickeln dürfen. Den Bewohnern wird Zeit und Raum für langsame und nachhaltige Entwicklung gegeben. Sie bekommen Zeit, sich als Gruppe und als Individuum innerhalb der Gruppe zu finden und zu definieren. Das Zusammenspielen und auch das Aufeinander-Zugehen werden selbstverständlicher. Die Eigenheiten werden mit der Zeit geschätzt, werden integriert einbezogen und auch untereinander eingefordert. Für manche Bewohner ist es aufgrund ihrer Persönlichkeit nicht leicht, regelmäßige Termine einzuhalten. In längerfristigen Therapien ist es möglich, auch diese Leute mit ihren Fehlzeiten einzubinden und eine Perspektive zu bieten, damit sie nicht „rausfallen“.


Fallvignette: „sich zeigen“
Vier Patientinnen nehmen an der Gruppe teil, zwei zum ersten Mal. Fr. V. nimmt das fünfte Mal teil. Sie kam mit der Diagnose einer schweren depressiven Episode und einer Posttraumatischen Belastungsstörung. Insuffizienz- und Schuldgefühle sind ausgeprägt. Sie hat zwei Suizidversuche im vergangenen Jahr hinter sich.
Ihre Kindheit und Jugend sei schwierig gewesen, da ihr Stiefvater sie geschlagen und ab ihrem zehnten Lebensjahr sexuell missbraucht habe. Sie vernachlässige Kontakte, ziehe sich zurück, zeige sich z. B. tagsüber nicht auf ihrer Terrasse aus der Sorge heraus, die Nachbarn könnten sie für „faul“ oder „unwertig“ halten, wenn sie während möglicher Arbeitszeit nur auf der Terrasse sitzt. Insgesamt sei ihr „wenig Selbstvertrauen anerzogen“ worden und sie habe wenig gedurft.
Sie zeigte sich im Vorgespräch verunsichert, ob sie innerhalb einer Gruppe bestehen könne. Die Aussicht, innerhalb der Gruppe weniger ausschließlich vom Therapeuten beobachtet zu werden, sei allerdings entlastend und gebe ihr mehr Handlungsspielraum.
In der Gruppenstunde formuliert sie nun, dass ihre selbst gespielten Klänge im tiefen Bereich des Klaviers sie stärkten und gut zu ihr passten. Im Hinblick darauf, dass sie sich eigentlich in der Gruppe unauffällig und angepasst verhalten will, um keine Angriffsfläche zu bieten, scheint dies bemerkenswert. Sie nimmt damit aktiv eine Gegenposition zu einer Mitpatientin ein, die sich von den tiefen Klängen gestört fühlt.
Als sich im letzten Gruppenspiel ein Ende andeutet, die Klänge weniger werden und leiser, ergreift Fr. V. die Gelegenheit und entwirft kurze Motive auf dem Klavier, die sich deutlich vor dem leisen Hintergrund abheben. Die Motive wirken klar und prägnant, vermitteln dabei Zartheit. Die Gruppenmitglieder nehmen anschließend anerkennend darauf Bezug, würdigen, dass sie die Gelegenheit ergriffen und eigenständig zugepackt hat. Sie selbst formuliert, die Klänge seien „zufällig“ gekommen. Auf mich wirkt es so, dass sie heute eher beiläufig spielen konnte, ohne den Druck, etwas Bestimmtes leisten zu müssen. Neben dem äußeren Spielraum scheint auch innerer Spielraum vorhanden zu sein. In diesem Falle in Form von Entlastung von Erwartungs- und Beobachtungsdruck.
In der gleichen Stunde tritt Fr. V. ermunternd auf den Plan, indem sie die Entscheidung von Fr. C., lieber zuzuhören als sich selbst einzubringen, in Frage stellt. Sie fordert sie freundlich und nachdrücklich auf, doch mitzuspielen. Fr. C. nimmt den Rat ihrer erfahrenen und vertrauenswürdigen Mitpatientin an, zeigt sich anschließend erleichtert über diesen Schritt. Fr. V. erfährt damit auch Bestätigung für ihr Gespür anderen gegenüber und für ihre Initiative.

Der Autor:

Wolfgang Böhrer
Geb. 1974
Diplom-Musiktherapeut (FH),
Heidelberg
MAS Klinischer Musiktherapeut,
Zürich
Lehrmusiktherapeut DMtG
Lehrmusiktherapeut SFMT
Seit 2000 in der Erwachsenenpsychiatrie tätig, bei den Alexianern seit 2012.

Angaben zur Klinik:

Alexianer Münster GmbH
Alexianerweg 9
48163 Münster
Tel.: (0 25 01) 966 20 000
Fax: (0 25 01) 966 20752
Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!
www.alexianer-muenster.de
Leitender Arzt: Dr. Klaus Telger

Quellen:

www.alexianer-muenster.de
Winnicott, Donald W. (2006): Vom Spiel zur Kreativität. Stuttgart: Klett Cotta.
Stern, Daniel N. (2005): Der Gegenwartsmoment. Frankfurt a.M.: Brandes & Apsel.
ders. (2003): Die Lebenserfahrung des Säuglings. Stuttgart: Klett-Cotta.

Praxisvorstellung

Praxis für Musik- und Psychotherapie in Lübeck

Von Gundula Buitkamp-Nagel und Andreas Nagel

1. Stellen Sie sich bitte kurz vor.
Wir sind Gundula Buitkamp-Nagel, Diplom-Musiktherapeutin (FH), und Andreas Nagel, Diplom-Musiktherapeut und approbierter Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut. Wir sind beide Heilpraktiker auf dem Gebiet der Psychotherapie, was uns, unabhängig von der Approbation, dazu berechtigt, in freier Praxis tätig zu sein. Seit 15 Jahren sind wir verheiratet – nicht nur miteinander, sondern auch mit unserem Beruf.


2. Welche Situation Ihres musiktherapeutischen Berufslebens lag vor der Eröffnung Ihrer ambulanten Praxis?
GBN: Wir waren beide im heutigen UK-SH (Universitätsklinikum Schleswig-Holstein) angestellt – Andreas in der Psychosomatik und ich in der Psychiatrie, jeweils mit einer halben Stelle.
AN: Nach der Geburt unseres ersten Kindes nutzte ich die Elternzeit als Probephase für die eigene Praxis. Als diese erfolgreich angelaufen war, entschloss ich mich, die Anstellung in der Klinik zu kündigen und mich ganz selbstständig zu machen.
GBN: Dagegen wollte ich die Eingebundenheit in ein Team behalten und als Nicht-Approbierte auch finanziell weiterhin abgesichert sein. Daher habe ich bis heute eine Halbtagsanstellung – inzwischen in der Fachklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Vorwerker Diakonie Lübeck – und arbeite nur einen Tag pro Woche in der Praxis.


3. Wie sind Sie zu dem Beruf des Musiktherapeuten/der Musiktherapeutin gekommen?
GBN: Sie werden lachen, aber ich habe die Musiktherapie erfunden! Das klingt jetzt vielleicht überheblich oder verrückt – deshalb will ich es erläutern: Als ich 18 war, wurde ich aufgefordert, an einer Familientherapie teilzunehmen, weil einer meiner Angehörigen psychosomatisch erkrankt war. Mich faszinierte das Vorgehen der Therapeutinnen und Therapeuten in der Klinik und ich empfand es als hilfreich und erlösend für alle Beteiligten, sich in einem geschützten, moderierten Rahmen füreinander öffnen zu können. Mich wunderte allerdings, dass mit künstlerischen Methoden wie Malen und Modellieren, nicht jedoch mit Musik gearbeitet wurde. Denn ich befasste mich täglich mit meiner Geige oder dem Klavier und dem Erfinden von Songs und Melodien – das war meine Ausdrucksweise. Ich war aus meiner eigenen noch recht jungen Erfahrung heraus überzeugt, dass freie Improvisation an Musikinstrumenten befreiend wirken kann. Wenn es so etwas wie Musiktherapie noch nicht gibt, werde ich sie entwickeln, dachte ich. Es war ein beglückendes Erlebnis, im Göttinger Berufsinformationszen­trum herauszufinden, dass es Musiktherapie als Studiengang längst gab.
Ich las nun das schmale Büchlein „Musiktherapie“ von Juliette Alvin und hielt in meinem Musik-Leistungskurs ein Referat darüber – wohl das feurigste meiner ganzen Schulzeit, weil ich zum ersten Mal wusste, dass etwas genau mein Thema war. Von da an hatte ich keinen anderen Berufswunsch mehr, ich landete dann in Heidelberg, wo ich vier Jahre studierte und 1995 im Alter von 24 Jahren mein Diplom erhielt.
AN: Ich kam von der Hamburger Musikhochschule. Anders als Gundula hatte ich zunächst Sonderpädagogik studiert und sah mich über das tiefenpsychologisch fundierte Zusatzstudium Musiktherapie schließlich vor die Entscheidung gestellt, ins Referendariat zu gehen oder als Musiktherapeut zu arbeiten. Ein attraktives Stellenangebot an der Uniklinik Lübeck half mir, diese Entscheidung zu treffen. Ich zog nach Lübeck und wurde Musiktherapeut in der dortigen Psychosomatik. Parallel zur Berufstätigkeit absolvierte ich noch den Diplom-Aufbaustudiengang Musiktherapie in Hamburg.


4. Erzählen Sie bitte von den Rahmenbedingungen und der Konzep­tion Ihrer Praxis.
GBN: Abgesehen von unserem tiefenpsychologisch orientierten Ansatz haben wir unterschiedliche Rahmenbedingungen.
AN: Ich habe eine Approbation als Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut mit Kassenzulassung. Deshalb muss ich nach den Richtlinien des Psychotherapeutengesetzes arbeiten. Da die Musiktherapie leider kein anerkanntes Verfahren ist, mache ich tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie mit musiktherapeutischer Methodik. Meine PatientInnen sind zwischen drei und 23 Jahre alt. Sie brauchen keine Überweisung von einem Arzt, die „Gesundheitskarte“ reicht für die ersten 5 probatorischen Stunden. Danach schreibe ich den Antrag auf Kostenübernahme für eine Kurzzeitpsychotherapie. Sie umfasst 25 Std. zuzüglich 6 Std. begleitender Elternarbeit. Daran kann sich eine Langzeittherapie über weitere 45 Std. zuzüglich 11 Std. begleitender Elternarbeit anschließen. Dafür muss allerdings mein Antrag von Gutachtern gesichtet und beurteilt werden. In diesen Anträgen beschreibe ich zwar das Spielverhalten der PatientInnen an den verschiedenen Musikinstrumenten und unsere gemeinsame Musik, aber ich darf es nicht explizit Musiktherapie nennen.
Als Psychotherapeut habe ich so viele Dinge im Gespräch zu klären, dass leider für Musik nicht immer genug Zeit bleibt. Manche PatientInnen erfahren sogar erst, wenn sie mich kennen lernen, dass ich auch Musiktherapeut bin. Andere wiederum werden von niedergelassenen Ärzten gerade deswegen zu mir geschickt: Weil sie mich kennen und wissen, dass ich eine Alternative zu verbalen Kontaktangeboten anbiete, die sich für bestimmte Kinder und Jugendliche besonders eignet. Wir merken, wie wichtig es bei einer so ausgefallenen Therapiemethode ist, über Jahre an einem Ort zu sein. Wir können uns jetzt – nach 15 Jahren – allmählich darauf verlassen, dass Psychiater uns kennen, empfehlen, Klienten schicken …
GBN: Ich kann nur Menschen in Therapie nehmen, die diese selbst finanzieren können. Der Vorteil daran ist: Sie sind motiviert, erscheinen zuverlässig und nehmen sich, mich und die Therapie ernst. Die Terminabsprache ist flexibel: Wer von weit her kommt, bekommt z. B. auf Wunsch einen Doppeltermin, dafür nur einmal im Monat. Mit Erwachsenen zu arbeiten ist ein schöner Ausgleich zu meiner Arbeit in der Kinder- und Jugendpsychiatrie.


5. Wie sind Ihre Praxisräume eingerichtet? Nach welchen Kriterien haben Sie sie gestaltet?
AN: Den ca. 35m2 großen Therapieraum haben wir recht funktional eingerichtet; die Musikinstrumente sind an den Wänden entlang angeordnet, sodass in der Mitte ein Freiraum zur Gestaltung einlädt. Da sich vieles am Boden (v. a. mit Kindern) oder in Bewegung abspielt, haben wir auf eine reichhaltige Möblierung verzichtet; es gibt aber ein Sofa, einen Sessel und – in einer Abstellkammer – viele Klappstühle. Wir können auch jederzeit Decken ausbreiten und eine Hängematte aufhängen. Aus den Fenstern blickt man ins Grüne, denn hinter dem Haus befindet sich ein Park. Es gibt gleich hinter unserer Eingangstür einen kleinen Wartebereich mit Toilette. Das Büro ist für Klienten unzugänglich.
GBN: Früher habe ich Musiktherapeuten bewundert, die ein Instrumentenparadies zu bieten hatten. Im Laufe der Jahre ist unsere Praxis genau das geworden: Wir haben zwei Klaviere, ein Schlagzeug, eine Marimba, eine Schlitztrommel, ein Monochord, einen Streichbass, eine Duoviole, eine Chrotta, eine Violine, Gitarren, mehrere Kanteles, Flöten, Trommeln, Metallklangstäbe, Effektinstrumente wie Rainmaker, Chimes, Springdrum, Flexaton, Shantys, Sansula, viele kleine Shaker … Es ist noch nicht so lange her, dass wir erstmals Instrumente aussortiert und an ein Projekt in Peru verschenkt haben – also das Sammeln hat allmählich aufgehört. Und gerade in den vergangenen zwei bis drei Jahren ist bei mir ein Instrument in den Fokus gerückt, das überhaupt keinen Platz beansprucht: die Stimme.
AN: Neben diesen Instrumenten, die für die Patienten zur Verfügung stehen, kommen natürlich auch unsere „Hauptinstrumente“ zum Klingen, wenn ich meine Klarinetten und Saxophone spiele oder Gundula ihre Violine.


6. Mit welchen Anliegen, Leiden und Krankheiten können sich Menschen an Sie wenden?
GBN: Menschen mit psychiatrischen und psychosomatischen Leiden, in persönlichen Krisen, Menschen mit Behinderungen können sich an uns wenden; Menschen, die Sinnfragen haben, einsam und/oder depressiv verstimmt sind – kurz: alle, die darauf angewiesen sind, Entwicklungsschritte zu vollziehen, um den Anschluss ans Leben (wieder) zu gewinnen. Auf Musikalität kommt es dabei nicht an; vielmehr setzen wir voraus, dass jeder Mensch in irgendeiner Weise für Musik zugänglich ist und wir diesen Zugang in der Therapie nutzen können.

Einige Beispiele:
–    Einer meiner Klienten ist ein sechs Jahre altes Kind mit einem genetisch bedingten, ungewöhnlichen Syndrom, das zu einer Entwicklungsverzögerung führt. Hier soll die Musiktherapie auf ganzer Linie entwicklungsfördernd wirken. Dieses Kind ist nicht krank, sondern mit seinen Voraussetzungen in unserer Welt zunächst benachteiligt. Es braucht mehr Zeit als „gewöhnliche“ Kinder und eine Menge Zuwendung. Für Töne, Klänge und Geräusche hat es ein sensibles Gehör. In der Musiktherapie erlebt es sich als selbstwirksam und autonom.
–    Ein junger Mann kommt zu mir, der Musiktherapeut wird und im Rahmen seiner Ausbildung Selbsterfahrungsstunden braucht. Es ist eine besondere Freude, mit jemandem zu improvisieren, der das so musikalisch tut und so begeistert reflektiert wie er. Und trotzdem hat auch er wie jeder Mensch „so seine Themen“, die sich, obwohl er eine stabile und integre Persönlichkeit ist, wie ein roter Faden durch unsere Kontakte ziehen und bearbeitet werden wollen.
–    Eine 75-Jährige mit der recht frischen Diagnose „Demenz“ – pünktlich ist sie zu fast jedem Termin zur Stelle. Sie muss die Dia­gnose verarbeiten, ist darüber verärgert und traurig. Und sie möchte ihre Alltagskompetenzen aufrechterhalten, solange es geht: allein in ihrer Wohnung leben, einkaufen und spazieren gehen usw. Sie erzählt gern von ihrem Leben und kann viele Lieder auswendig. Ihr Langzeitgedächtnis ist einwandfrei. „Verlangen Sie mir hier etwas ab oder nehmen Sie mich, wie ich bin?“, war eine ihrer ersten Fragen. Sie genießt es, in der Musiktherapie so sein zu können, wie sie ist. Ich könnte mir, da sie ganz in der Nähe der Praxis wohnt, vorstellen, die Therapie später bei ihr zu Hause weiterzuführen.

AN: Grundsätzlich darf ich mit meiner Kassenzulassung mit jedem, der noch nicht das 21. Lebensjahr vollendet hat, eine Therapie beginnen, wenn eine Indikation für eine Psychotherapie besteht. Nachmittags kommen meistens die Schulkinder. Diese haben häufig eine depressive Symptomatik, z. B. in Form einer Anpassungsstörung nach Trennung der Eltern oder nach Mobbing. Das gemeinsame Improvisieren mit anschließendem Anhören der aufgenommenen Musik hilft, ihr Selbstbewusstsein zu stärken. Vormittags kommen einige Vorschulkinder und vor allem Jugendliche und junge Erwachsene. Diese werden mir von der „Clearingstelle im Jobcenter Lübeck“ (Beratung für junge Erwachsene) vermittelt, wenn dort erkannt wird, dass hinter einem scheiternden Einstieg in das Berufsleben psychische Probleme stehen.


7. Was hilft in Ihrer Therapie? Nach welchem Konzept arbeiten Sie?
AN: Als tiefenpsychologisch denkender Therapeut gehe ich natürlich davon aus, dass die Beziehung zwischen Patient und Therapeut das Entscheidende ist. Weiterhin ist mir wichtig, die Symptomatik nicht nur als etwas Störendes anzusehen, sondern den darin liegenden Sinn zu verstehen: Wozu dient das Symptom und was muss erst geschehen, damit es sich wandeln kann?
GBN: Ausgehend von der Annahme, dass jeder Mensch im Kern als gesunde Ganzheit angelegt ist, die er (wieder) anstrebt, lasse ich mich leiten von den Fragen: Was brauchst du? Wie kann ich dir begegnen?
All diese Aspekte sind mir dabei wichtig: die Beziehung und der Kontakt, das Wiederholungs- und Übungsmoment, das mit Klangschönheit und Meditation einhergehen kann, die Einbeziehung des Leibes, meine Intuition, die Stabilisierung von Emotionen und die Aktivierung von Ressourcen. Aber auch freier, unordentlicher Ausdruck (in einem stabilen Setting und in einer tragfähigen Therapiebeziehung) gehört dazu.
Im Grunde lautet mein Konzept: Ich stelle mich meinem Gegenüber mit meinen Wahrnehmungen und Empfindungen, meiner Intuition, Fantasie, Spontaneität und Authentizität sowie meinen musikalischen Ideen zur Verfügung, um seine Persönlichkeit zum Klingen zu bringen und seine ganzheitliche Entwicklung zu begünstigen. Die Musik, speziell die freie Improvisation, ist dabei das wesentliche Medium.


8. Wie klingt die Musik, die Sie mit Ihren PatientInnen machen oder die Sie ihnen vorspielen?
AN: Ich gehe davon aus, dass die Pa­tientenmusik erst einmal so klingt, wie es zum Patienten passt – oft spiegelt sich die aktuelle Lebenssituation wieder. Dementsprechend unterschiedlich klingt die Musik: bei dem einem fein, zerbrechlich, schüchtern, zaghaft und bei dem anderen wiederum kraftvoll, ausufernd, explosiv …
GBN: Ja – die Musik klingt so, wie das Gemüt der Menschen sein kann, nämlich ganz facettenreich.
Zugelassen ist alles, was nicht destruktiv wirkt. Dass mal eine Saite reißt oder ein abgespielter Stick in die Brüche geht, ist normal. Wenn aber jemand offensichtlich kurz davor ist, sich, mich oder das Instrument zu beschädigen, ist eine Grenze erreicht.
–    Heute hat eine Frau mit Konzentrationsstörungen in der Therapie ein Gedicht Zeile für Zeile vertont und auf und ab durch den Raum schreitend gesungen. Melodie, Rhythmus und Bewegung halfen ihr, sich die Worte einzuprägen.
–    Ein Kind mit einem Aufmerksamkeitsdefizit hat die Sekunden gezählt, bis die angeschlagene Klangschale nicht mehr zu hören war und eine neuartige Stille den Raum erfüllte.
–    Ein Mädchen mit Drogenerfahrung hat Klänge gesucht, die genau so angenehm sind wie Kiffen. Sie hat auch etwas gefunden …
–    Ein Mädchen mit einer ambivalenten Haltung zum Thema Essen hat Töne gesucht, die „wie Joghurt“ und andere, die „wie Brot“ klingen: Joghurt – leicht, flüssig, angenehm; Brot – schwer, bedrohlich, belastend. Ob das Brot seinen Klang ändern wird? Zeugin solch bewegender Momente und daraus sich entwickelnder Prozesse sein zu dürfen, macht für mich den größten Wert meines Berufes aus.


9. Schildern Sie bitte eine typische Situation aus Ihrem Berufsalltag.
AN: Eine immer wiederkehrende Situation ist Anspannung und Unsicherheit bei den Kindern, ihren Eltern und z.T. auch bei mir in der Probatorik. Dann greife ich gerne auf ein einfaches Regelspiel zurück: Beim „Musikboss“ ist einer, der sich ein buntes Tuch um die Schultern gelegt hat, der Boss; dieser darf so spielen, wie er möchte, und die anderen sollen dazu passend spielen (auch laut oder fröhlich …); entweder gibt der Boss das Tuch weiter oder es wird ihm weggenommen. Gerade an der Marimba ist genug Platz auch für mehrere Spieler und auch wenn jemand sie zum ersten Mal spielt, ist der Klang fantastisch. Meistens lockert sich dann die gesamte Situation und ich kann erfahren, wer Zuhause der Boss ist.
GBN: Ganz typisch ist mein Zaudern vor einer Therapiesitzung: Wie wird es werden? Habe ich schon eine Idee? Um mich zu beruhigen und zu beschäftigen, stimme ich die Saitenin­strumente. Dann klingelt es, die Klientin ist angekommen, die Zweifel sind wie weggeblasen, und ich spüre echte Freude darüber, dass es jetzt losgeht.


10. Welche Idee im Bereich der Musiktherapie würden Sie gern verwirklichen, wenn Sie ausreichend Zeit und Mittel hätten?
AN: Ich würde gerne mit Forschung dazu beitragen, dass die Musiktherapie sich noch weiter etablieren kann. Dabei würde ich gerne die Zeit und Mittel haben, die Therapiemusik in hoher Klangqualität aufzunehmen und diese dann genau zu analysieren …
GBN: Musiktherapie sollte von den Krankenkassen als reguläre Heilmethode und darüber hinaus wie jeder Sportkurs als gesundheitserhaltende Maßnahme anerkannt werden. Ich hätte Lust, ein Zentrum für Musik- und Kunsttherapie zu eröffnen. Irgendein genialer Architekt bekäme den Auftrag, es zu bauen, am liebsten auf einem Naturgrundstück am Stadtrand. Mein Vorbild wäre dabei die Waldorf-Architektur, wie ich sie in Järna/Schweden gesehen habe. Das Zentrum müsste mehrere schallgeschützte Räume und große Ateliers haben, sodass die ganze Crew gleichzeitig arbeiten könnte. Ich würde dann auch Folklore-Feste organisieren und Menschen aus allen Ländern aufrufen, sich gegenseitig ihre Musik zu zeigen. Gerade jetzt, wo so viele Menschen aus afri­kanischen Ländern und Syrien hier eintreffen, sollte Musik zur Völkerverständigung beitragen.
Ich würde mich gern zusammen mit Traumatherapeutinnen und -therapeuten der Flüchtlingskinder annehmen und ihnen und ihren Familien zu einer besseren Lebensqualität verhelfen. Dafür braucht man aber nicht nur Zeit und Mittel, sondern auch die nötige Kraft.
Zur Zeit haben Alltag und Familie mich ganz gut im Griff. Aber wer weiß, was noch kommt!

Über die Klinik:

Praxis für Musik- und Psychotherapie in Lübeck
Gundula Buitkamp-Nagel
und Andreas Nagel
Gertrudenstraße 10
23568 Lübeck
Tel.: 0451 / 70 60 50 4
E-Mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!%20">
www.buitkamp-nagel.de

Schwerpunktthema

Musiktherapie bei Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörung – ein Überblick

Von Gitta Strehlow und Hans Ulrich Schmidt

1. Fallbeispiel:
Begegnung im Gegeneinander
Frau K. wählt wie in früheren Sitzungen die Bass-Trommel und spielt wie üblich laute, regelmäßige, schnelle Schläge. Die Schläge prasseln nur so und ihr Trommelschlag klingt hart und unerbittlich, geradezu brutal. Er lässt mich zusammenzucken. Ich schlage auf den Congas kleine Wirbel. Die Wirbel sind zwar zu hören, mich beschleicht jedoch ein Gefühl des Kampfes und ich ahne zugleich große Einsamkeit. Frau K.s Musik wirkt starr, repetitiv, vor mir entsteht das Bild eines wütend-trotzig schreienden Kindes, das nicht beruhigt werden kann. Frau K. spielt mit dem Schlägel klare laute Viertel, die jetzt deutlich nach Protest klingen. Ich nehme ihr Metrum auf und nach einer Weile ergibt sich durch meine Schläge ein regelmäßiger Schlag im Off-Beat von Frau K. Völlig unerwartet entsteht ein abwechselndes Spiel zwischen ihren harten und meinen ebenfalls kräftig gespielten Schlägen. Die Musik klingt immer noch gewaltig, aber nun ist der Protest von Frau K. der Grundrhythmus geworden. Die Musik klingt auf einmal völlig anders und durchaus lebendig. Frau K. wird in ihrem Rhythmus schneller, ich nehme ihre Temposteigerung auf. Völlig unerwartet schwingt die Musik und eine Bezogenheit in unserem Spiel ist deutlich hörbar. Frau K. gefällt die Musik, sie strahlt zufrieden. Ihr Protest hat Gehör gefunden, ich habe mich in einer für sie nicht zu bedrohlichen Weise mit meiner Musik einfädeln können. Die musikalische Begegnung balancierte dabei ausreichend zwischen Nähe und Distanz.


2. Klinik der Borderline-Persönlichkeitsstörung
Die Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) wird im deutschsprachigen/euro­päischen Raum in der ICD-10 unter F60 den Persönlichkeitsstörungen (PS) zugeordnet. Die BPS (60.31) ist eine von acht unterschiedlichen Persönlichkeitsstörungen. Kernberg (1996) warnt vor der Gleichsetzung von Verhaltensmerkmalen und psychischen Strukturen. Er schlägt ein psychoanalytisches Modell für die Klassifikation vor: „Es handelt sich um ein entwicklungspsychologisch begründetes hierarchisches System, in das sowohl objektbeziehungs- als auch trieb- und strukturtheoretische und selbstpsychologische Überlegungen eingehen und die übliche Einteilung in Neurosen, Persönlichkeitsstörungen und Psychosen zugunsten einer umfassenden Anwendung des Begriffs „Persönlichkeitsstörungen“ bzw. „Persönlichkeitsorganisation“ aufgegeben wird“ (ebd., S. 288).
Laut Schmid et al. ist die emotional-instabile Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ eine „semiologisch äußerst polymorphe und schwere psychische Störung, die klinisch durch ein Muster von emotionaler Instabilität, dysfunktionalen interpersonellen Beziehungen, Störungen des Selbstbildes, Impulskontrollstörungen und selbstverletzenden Verhaltensweisen definiert ist“ (Schmid et al. 2013, S. 216). Das Entstehungsmodell wird überwiegend als multifaktoriell aufgefasst, wobei als ein fließender zentraler Umweltfaktor eine schwer belastende familiäre und soziale Situation gesehen wird. Die Beziehungs-Trauma­genese ist mittlerweile für den Großteil der BPS-Patienten anerkannt (Sack et al. 2011). Neurobiologische Mechanismen dürften für Entstehung und Aufrechterhaltung der Störung ebenfalls von zentraler Bedeutung sein, sind jedoch nicht abschließend geklärt. Bis in die 80er-Jahre standen dagegen vorwiegend psychodynamische Erklärungsmodelle im Vordergrund. Deneke (1999), der auch neurobiologische Zuflüsse sieht, merkt an, dass „die Krankheitsentwicklung von einem komplexen Bedingungsgefüge lebensgeschichtlicher, strukturell verankerter Erfahrungsbildungen abhängig“ (ebd., S. 125) sei – „einem jeweils individualspezifischen Bedingungsgefüge, das Prozesscharakter hat, sich also im Verlauf eines Lebens selbst verändert“ (ebd., S. 125). Er postuliert einen Borderline-typischen Regulationsmodus (ebd., S. 128).
Kernsymptome der BPS sind ein ausgeprägter Grad an emotionaler Instabilität, wiederholte emotionale Krisen, instabiles oder gestörtes Selbstbild, chronisches Gefühl innerer Leere, Suizidankündigungen, Selbstverletzung, Neigung zu intensiven, aber unbeständigen Beziehungen sowie übermäßige Anstrengungen, Alleinsein zu vermeiden. Im DSM-V findet sich zusätzlich das vorübergehende Auftreten von paranoiden Vorstellungen oder schweren dissoziativen Symptomen.
Die Prävalenz wird mit 1–2 % in der Gesamtbevölkerung angegeben, in psychiatrischen Kliniken machen Patienten mit BPS ca. 15 % der Patienten aus. Ein Suizid-Lebenszeitrisiko von ca. 10 % wird angenommen. Selbstverletzendes Verhalten besteht bei ca. 85 % der Patienten. Es bestehen hohe Komorbiditätsraten (v. a. Depression, Angst, Substanzmissbrauch/-abhängigkeit, Essstörungen, andereP ersönlichkeitsstörungen). Abgrenzungsprobleme bestehen v. a. zur Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörung des Erwachsenenalters sowie zur Posttraumatischen Belastungsstörung.


3. Probleme der psychotherapeutischen Behandlung
Die therapeutische Arbeit mit diesen Patienten ist komplex und durch widersprüchliche Gefühle, vielfältige Verwicklungen und mitunter starken Handlungsdruck gekennzeichnet, wodurch das Ringen um den angemessenen Umgang mit extremen Gefühlen die Kompetenz jedes (Musik-)Therapeuten herausfordert. Das Erleben von Irritation, Ohnmacht, Hilflosigkeit, Ärger und Wut, aber auch Angst, Scham- und Schuldgefühlen gehört zum Behandlungsalltag. Unerwartete Wechsel, Ambivalenzen, widersprüchliche Gefühle von Ausweglosigkeit und dem gleichzeitig Druck, etwas verändern zu müssen, sind die Regel. König (1998) erwähnt die zentrale Wichtigkeit der projektiven Identifizierung in der Abwehr und die „große Intensität der Gegenübertragungsreaktionen, die im Umgang mit Borderline-Patienten auftreten“ (ebd., S. 43).
Solche aversiven Gegenübertragungsgefühle von Therapeuten stellen ein wesentliches Problem dar, besonders wenn sie zu unreflektierten, abweisenden Einstellungen oder Handlungen verleiten. Die Intensität der Gegenübertragung fordert daher die ganze Kunst des Therapeuten, der trotz häufiger Angriffe auf den Rahmen, den Inhalt oder seine Person selbst seine Haltung von Akzeptanz, Wertschätzung und Verstehen-Wollen aufrechterhalten sollte.
Ein weiteres zentrales psychodynamisches Thema bei der Behandlung der Borderline-Persönlichkeitsstörung ist die Schwierigkeit der Nähe-Distanz-Regulation in Beziehungen und der damit verbundenen Regulation massiver Affekte (Schneider-Heine et al. 2011).
Im mündlichen Austausch mit Kollegen zeigen sich Unsicherheit, Unverständnis, Ablehnung, Genervtsein, aber auch Faszination. Im Alltag löst die lebensbedrohliche Symptomatik (Impulsivität, Suizidalität, Selbstverletzung) vielfältige und widersprüchliche Gefühle aus, die zu extremem Handlungsdruck führen. Der Musiktherapeut muss eine Haltung zum Tun der Patienten entwickeln, wenn z. B. der Patient, ausgelöst durch sein Anspannungsgefühl, die Sitzungen abbrechen möchte, ablehnt, Musik zu spielen oder aber seine Lieblingsmusik mitbringt und in dieser versinkt. Je nachdem wird die/der Musikherapie/peut besonders geliebt (Idealisierung) oder abgelehnt (Entwertung). Ziel der Behandlung ist die Integration der unterschiedlichen inneren Anteile.
Dulz et al. erwähnen drei wichtige Grundvoraussetzungen für den therapeutischen Umgang mit Borderline-Patienten: Persönliche Sympathie, haltende Funktion und technische Neu­tralität. Alle Voraussetzungen stünden gleichberechtigt nebeneinander (Dulz et al. 2000, S. 490).
Die Musik spielt für diese Patien­tengruppe eine wichtige Rolle, da sie häufig intensive Musikhörer sind und Musik z. T. intensiv erleben. Sie wird von ihnen zur Stimmungsaufhellung benutzt, findet ihre Verwendung teilweise aber auch bei Selbstverletzung. BPS-Patienten berichten immer wieder, dass sie Musik als überflutend und bedrohlich erleben, daher ist von Anbeginn der sorgsame Umgang mit improvisierter Musik im Rahmen der Musiktherapie notwendig. Einige Autoren betonen die Notwendigkeit des immer wieder parallel strukturierenden Gesprächs (s. Makowitzki 1995).


4. Spektrum der angewandten Psychotherapiemethoden
In den letzten Jahren sind unterschiedliche speziell auf diese Patientengruppe abgestimmte Psychotherapiekonzepte entwickelt worden, wie z. B. TFP (Transference-Focussed-Psychotherapy), übertragungsfokussierte Psychotherapie (Yeomans et al. 2013), DBT (Dialektisch-Behaviorale Therapie) nach Linehan (1993), MBT (Mentalization-Based-Treatment, Bateman und Fonagy 2013, 2012) oder die Schematherapie (Young et al. 2005). Alle diese Konzepte haben eine gute Wirksamkeit bewiesen, die Notwendigkeit zu Langzeittherapien gilt für alle therapeutischen Verfahren (Leichsenring 2013). Die therapeutische Arbeit mit Borderline-Persönlichkeitsgestörten wird zwar nach wie vor als schwierig angesehen, die zunehmenden Kenntnisse über die Erkrankung haben die Behandlungserfolge jedoch deutlich verbessert. „Die Feststellung von Rohde-Dachser, die modifizierte psychoanalytische Therapie sei die Therapie der Wahl, dürfte sich kaum mehr haltbar erweisen“ (Dammann et al. 2000, S. 728). „Für die Borderline-Störung bleibt bis heute unklar, ob sich eine Schulenüberlegenheit einer Methode (wie z. B. der Verhaltenstherapie bei der Zwangsstörung) oder eher eine „Unerheblichkeit“ (wie tendenziell bei der Depression) abzeichnen wird“ (ebd., S. 729).
TFP und MBT haben einen psychodynamischen Hintergrund, während DBT und Schematherapie einen verhaltenstherapeutischen haben.


a. Übertragungs-fokussierte Psychotherapie (TFP)
Die Übertragungs-fokussierte Psychotherapie (TFP, Yeomans et al. 2013) wurde von Otto F. Kernberg (1993) zur Behandlung von Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörung entwickelt. Es handelt sich dabei um ein manualisiertes psychodynamisches Therapieverfahren, bei dem die Arbeit mit der Übertragungsbeziehung im Mittelpunkt steht. Grundannahme ist, dass die frühen und häufig schädigenden Beziehungserfahrungen (Beziehungstraumata, Misshandlung) zu einer Identitätsdiffusion führen, die die aktuelle Beziehungsgestaltung wesentlich beeinflusst. Die Aufspaltung in entweder „gute“ oder „böse“ Menschen und „Täter“ oder „Opfer“ bedeutet den Versuch des Patienten, seine so von ihm erlebte Beziehungswelt zu ordnen. Ziel der TFP ist es, die inneren Bilder des Patienten von sich selbst und anderen durch die Beziehungserfahrung mit dem Therapeuten (Klärung, Konfrontation, Deutung) so zu verändern, dass Patienten ihre Beziehungen konstruktiver gestalten können.

b. MBT
Das Konzept der Mentalisierung hat sich aus einer psychoanalytischen Tradition heraus entwickelt und integriert Anregungen aus Bindungsforschung, empirischer Säuglingsforschung, Entwicklungspsychologie und Neurologie neu. Die Fähigkeit, in sich selbst und bei anderen Gefühle wahrzunehmen und diese als psychische Phänomene wie z. B. Bedürfnisse, Wünsche, Erwartungen zu begreifen, wird von Fonagy als Mentalisierung (Bateman und Fonagy, 2012, S. XV) bezeichnet. Damit ist die Kompetenz gemeint, sich selbst und andere betrachten zu können und über die inneren Zustände, die hinter einem beobachteten Verhalten stehen, mit ihren Ursachen und Folgen nachdenken zu können. Die MBT geht davon aus, dass die Borderline-Pathologie im Wesentlichen durch eine beeinträchtigte Mentalisierungsfähigkeit entsteht, die sich besonders in affektiven Erregungszuständen, vor allem in intensiven Beziehungssituationen (Verlassenheitsangst) äußert.
Die Aufmerksamkeit im therapeutischen Prozess wird auf Affekte gelenkt, sodass im Zentrum steht, wie der Patient den Therapeuten und sich selbst erlebt und sich – im Unterschied dazu – verhält. Behandlungsziel ist die Verbesserung von Reflexionsprozessen (Mentalisierungsfähigkeit), sodass der Patient mit interpersonalen Beziehungen und emotionalen Zuständen erfolgreicher umzugehen lernt. Mehrere Beiträge konnten den Nutzen der Musiktherapie zur Verbesserung der Mentalisierungsfähigkeit zeigen (Kupski et al. 2014, Hannibal 2014, Strehlow 2014, 2013).

c. DBT
Die Dialektisch-Behaviorale Therapie (DBT) stellt ein störungsspezifisch konzipiertes Behandlungskonzept dar, das in den 90er-Jahren von Marsha M. Linehan (USA) für Patienten mit einer BPS-Diagnose entwickelt wurde. Die DBT verbindet kognitiv-behaviorale Interventionen (Skills-Training, kognitive Umstrukturierung, Expositionstraining, Kontingenzmanagement, Verhaltensanalyse) mit östlichen Meditationspraktiken (Achtsamkeit). Unter dialektischer Strategie wird die Balance zwischen der Akzeptanz eines Pro­blems und dessen Veränderung verstanden. Das Fähigkeiten-Training (innere Achtsamkeit, Stresstoleranz, bewusster Umgang mit Gefühlen, zwischenmenschliche Fertigkeiten und Selbstwert) dient dazu, Affekt- und Spannungszustände besser verstehen und regulieren zu können, sodass selbstschädigende Verhaltensmuster wie z. B. Selbsttötungsimpulse und Selbstverletzungen reduziert oder aufgegeben werden können.

d. Schematherapie
Die Schematherapie ist eine aktuelle Weiterentwicklung der kognitiven Verhaltenstherapie für Patienten mit Persönlichkeitsstörungen und anderen psychischen Problemen. Sie verbindet Elemente der Gestalttherapie und der Bindungstheorie sowie psychodynamische Konzepte zum biographischen Hintergrund der Entwicklung maladaptiver Schemata. Bei einem Schema handelt es sich nach Young u. a. (2005) um ein weitgestrecktes, umfassendes Thema oder Muster, das aus Erinnerungen, Emotionen, Kognitionen und Körperempfindungen besteht. Ein maladaptives Schema (bisher wurden 18 entwickelt) entsteht durch schädliche Kindheitserlebnisse, die die menschlichen Grundbedürfnisse verletzen. Die Behandlung erfolgt durch vier Interventionsprinzipien: 1.) Einschätzung und Edukation über Schemata, 2.) Kognitive Interventionen, 3.) Erlebnisbasierte Interventionen, 4.) Unterbrechung mal­adaptiver Verhaltensmuster durch Methoden der Verhaltenstherapie.

e. Teilstationäre Behandlung
Insgesamt hat sich eine Kombination von Einzeltherapie und Gruppentherapie als speziell für diese Patientengruppe indiziert gezeigt (Bateman und Fonagy 2003). Stationäre Therapien sind zumeist der Beginn einer dann notwendigen langfristigen Behandlung, die später im Rahmen von teilstationären oder ambulanten Behandlungen oft über Jahre fortgesetzt wird. Stationäre oder teilstationäre Aufnahmen können sich – bei funktionierendem ambulanten Setting – ggf. auf kurzfristige Kriseninterventionen reduzieren (Leichsenring 2013, S. 422).

f. Stationäre Behandlung
Diese erfolgt kombiniert mit anderen psychischen Störungen oder in spe­ziell auf diese Klientel zugeschnittenen Einrichtungen. Dulz et. al und andere favorisieren die spezialisierte Behandlung, da sich so insbesondere die „als besonderes brisant gesehenen interpersonalen Probleme der Patienten deutlich reduzieren“ (Dulz et al. 2000, S. 483). Außerdem würden z. B. dort therapieerfahrene Patienten vorleben, dass „eine positive Übertragung zum Therapeuten möglich ist, die Patienten spiegeln sich untereinander bestimmte Beziehungsmuster usw.“ (ebd., S. 483). Besonders für Patienten mit extrem selbstdestruktiver Symptomatik oder einem hohen Maß an desorganisiertem Funktionieren erscheint eine langfristige stationäre Behandlung wichtig. Laut Dulz bedarf gerade die Symbolisierung neuer Erfahrungen mit dem Ziel einer Überarbeitung affektiver Erfahrungen der präsymbolischen Zeit mit der „Notwendigkeit beständiger Wiederholungen auf der Handlungs- wie der Symbolebene“ (ebd., S. 486) eines großen Zeitraumes.
Angstreduktion, schwere Autoaggressivität, ausgeprägte dissoziative Symptome sowie schweres antisoziales Verhalten können auf deskriptiver Ebene und Exazerbation von Symptomen unter ambulanter Traumabearbeitung auf struktureller Ebene Indikatoren für eine stationäre Behandlung sein.


5. Wodurch kann Musiktherapie bei dieser Klientel hilfreich sein?
a. Besonderheiten eines psychotherapeutischen Behandlungszuganges, die sich gut auf die Musiktherapie übertragen lassen

Therapieprinzipien bei BPS (Gabbard 2010, S. 483)
a.    Flexibilität
b.    Schaffen von Bedingungen, die eine Psychotherapie durchführbar machen
c.    Zulassung der Transformation in ein böses Objekt
d.    Förderung der Mentalisierung
e.    Grenzen setzen, wenn diese erforderlich sind.
f.    Abschließen und Aufrechterhaltung des therapeutischen Bündnisses
g.    Handhabung der Abspaltung der Pharmakotherapie von der Psychotherapie
h.    dem Patienten helfen, Aspekte des Selbst wieder anzunehmen, die er verleugnet oder auf andere projiziert hat
i.    Beobachtung von Gegenübertragungsgefühlen

Musiktherpeutische Angbote
Die musiktherapeutischen Interventionen lassen sich durch zwei Pole beschreiben. Der eine Pol stellt beispielhaft musiktherapeutische Angebote zur Bestärkung, Stabilisierung und Ressourcenaktivierung des Patienten in den Vordergrund, während der andere musiktherapeutische Angebote beeinhaltet, die den Patienten konfrontieren und auf die Konfliktverarbeitung fokussieren. In der unten stehenden Übersicht werden musiktherapeutische Angebote in Hinblick auf Bestärkung (links) im Unterschied zu Konfliktorientierung (rechts) unterschieden.
Zum Beispiel öffnet die vom Patienten bevorzugte Musik Spielräume zur Stabilisierung (links angeordnet) , während halboffene (mit Spielregeln) Improvisationsangebote Sicherheit mit Experimentierfreude verbinden und daher im Zwischenbereich von Stabilisierung und Konfrontation angesiedelt sind (mittig angeordnet). Die freie Improvisation fordert besonders die Fähigkeiten des Musiktherapeuten heraus, denn sie birgt am ehesten die Gefahr des bedrohlichen Unbekannten.  Die freie Improvisation bietet damit auch Spielräume für emotional belastende Themen und wird daher dem Pol der Konfliktorientierung zugeordnet (rechts angeordnet).
Die unten stehende Auflistung gibt einen schematischen Überblick, die beiden Pole dienen der Verdeutlichung mit ihren Extremen. Im therapeutischen Alltag handelt es sich jedoch um ein Kontinuum, in dem Bestärkung und Konfrontation in einer Pendelbewegung miteinander abwechseln und sich gegenseitig unterstützen.  
Interventionen und Gestaltung einer musiktherapeutischen Sitzung sollten dem Patienten eine größtmögliche Kontrolle bieten. In der improvisatorischen Aktivität des Therapeuten sind Prinzipien von Sicherheit und Vorhersehbarkeit hilfreich. Für viele Patienten ist der Rückzug oder der Machtkampf die einzige Möglichkeit, sich zu schützen. Der Musiktherapeut hilft dem Patienten, wenn er Machtkämpfe vermeidet und stattdessen Konflikte durch aktives Aushandeln gemeinsam mit dem Patienten löst. Ein Spiel­angebot, „nur einen einzigen Ton zu spielen“, kann für Patienten den Raum zum aktiven kreativen Tun öffnen. Therapiefördernd ist dann nicht so sehr das Spielangebot, sondern die Erfahrung für den Patienten, dass seine Vorstellungen und Befürchtung in der Musiktherapie berücksichtig werden. Musikalisches Erleben in der Musiktherapie kann zu einem sog. Dritten im Sinne eines Beziehungsregulativs werden. Ein wichtiger Aspekt ist auch die Möglichkeit des Probehandelns. In allen obigen Prinzipien erscheint die Einbeziehung der Sprache wesentlich.


b. Indikationen und Kontraindikationen Indikationen:
–    konstruktives Agieren
–    Musik als sicherer Rahmen bei jüngeren Patienten
–    positive musikalische Vorerfahrung

Kontraindikationen (v. a. Gruppen):
–    extrem lautes Spiel, aggressives Agierpotential
–    überängstliches und rückzügliches Verhalten
–    stark dissoziatives Verhalten
–    schwere Traumatisierung
–    häufigere psychotische Episoden (generell)
–    akute Suizidalität (generell)

c. Forschungsüberblick
Schmidt (2002)
Noch um die Jahrtausendwende existierte kaum Forschungsliteratur zur musiktherapeutischen Behandlung von BPS-Patienten. Aktuelle Übersichtsarbeiten zum Einsatz von Musiktherapie in der Psychiatrie gingen zu diesem Zeitpunkt nicht explizit auf BPS-Patienten ein. Loos (1986) beschreibt klinische Evidenz dafür, dass Musiktherapie bei BPS-Patienten Wahrnehmung erleichtern und sowohl intrapsychisch als auch interpersonell Beziehungen knüpfen könne. Durch ein Musikinstrument könne dem häufig primärprozesshaften Erleben des Patienten Struktur entgegengesetzt werden. Auch die Öffnung bezüglich schamhaft verborgener, verdrängter oder verschütteter Emotionen könnte erleichtert werden.
La-Deur (1994) kommt in Reflexion einer Fallvignette zu drei Schlüssen: a) Musikalischer Ausdruck gibt die Möglichkeit, präverbale Inhalte auszudrücken, ohne dabei in Agieren verfallen zu müssen. b) Im musikalischen Dialog kann der Patient in symbiotische Zustände hinein- und aus diesen hinausgehen, ohne der Gefahr einer Ich-Auflösung ausgesetzt zu sein. c) Musik ermöglicht symbolisches Probehandeln. Agieren wird auf eine musikalische Handlungsebene verlagert (s. a. Schmidt 2002).
Mit dem anteiligen Verhältnis von Musik und Sprechen in der Behandlung von BPS-Patienten beschäftigt sich Makowitzki (1995). Er fordert einerseits immer wieder die Modifikation einer Improvisation durch Sprechen, um Agieren zu vermeiden und erlebte Affekte festzuschreiben. Des Weiteren könne es hilfreich sein, wenn Therapeut und Klient jeweils allein spielten, um die Ich-beobachtende Position des Patienten zu fördern.
Schmidt (1995, 1999) untersuchte in einer eigenen Studie mit einem Gesamtkollektiv von 71 Patienten (39 Pat. Diagnose BPS, 32 Pat. mit psychosomatischen und neurotischen Störungen als Vergleichsgruppe) das musiktherapeutische Erleben von BPS-Patienten. BPS-Patienten erlebten Musiktherapie als gute Möglichkeit des Stimmungsausdrucks. Beide Gruppen gaben allerdings im Verlauf eine abnehmende stimmungsveränderende Wirkung an. Zum Teil erschien bewusstes Gefühlserleben jedoch reduziert: Beide Gruppen berichteten z. B., in der Musiktherapie kaum aggressive Gefühle zu erleben. In der Interpretation gab es klinische Evidenz für die Hypothese, dass sich Patienten in der Musiktherapie von den in der parallelen verbalen Einzel- und Gruppentherapie erlebten Affekten durch agierendes Verlagern des Affekterlebens in den unbewussten Bereich entlasten könnten. Musiktherapie hätte so die Aufgabe, ein optimales Widerstandsniveau zu schaffen, im Set der stationären Therapie käme ihr eine Art kompensatorischer Funktion zu. Bei der Frage nach bevorzugter musikalischer Form stand das gemeinsame Erleben eines Klangteppiches im Vordergrund. Hieraus könnte man folgern, dass Musikerleben symbiotisches Erleben aktiviert. Musik wurde generell nicht als möglicher Wortersatz erlebt.
Gerade bei der BPS-Klientel stellten unsere Ergebnisse die häufige klinische Annahme, Musiktherapie sei eine Art affektbewusstmachende Methode, zumindest in Frage.

Strehlow (2011)
Eine von Strehlow (2011) durchgeführte systematisch qualitative Untersuchung konzentriert sich auf psychodynamisch orientierte Einzel-Musiktherapie in der stationär psychiatrischen Behandlung von BPS-Patientinnen (nur Frauen). Die Untersuchung hatte zum Ziel, das Beziehungsgefüge zwischen Patientin und Therapeutin sowie die jeweiligen Interaktionen, die sich durch den Einsatz von Musik ergeben, genauer bestimmen und verstehen zu können.
Die angewandte Methode der „verstehenden Typenbildung“ (Stuhr et al. 2001, Lindner 2006) basiert auf der in den Sozialwissenschaften bekannten Forschungsmethode der Typenbildung. Abstrahierende Ergebnisse werden durch Fallkontrastierung (Ähnlichkeits- und Differenzbezüge) generiert. Durch kommunikative Validierung wird der Forschungsprozess einer Überprüfung unterzogen.
Die Anwendung der „Verstehenden Typenbildung“ bei 20 Patientinnen mit insgesamt 80 Therapie-Sequenzen ergab 10 idealtypische Interaktionsmuster.
Das musikalische Geschehen bietet sich in den Interaktionsmustern u. a. als bestätigende Resonanz (Musik zum Nicht-Alleinsein), als sichere Rückzugsmöglichkeit (Musik als Rückzugsort), als Träger einer idealisierten Hoffnung (Musik als magische Hoffnung) an. Sie verdeutlicht Opfer-Täter-Beziehungen (Musik geht über Grenzen), wird von Patienten manchmal abgelehnt (Musik macht alles schlimmer), eröffnet Spielräume für triadische Strukturen (Musik zur Triangulierung) oder dient der Abgrenzung (Musik als Gegenstimme). Das Spiel mit Disharmonien ermöglicht Distanzierung und Auseinandersetzung mit bedrohlichen Anteilen (Musik erlaubt Disharmonie). Das gemeinsame Spiel mit sich wiederholenden Rhythmen oder Melodien gibt Sicherheit und ermöglicht Bezogenheit (Musik gibt Struktur). Das musikalische Geschehen trägt zur Integration von nicht akzeptierten Anteilen (Musik zur Inte­gration des Ausgeschlossenen) bei. In den obigen 10 Interaktionsmustern verdeutlicht sich der musiktherapeutische Umgang mit BPS- typischen Themen wie Spaltungsphänomenen, Regulierung von Nähe und Distanz, Aggression, Traumagenese, Mentalisierungsfähigkeit und Umgang mit dem fremden Selbst (Strehlow et al. 2015). Gefühle von Angst, Hilflosigkeit und Enttäuschung im Erleben der Therapeutin fordern zur Reflexion auf, damit nicht aus Abwehr vor diesen Gefühlen Wut und Ärger entstehen. Die mithilfe der Verstehenden Typenbildung generierten 10 typischen Interaktionsmuster von BPS-Patienten stellen einen Zugangsweg dar, vor dessen Hintergrund der musiktherapeutische Einzelfall leichter versteh- und handhabbar wird. Die Forschungsarbeit zeichnet sich durch eine hohe Praxisnähe aus, die den psychiatrisch arbeitenden Musiktherapeuten auf die stürmischen Beziehungen im Behandlungsalltag mit BPS-Patienten hilfreich vorbereitet.

Plitt (2012)
Plitt fordert in ihrer 2012 abgeschlossenen musiktherapeutischen Dissertation vor dem Hintergrund von 10 Fallanalysen zur musiktherapeutischen Improvisation mit BPS-Patienten eine Synthese aus musikalischem und verbalen Geschehen. Für sie hängen Improvisation und anschließendes Gespräch fundamental zusammen. Dabei sei vor allem die Analyse gemeinsamer Mikrostrukturen und deren unmittelbarer Bezug zueinander wichtig. Es geht hier weniger um die oft geforderte verbale Aufarbeitung musikalischen Geschehens, sondern um eine untrennbare Synthese beider Anteile. Plitt zeigt, dass in starkem Maße musikalische Strukturen aus der Improvisation ihre Entsprechung im Gesprächserleben vor allem dort finden, wo sich Patient und Therapeut im verbalen Austausch über das Erleben der Improvisation besonders berühren. Gerade diese unmittelbare Berührung beider Anteile stelle Intersubjektivität heraus, dadurch könnten Ängste relativiert, Emotionen neu reguliert, neue Beziehungserfahrungen geschaffen, Selbstkontinuität und Identitätsbildung gefördert und implizites Wissen gefördert werden.

Europäische Forschung
Mit Blick auf die Forschung im europäischen Kontext sind die Arbeiten von Odell-Miller (UK) und Hannibal und Pedersen (DK) erwähnenswert. In den letzten Jahren haben diese Musiktherapeuten ein Netzwerk (European collaboration network) für Musiktherapie und Persönlichkeitsstörung gebildet. Odell-Miller bezieht sich auf die allgemeine Diagnosegruppe der Persönlichkeitsstörungen (PS). Die BPS ist eine Untergruppe der PS.
Odell-Miller (2015, 2007, S. 350) und Hannibal (2003) kommen unabhängig voneinander zu dem Ergebnis, dass ein psychodynamischer Ansatz und freie Improvisation PS-Patienten einen besseren Zugang zu ihrer inneren Welt ermöglichen, denn gerade dieser Klientel fällt es schwer, Gefühle und Vorstellungen verbal auszudrücken.
Die Verbindung von Musik und Gefühlen bietet den PS-Patienten einen emotionalen Erfahrungsraum, in dem sie lernen können, die Bedeutung ihrer Gefühle besser zu verstehen, wodurch die Regulation von Emotio­nen gefördert wird. Die Angst, sich in ein freies kreatives Spiel zu begeben, wird als typisch für die Klientel beschrieben, sodass manche Patienten für den Einstieg strukturiertere Angebote brauchen (Odell-Miller 2015). Obwohl die freie Improvisation großes Potential bietet, ist Vorsicht geboten, gerade mit Blick auf mögliche de­struktive Gefühle. Klarheit in Bezug auf Anfang und Ende der Musik gibt Sicherheit. PS-Patienten erleben es auch als bedrohlich, wenn das Gegenüber bestimmt, daher ist es für die Therapiemotivation förderlich, wenn die Themen vom Patienten ausgehen. Die Erweiterung des Reflexionsvermögens, die Verbindung von Denken und Fühlen und die Verbesserung des Selbstwertes sind zentrale Therapieziele, für die sich Musiktherapie eignet.
Odell-Miller gibt einen informativen Überblick über den Forschungsstand zur Musiktherapie mit PS-Patienten (Odell-Miller 2015). Sie beschreibt diverse qualitative Fallstudien, die unterschiedliche Aspekte und Interventionen bei PS-Patienten untersuchen. Der Umgang mit Aggression in der Musiktherapie wird besonders bei forensischen BPS-Patienten relevant. Compton Dickinson et al. (2013) geben einen Einblick in das herausfordernde Forschungs- und Arbeitsfeld der Musiktherapie mit forensischen Patienten.
Generell gibt es bisher keine quantitativen Studien zu BPS-Patienten. Hier besteht dringender Forschungsbedarf.
An der Universität Aalburg unter Leitung von Hannibal und Pedersen ist eine Europäische-Multicenter-RCT-Studie in Planung. Pilotstudien dazu werden aktuell durchgeführt (Pedersen 2014, Hannibal et al. 2012). Für diese Studie wurde ein speziell auf BPS-Patienten abgestimmtes Manual erstellt, das die Prinzipien des optimalen Stresslevels, des Arbeitens im „hier und jetzt“ und die Förderung der Mentalisierungsfähigkeit in das Zentrum der Behandlung rückt. Mit Spannung werden die Ergebnisse erwartet.


6. Fazit und Ausblick
Die Musiktherapie bietet mit ihrem musikalischen Geschehen einen Handlungsraum an, in dem Patienten für sie wesentliche Interaktionsmuster inszenieren können. Die Regulierung von Nähe und Distanz, also das zentrale Thema dieser Patienten, bekommt durch die Fokussierung auf das musikalische Geschehen und damit auf etwas Drittes neben dem Beziehungsgefüge zwischen Patient und Therapeut einen zusätzlichen Spielraum, der gerade für die Bearbeitung von destruktiven Gefühlen eine wesentliche Erleichterung darstellen kann. Patienten können ihre Wünsche nach Nähe ausdrücken, gleichzeitig kann das Spiel so gestaltet werden, dass die Beziehung zum Therapeuten nicht zu nah wird. Der Therapeut ist gefordert, das Spiel der Patienten in einen stabilen, sichernden Rahmen einzubetten, sodass bedrohliche Anteile nicht mehr vermieden werden müssen, sondern inte­griert werden können. Die Entwicklung des Patienten ist abhängig davon, inwieweit es dem Therapeuten gelingt, das musikalische Geschehen in seiner Bedeutung zu verstehen und dem Patienten musikalisch und sprachlich zugänglich zu machen. Aufgrund der Unmittelbarkeit des musikalischen Geschehens ist der Therapeut mit seinem musikalischen Einfühlungsvermögen gefordert, eine Balance zwischen den konfrontativen und den stabilisierenden musikalischen Interventionsmöglichkeiten zu finden.

7. Literatur
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Hannibal, N./Pedersen, I. D./Bonde, L.O./ Bertelsen, L.R./Dammeyer, C./Lund, H.N. (2012): Manual for procesorienteret musikterapi med personer med BPD [Manual for process oriented music therapy for people suffering borderline personality disorders]. Musikterapi i psyckiatrien online 7(2). Retrieved from http://journals.aau.dk/index.php/MIPO
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Stuhr, U./Lamparter, U./Denecke, F.-W./ Oppermann, M./Höppner-Deymann, S./Bühring, B./Trunkenmüller, M. (2001): Das Selbstkonzept von „Gesunden“. Verstehende Typenbildung von Laien-Konzepten sich gesundfühlender Menschen. In: Psychother. Soz. H. 3 (2), S. 98–118.
Yeomans, F.E. & Diamond, D. (2013): Übertragungsfokussierte Psychotherapie der Borderline-Persönlichkeitsstörung. In: Clarkin, J. F./Fonagy, P./Gabbard, G. O. (Hg.): Psychodynamische Psychotherapie der Persönlichkeitsstörungen. Handbuch für die klinische Praxis. Stuttgart: Schattauer, S. 206–236.
Young, J. E./Klosko, J.S./ Weishaar, M.E. (2005): Schematherapie. Ein praxisorientiertes Handbuch. Paderborn: Junfermann.

 

Die Autoren:

Dr. sc. mus. Gitta Strehlow
Dipl. Musiktherapeutin, seit 15 Jahren Musiktherapeutin in der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Bethesda Krankenhaus Hamburg-Bergedorf und bei Dunkelziffer e. V. (Hilfe für sexuell missbrauchte Kinder).
Nationale und internationale Vortrags- und Lehrtätigkeit. Veröffentlichungen zu den Themen Musiktherapie und Psychotraumatologie, Borderline-Persönlichkeitsstörung und Mentalisierung. Fortbildung in PITT (Psychodynamisch Imaginative Traumatherapie) und MBT (Mentalization Based Treatment).
Bethesda Krankenhaus, Glindersweg 80, 21029 Hamburg, Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!

Prof. Dr. Hans Ulrich Schmidt
Studium der Klavierpädagogik, Gasthörerstudium der Musiktherapie in Hamburg und Wien; Studium der Humanmedizin an der Universität Hamburg; Promotion zum Dr. med. über ein musiktherapeutisches Thema; Zusatzbezeichnung „Psychotherapie“, „Facharzt für Psychotherapeutische Medizin“. W2-Professur als Stellvertretender Studiengangsleiter des Augsburger Mas­terstudienganges Musiktherapie am Leopold-Mozart-Zentrum der Universität Augsburg. Dozent und Supervisor am Masterstudiengang Musiktherapie der Hochschule für Musik und Theater Hamburg. Ärztlicher Psychotherapeut am Ambulanzzentrum und an der Poliklinik für Psychosomatik und Psychotherapie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf. Wissenschaftlicher Beirat und Mitglied der Fortbildungskommission der DMtG.
www.hu-schmidt-psychotherapie.de

Ausbildung

Musiktherapeutische Arbeitsstätte Berlin

Von Viola Schmidt

1. Welche Zugangsvoraussetzungen gibt es?
Als Zugangsvoraussetzung wird mindestens die Fachhochschulreife, ein Mindestalter von 23 Jahren, langjährige Musikpraxis und ein Vorpraktikum in der Krankenpflege oder Heilpädagogik verlangt.


2. Welche Grundqualifikation haben Sie?
Meine Grundqualifikationen sind die allgemeine Fachhochschulreife und eine Heilerziehungspflegeausbildung.


3. Welche Motivation oder welches Interesse hat Sie zu einer musiktherapeutischen Ausbildung geführt?
Die Motivation, eine musiktherapeutische Ausbildung zu machen, entstand in der Arbeit mit Menschen mit Behinderungen. Dort erlebte ich die positive Wirkung von Musik auf den Menschen. Auf der einen Seite wollte ich wieder mehr musikalisch tätig sein und auf der anderen Seite wollte ich gerne lernen, nicht nur rein intuitiv mit Musik umzugehen, sondern gezielt ihre Wirkung zu erkennen und einzuset­zten.


4. Gibt es einen Aufnahmetest? Wenn ja, wie sieht dieser aus und welche Inhalte werden geprüft?
Es gibt einen Aufnahmetest und dieser sieht folgendermaßen aus: Es sollen 3 Stücke aus verschiedenen Stilepochen auf dem eigenen Hauptinstrument vorgespielt werden. Danach soll noch etwas auf dem zweiten Instrument vorgespielt und vorgesungen werden. Als Weiteres werden musiktheoretische Grundkenntnisse und Vom-Blatt-Singen geprüft.


5. Wie lange dauert die Ausbildung?
Die Ausbildung dauert 8,5 Semester.


6. In welcher Form findet die Ausbildung statt (z. B. Wochenende, Blöcke)?
Die Ausbildung findet im Blockkurs-System statt. Ein Block sind 8 Tage Vollzeit pro Monat.


7. Welche Kosten fallen für die Ausbildung an?
Die Kosten dieser Ausbildung sind 51 Monatsraten à 250 Euro. Dazu fallen Extrakosten an wie Einzelunterricht, Kost und Logis bei auswärtigen Kursen sowie Materialkosten bei Spezialkursen, z. B. beim Bau einer Klangharfe.


8. Wie finanzieren Sie das?
Diese Kosten finanziere ich durch eine 60 %-Anstellung als Heilerziehungspflegerin.


9. Welche Fächer gibt es und welche Methoden, Ansätze oder Konzepte der Musiktherapie stehen ggf. im Mittelpunkt?
Wir haben ein sehr breit gefächertes Ausbildungsprogramm. Zu Beginn der Ausbildung haben wir verstärkt Fächer zur Selbsterfahrung, Phänomenologie und Techniken des therapeutischen In­strumentariums und Gesang. Als Weiteres kommen dann verstärkt Fächer dazu wie Psychiatrie und Psychologie, Anatomie und Physiologie, Gesundheits- und Krankheitslehre, Musiktherapeutik, musiktherapeutische Anamneseerhebung und Diagnostik. Es verstärkt sich die Umwandlung der künstlerischen Mittel in therapeutische Mittel. Es stehen die Methoden der anthroposophischen Musiktherapie im Mittelpunkt.


10. Welche Ausbildungsinhalte finden Sie für sich am wertvollsten?
Für mich betrachtet empfinde ich die Vielfalt der Fächer als besonders wertvoll. Bestimmte Ausbildungsinhalte zu nennen fällt mir nicht so leicht, aber ich glaube, dass die Techniken des therapeutischen Instrumentariums für mich eine zentrale Rolle spielen. Das sind in dieser Ausbildung vor allem Leier, Chrotta und Gesang. Wesentlich finde ich auch das Erlernen der verschiedenen Krankheitsbilder, Diagnostik und Behandlungsmethoden.


11. Welche Inhalte würden Sie sich zusätzlich noch wünschen?
Ich würde mir wünschen, dass der Einzelunterricht des musiktherapeutischen Kernistrumentariums stärker im Vordergrund stünde und auch in die Ausbildungskosten integriert würde.


12. Wie groß ist eine Seminargruppe?
Wir sind eine Seminargruppe von 8 Teilnehmern.


13. Von wie vielen DozentInnen und/oder LehrtherapeutInnen wird die Gruppe durchschnittlich betreut?
Das ist eine schwierige Frage bei unserem Kurssystem. Es gibt ungefähr 5 Dozenten, welche verstärkt anwesend sind, dazu kommen ca. 20 Gastdozenten.


14. Welche Nachweise und Prüfungen muss man erbringen?
Als Prüfungen haben wir Instrumentalprüfungen, Referate und eine zentrale Abschlussprüfung. Pro Semester brauchen wir Hospitationsnachweise und wir haben ein kursinternes Vorspiel oder ein Patientenkonzert. Nachweisen müssen wir ebenfalls Protokolle zu den Seminaren. Ebenso brauchen wir Praktikumsnachweise. Im dritten Ausbildungsjahr müssen wir jeweils ein sechswöchiges Musiktherapiepraktikum in einer heilpädagogischen Einrichtung und in einer Klinik absolvieren. Um das Zertifikat zu bekommen, ist ebenfalls ein Nachweis von einem Anerkennungsjahr notwendig.


15. Zu welcher Abschlussqualifikation führt die Ausbildung?
Die Abschlussqualifikation ist ein Zertifikat gemäß den Qualifikationsrichtlinien des BVAKT und der Medizinischen Sektion an der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft am Goetheanum.

 

Die Autorin:

Viola Schmidt
Ich bin 27 Jahre alt, spiele Geige, seit ich 8 Jahre alt bin, und habe in der Kindheit in verschiedenen Orchestern gespielt und Chören gesungen. Später war ich in England und Israel und habe dort mit Menschen mit Behinderungen gearbeitet. Anschließend habe ich am Bodensee in einem Camphill eine Ausbildung zur Heilerziehungspflegerin gemacht. Seit 2013 bin ich glückliche Studierende an der Musiktherapeutischen Arbeitsstätte in Berlin. Hier habe ich das Gefühl, am richtigen Ort zu sein. Auf der einen Seite lerne ich mich selbst nochmal neu kennen und auf der anderen Seite erlebe ich, wie Musik in den vielfältigen Ebenen des Menschen wirken kann.

Zum Mitmachen

Musiktherapeutisches im Alltag

Von Selma Suzan Emiroglu

 

Gefühlvolles Persönlichkeitspingpong – eine Musikmeditation
Werden Persönlichkeiten gestört? Stören Gefühle die Persönlichkeit? Oder prägen Gefühle vielmehr die Persönlichkeit … z. B. zu wütenden Machern, ängstlichen Denkern und berührten Beziehungstypen? Haben Sie schon mal solch auf- bzw. ausgeprägte Gefühle beobachtet, die Gespräche in geistigen Stereotypien gefangen halten wie das Hängenbleiben einer Schallplatte? Ich nenne das Persönlichkeitspingpong: Anstatt sachlich und ruhig zum Thema zu argumentieren, bezieht ein ängstlicher Denker Stellung gegen den euphorischen Vorschlag einer Fühlerin. Ist dabei der Denker wirklich gegen den Vorschlag oder legt vielmehr seine Angst ein Veto gegen die Freude ein? Kommen zwei wütende Macher zusammen, verbünden sie sich durch Lamentieren über Zugverspätungen. Ist die Zugverspätung wirklich so interessant oder fühlen sich die zwei Macher vertraut in lamentierenden Stimmklängen? Ja, sogar in ganzen Nationen findet man Gefühls­prägungen: In Schweden traf ich auf den Ausdruck deutsches Lob für „Das war richtig klasse, aaaaber …“. Ist ein „aber“ wirklich notwendig oder gehört es vielmehr zum seriösen Persönlichkeitspingpong zwischen Herrn Dr. Ernst Zweifel, Frau Dipl. Doloris Trauer und Herrn Felix Freude? Manchmal klingt das Pingpong langweilig, manchmal lebendig, manchmal nervenaufreibend, manchmal lustig – wie eine hängengebliebene Schallplatte eben.
Woher kommen störende oder prägende Gefühle? Und wie gehen Sie mit Gefühlen um, wenn Sie eines entdecken? Zu dieser Frage gibt es mannigfaltige Konzepte. Je nach Konzept wird der Ursprung von Gefühlen unterschiedlich erklärt. Ein Gefühl wird aus unterschiedlichen Quellen gespeist, es wird beeinflusst und ausgelöst durch Persönlichkeit, Grundstimmung und Befindlichkeit, Glaubenssätze, aktuelle Gedanken, eigene Erwartungen und Willen, momentanes Bedürfnis, aktuelle Körperhaltung, den momentanen Zeitpunkt und Aufenthaltsort (Tages-/Jahreszeit, Weltgeschehen, Land, lokale Atmosphäre), Musik oder Umgebungsgeräusche, Wetter, Gefühle anwesender Lebewesen, Handlungen verbundener Menschen, miterlebte Vergangenheit und Kindheit, gerade wahrgenommenes Ereignis … Je nach Herangehensweise können Sie über ein entdecktes Gefühl ein Bedürfnis aufspüren und es sich dann erfüllen [GFK1], Musik mit der Qualität des Gefühls lebendig gestalten [Musiktherapie], einen dem Gefühl entsprechenden Gedanken hinterfragen [The Work2], Ihre Vergangenheit besser verstehen lernen [Psychoanalyse3], die Lebenskraft des Gefühls nutzen [Amana 2007] oder feststellen, dass das Wetter gerade trübe ist [HSP4].
Um bewusst mit Gefühlen (hier als Sammelbegriff auch für Emotionen, Stimmungen und Zustände gebraucht) umzugehen, liegt der erste Schritt vieler Konzepte darin, ein entdecktes Gefühl kennenzulernen. Und wie ließe sich dies besser üben als mit Musik?! (War das ein Pinnng einer euphorischen Musiktherapeutin? ;-) ) Mit Musik werden reine Gefühle erlebt – ohne Bezug zur Realität, ohne Bedeutung aus der persönlichen Geschichte. Und Musik ist vergänglich, mit ihr und wie sie kommen und gehen Gefühle.
Darf ich Sie nun zu einer gefühl(s)-vollen Meditation einladen? Legen Sie sich eine CD mit Musik zurecht, die Sie berührt … Dann machen Sie es sich bequem und geben sich selbst Zeit zum Ankommen. Spüren Sie die Kontaktstellen mit dem Stuhl, dem Boden, der Luft … Um sich selbst immer wieder daran zu erinnern, dass das Gefühl zu Ihnen gehört, Sie aber nicht das Gefühl sind, können Sie es mit unterschiedlichen Formulierungen benennen. Welcher der folgenden Ausdrücke vermittelt Ihnen einen annehmenden und gleichzeitig handlungsfähigen Beobachtungsabstand zum Gefühl: „Da ist eine Angst“ oder „Da ist etwas Ängstliches“ oder „Ich fühle mich ängstlich“? Wenn Sie sich auch die Vergänglichkeit eines Gefühls deutlich machen wollen, fühlen Sie sich vielleicht sicherer mit „Da war eine Angst“ oder „Ich mache gerade ängstlich.“? Fällt Ihnen eine weitere Formulierung ein?
Nun lauschen Sie dem Musikstück. Im ersten Schritt lokalisieren Sie Klänge im Körper: Wo spüren Sie die dunklen Klänge, wo die hellen? Wo prickelt jetzt gerade die Geige, wo brummt der Kontrabass, wo pocht das Schlagzeug? Kitzeln Sie die sanften Klänge der Flöte im Hals oder im Kopf, die rauen Klänge des Cello im Bauch oder im Oberschenkel?
Im nächsten Schritt gehen Sie auf Entdeckungsreise auftauchender Gefühle und lokalisieren Sie sie im Körper. Während Sie Ihrer Musik lauschen, taucht in der Brust eine Traurigkeit auf: „Aha, da ist eine Traurigkeit!“ Kurze Zeit später ballt sich etwas im Bauch zusammen: „Da ist etwas Wütendes!“ Benutzen Sie zur Benennung Ihren Ausdruck (s. o.), beobachten Sie die Gefühle, wie sie kommen, sich kurz in Ihnen niederlassen und wieder gehen … Verweilt ein Gefühl ein wenig länger, begrüßen Sie es sinnlich und beschreiben Sie es: Ist es warm oder kalt, eckig oder rund, blau, rot, quietschend, ratternd …?
Der letzte Schritt findet in Stille statt. Stoppen Sie dazu die CD. Nun denken Sie an ein vergangenes Erlebnis und beobachten, was Sie in Ihrem Körper spüren: Ist da etwas Freudiges im Bauch? Spüren Sie Langeweile in den Schultern? War da geborgene Wärme in der Brust? Verweilen Sie eine Weile mit dem Gefühlskonglomerat und machen Sie es sich detailliert bewusst: Die Langeweile in den Schultern fühlt sich hängend und schwach an. Die Freude ist kribbelig, orange und glucksend …
Persönlichkeitspingpong kann lebendig und lustvoll sein. Die Angst vor den eigenen Gefühlen kann allerdings manches Gespräch stereotypisch monoton gestalten. Lernen Sie Ihre Gefühle übers Spüren kennen und lieben, bewegt sich die eigene Schallplatte im Kopf öfter zur nächsten Rille. Viel Freude beim Pingpongspielen mit bunteren Bällen!

 

Die Autorin:

Selma Suzan Emiroglu
Geb. 1976. Musiktherapeutin, Physikerin mit Promotion im Bereich Psycho­akustik, Folkmusikerin. Derzeit musiktherapeutisch tätig mit Kindern und Jugendlichen mit geistiger Behinderung, Seminaren zur Burnout-Prophylaxe und begleitendem Einzelmusikcoaching.
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Referenzen, Literatur und weiterführende Information:


1    GFK nach Marshall Rosenberg: http://de.wikipedia.org/wiki/Gewaltfreie_Kommunikation
2    The Work of Byron Katie: http://thework.com/de
3    Psychoanalyse: http://de.wikipedia.org/wiki/Psychoanalyse
4    HSP (Highly Sensitive Person) nach Elaine Aron: http://www.zartbesaitet.net
Nidiaye, Safi (2014): Die 10 Herzensschlüssel: Ausgeglichen und gesund mit Körperzentrierter Herzensarbeit. München: Gräfe und Unzer.
Röcker, Anna E. (2010): Klang als Weg zur Achtsamkeit. München: Südwest-Verlag.
Rokeach, Milton (1960): The Open and Closed Mind. New York: Basic Books.
Virani, Amana (2007): Gefühle. Eine Gebrauchsanweisung. Rettenbach: V.C.S. Dittmar Verlag.
Winkler, Werner (2005): Warum sind wir so verschieden? Psychographie als Schlüssel zur Persönlichkeit. München: mvg-Verlag.

Weitere Beiträge...

  1. Heft 28 (2015) ist erschienen!