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Kleine Hilfen mit Atem, Bewegung und Stimme

Von Sabine Rittner

„… spiele friedlich mit der Wirklichkeit der Welt“ – Eine Bewegungsmeditation
In der letzten Ausgabe der MuG habe ich Ihnen 7 Mini-Meditatio­nen für kurze körperbezogene Bewusstseinsmomente mitten im Alltag vorgestellt. Demgegenüber lade ich Sie heute ein, sich eine längere, etwa einstündige Auszeit zu gönnen für eine faszinierende Bewegungsmeditation, die zu meinen absoluten persönlichen Favoriten zählt. Sie ist inspiriert von „Tandava“, einer Urform des Yoga der Bewegung, das seit 5–6000 Jahren im Indus-Tal überliefert ist. Hier können Sie die meditative Bewusstseinsqualität der „hellwachen Entspanntheit“ weiter kultivieren, die unserem Gehirn einen Zustand optimaler Synchronisation und Vernetztheit ermöglicht und unserem Körper ermöglicht, sich zu regenerieren und selbst zu heilen. Tandava ist ein freier, zeitlupenartig verlangsamter Tanz, der zu einer Erfahrung von Räumlichkeit, Weite und Freiheit auf den Ebenen des Körpers, der Emotionen und des Geistes führen kann. Die Sanskrit-Silbe „Tan“ bedeutet dabei Ausdehnung, Ganzheit, Dauer, das Wort „Tandava“ bedeutet in etwa Tanz des Kosmos. Vergleichen wir unseren Körper mit einem sensiblen Saiteninstrument, so schwingt es, wenn es gut gestimmt ist, in Resonanz mit seiner Umgebung und spielt sich „wie von selbst“, d.h. aus der Fülle unserer Selbstqualitäten heraus. Ist es zu stark gespannt, drohen die Saiten zu reißen (was u.a. zu Schmerzen, Leistungsdruck, Hypertonie, den Kopf zu voll haben führen könnte). Sind die Saiten jedoch zu locker, können sie nicht schwingen und es kann ihre ureigene Musik auf ihnen nicht hörbar werden (was entsprechend Motivationsmangel, Schlaffheit, Unzufriedenheit, Antriebsschwäche, Hypotonie etc. verursachen könnte). Tandava oder der mystische „Tanz des Shiva und der Shakti“, wie diese Meditation auch genannt wird, unterstützt Sie dabei, ihr Körperinstrument optimal zu stimmen, es zu eutonisieren, damit es seinen Wohlklang wieder frei entfalten kann. Wenden wir uns nun konkret dem Ablauf der Bewegungsmeditation zu.

Vorbereitung
Nehmen Sie sich etwa 60 Minuten Zeit und wählen Sie einen Ort, an dem Sie während der Meditation ungestört sind. Legen Sie gut sichtbar eine Uhr in Ihre Nähe. Außerdem brauchen Sie Papier, etwas zum Schreiben und Farbstifte/Wachsmalkreiden, wenn Sie das möchten. Setzen Sie sich bequem und aufrecht hin, entweder auf ein Meditationskissen oder einen Hocker, so wie es für Sie leicht und angenehm ist.

Einstimmung
Fokussieren Sie sich sehr kurz auf ein Thema, das Ihnen am Herzen liegt, auf eine Frage, ein Anliegen. Bündeln Sie dieses Anliegen in einem klaren Satz, schreiben Sie diesen Satz, diese Frage auf und drehen das Blatt dann um. Lassen Sie es los, indem sie es imaginativ an einen guten Platz irgendwo dort draußen vertrauensvoll ablegen. Stellen Sie sich vor, dass gut dafür gesorgt wird, Sie sind jetzt nicht mehr zuständig.

Phase 1: 5 Minuten
Setzen Sie sich aufrecht und entspannt hin, wenn es Ihnen leicht fällt in Meditations-Sitzhaltung, schließen Sie die Augen oder lassen Sie Ihren Blick entspannt auf etwas Angenehmem in Ihrer Nähe ruhen. Lauschen Sie…, spüren Sie…, schauen Sie der Bewegung Ihres Atems zu…, wandern Sie weiter, von einer Wahrnehmung zur nächsten, ohne irgendwo „anzuhaften“ oder irgendetwas zu bewerten. Stellen Sie sich vor, wie sich nach und nach überall in Ihrem Körperinnenraum ein Leuchten ausbreitet.

Phase 2: 5 Minuten
Zeitlupenartig lassen Sie jetzt sehr (!) langsame Bewegungen Ihrer Hände, Unterarme, Oberarme, Schultern, Ihres Oberkörpers entstehen. Schauen Sie diesen Bewegungen innerlich zu und lassen Sie sich in jedem Augenblick von neuem überraschen, welche Bewegung als nächstes kommen möchte. Ich empfehle Ihnen, die Augen defokussiert leicht geöffnet zu lassen, ihre Zunge liegt entspannt im unteren Gaumen, der Nacken ist weich, Ein- und Ausatem bewegen tief unten den Bauch.

Phase 3: 15 Minuten
Setzen Sie jetzt Ihre Bewegungen im Stehen fort. Stellen Sie sich dazu sehr breitbeinig hin, die Knie gebeugt, dabei stehen die Füße deutlich weiter auseinander, als Ihr Becken breit ist. Stellen Sie sich vor, Sie „reiten auf einem majestätischen Tiger“. Lassen Sie die sehr langsamen, freien Bewegungen sich auf Ihren gesamten Körper ausbreiten. Dabei geben Sie viel Raum unter Ihren Achseln und zwischen Ihren Beinen frei. Stehen Sie immer auf beiden Füßen, auch wenn sich vielleicht manchmal das Gewicht verlagert, bleiben Sie flexibel und weich am Platz stehen, die Knie sind gelöst, gebeugt in einer Linie über den Zehen, der Kopf bleibt oben, die Arme sind weich. Atmen Sie tief vom Bauch her und hinten vom sich hebenden und senkenden Steiß, dabei lockt der Einatem die sanft aufsteigenden Bewegungen hervor, der Ausatem die absteigenden Bewegungen. Wichtig ist: Beide Seiten des Körpers bewegen sich unabhängig voneinander, das linke Knie weiß nicht, was der rechte Arm macht… Lassen Sie sich in jeder Sekunde von neuem überraschen, wohin Sie die nächste langsame Bewegung der rechten Hand, der linken Schulter, des unteren Rückens… führen möchte. Körperempfindungen, Gefühle, Bilder, Gedanken… alles was auftaucht, lassen Sie weiterziehen, um immer wieder neugierig zuzuschauen, wohin die nächste Bewegung Sie führen möchte. Kundschaften Sie die Sphäre, die Sie umgibt, aus, streicheln Sie den Raum wie eine Substanz, bewegen Sie sich wie im Wasser. Entspannen Sie immer wieder auch die Zunge.
Diese eigentliche „Tandava“-Phase der Meditation hat nichts von Ausdruckstanz oder Expression, sie möchte Sie im Gegenteil verlocken, sich hineinfallen zu lassen in die Glückseligkeit des Nicht-Wissens, in die Ekstase des Augenblicks. Seien Sie immer wieder offen für das, was Ihnen der nächste Augenblick zeigen, wo er Sie hinführen wird, welche Bewegung als nächstes wie von selbst entsteht. Sollten hier und da Gefühle oder Gedanken auftauchen, messen Sie ihnen keine Bedeutung bei. – Nach einer ganzen Weile könnte es sein, dass Ihr Tanz Töne aus Ihnen hervorlocken möchte. Dann lassen Sie dies geschehen und lauschen Sie, wie Ihr Körper die fließenden Bewegungen zu Stimm-Klang werden lässt und Klang zu Bewegung wird, beides untrennbar verbunden.

Phase 4: 5–10 Minuten
Nach genau einer Viertelstunde des Tanzens setzen Sie sich recht plötzlich hin. Lauschen Sie in die Stille hinein und spüren Sie die feinen Vibrationen überall in Ihrem Körper, den Raum, der entstanden ist, die Lebendigkeit, die in Resonanz ist mit allem, was Sie umgibt. Gleiten Sie mit Ihrer Aufmerksamkeit im Innenraum Ihrer Körperteile herum „wie ein Kanu auf einem Dschungelfluss“.

Ausklang
Am Schluss lesen Sie sich Ihr Anliegen, Ihre Frage vom Anfang nochmals durch und malen Sie, schreiben Sie intuitiv, was immer sich jetzt zeigt. Auch dies geschieht in der Haltung des Staunens, des Interesses, der Neugierde: Schauen Sie den Händen zu, was sie malend sichtbar machen, was sie schreibend ausdrücken möchten, „wie vom Selbst“. Das Tor zu Ihrer Intuition, zu Ihrer inneren Weisheit, ist jetzt weit geöffnet. Wenn möglich, tauschen Sie sich abschließend mit jemandem aus über das, was Ihnen begegnet ist in dieser Jahrtausende alten Bewegungsmeditation. Sie gewinnt sehr an Intensität, wenn Sie sie mit anderen Menschen gemeinsam praktizieren. In diesem Falle ist es jedoch einfacher, die Augen beim Tanzen geschlossen zu halten, um sich nicht mit den Bewegungen der anderen zu vergleichen und ablenken zu lassen. Sollten Sie sich in einem fragilen psychophysischen Gesundheitszustand befinden, so empfehle ich, sie in Begleitung einer kompetenten Person Ihres Vertrauens zu machen.
Falls Sie jetzt den Eindruck haben, dass die Praxis des Tandava anspruchsvoll ist, so lassen Sie sich trösten: Daniel Odier, der diese Form der Meditation (aus der Kaula-Tradition des kaschmirischen Tantrismus) lehrt, ist der Ansicht, man bräuchte 10 Jahre der täglichen Übung, um eine leise Ahnung davon zu bekommen, in welche Dimensionen diese Meditationspraxis führen kann. Alles, wozu ich Sie hier einlade, ist lediglich, einen Hauch davon zu schnuppern, einer leisen Schwingung davon zu lauschen, ohne jeden Anspruch auf Perfektion. Abhinavagupta, ein Philosoph, der im 5. Jahrhundert in Kaschmir lebte, schreibt in einem seiner Gedichte: „Stelle dich gleich außerhalb des geistigen Fortschreitens, außerhalb der Versenkung, […] außerhalb des Forschens, außerhalb der Meditation. […] Höre wohl! Binde dich nicht länger an dieses oder jenes […], bleib in deiner wahren, absoluten Natur, spiele friedlich mit der Wirklichkeit der Welt.“

Die Autorin:

Sabine Rittner
ist Musikpsychotherapeutin, approb. Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin, Psychotherapeutin (HP), Hypnotherapeutin, Traumatherapeutin mit Spezialisierung in der Arbeit mit veränderten Bewusstseinszuständen, körperorientierter Therapie und systemischer Therapie mit der inneren Familie (IFS). Sie ist tätig am Institut für Medizinische Psychologie der Universitätsklinik Heidelberg (Lehre, Psychotherapie, Musiktherapie- und Bewusstseinsforschung), sowie in eigener Praxis (Therapie, Supervision, Coaching). Umfangreiche Publikationen zu den Themenkomplexen Bewusstseinsforschung – Klang – Trance – Stimme – Musiktherapie u.a. Weitere Informationen unter:
www.SabineRittner.de