Editorial

Von Immigration und Exmigration


Die Bevölkerung der BRD wächst wieder! Diese Nachricht ging in der 2. Januarwoche durch die Medien und entlastete unsere Nation in ihren Untergangs-Ängsten, denn in der 1. Januarwoche titelten die Medien unterschiedlich dieselbe Botschaft aufgrund der demographischen Prognosen für 2050: Wir werden ein nationales Altenheim.
Die Freude am Wachstum währte für Kenner weiter, für Skeptiker gegenüber Einwanderung schrumpfte sie beim Weiterlesen der o.e. Nachricht, denn unser Bevölkerungswachstum ist nur auf die steigenden Einwanderungszahlen zurückzuführen.
Dabei haben wir unser Auferstehen aus selbstverschuldeten Ruinen im Wirtschaftswunder der 60er Jahre auch eben diesen zu verdanken: Menschen, die bereit und vertrauensvoll genug waren, ihre Heimat zu verlassen und zu immigrieren: zu uns.

Die Problemdimensionen und aus ihnen resultierende Konflikte sind damals wie heute unter vielen anderen
mangelhafte Einbürgerungshilfe von unserer Seite als Gastland– und hoffentlich eines Tages Heimatland,
förderungsbedürftige Integrationsbereitschaft ,
Isolation durch Sprachbarrieren und in Folge dieser mangelhaftes wechselseitiges Verstehen der Unterschiede in Kultur und damit Erziehung, damit Religion und damit Unterdrückung der reichen Vielheit, die zur „Einheit im Vertrauen“ werden sollte, könnte und muss.
In den 60er Jahren hatten wir jedoch weder das heutige Problembewusstsein noch die Instrumente der Problem- und Konfliktlösungsmöglichkeiten. Und lösen müssen wir, wollen wir, weil sonst die psychische Entwicklung unserer migrierenden Mitbürger innerhalb der BRD statt Immigration eine Exmigration bedeuten würde, ob diese zur Rückkehr in die Heimat führt oder in die seelische Vereinsamung und Erkrankung. Beides wäre ein menschliches wie gesellschaftliches wie politisches Versagen.
Das Schwerpunktthema nimmt sich durch die vier Autoren der Musiktherapie als einem der vielleicht wichtigsten Instrumente zum Aufbau dieses Vertrauens bei ausländischen Mitbürgern an, auf jeden Fall einem der nahe liegendsten Instrumente: music is crossing borders.
Therapeutische Interventionen bei Migrationsproblemen sind überfällig und musiktherapeutische Interventionen ebenso eindrucksvoll wie nachhaltig, wie die Arbeiten der Autoren aus Praxis und Feldforschungsaspekten zeigen. MuG 23 soll ein Beschleuniger der Migranten-Entwicklungshilfe sein – Entwicklungshilfe für unsere eigene Gesellschaft durch therapeutische Begleitung von Gästen, die Heimat finden mögen.

Arbeit mit Migranten einschließlich der ersten Fälle von ebenfalls zunehmenden Asylbewerbern erinnert an Strukturparallelen zu Erfahrungen mit deprivierten (früherer Begriff: hospitalisierten) Patienten – nur, dass es sich hier um therapeutisch ausgerichtete Eingliederungshilfe in die Gesellschaft handelt, nicht um die Therapie in einer Klinik oder in einem Heim und nicht nur um einzelne, sondern hoffentlich oft mit deren Familien.
In der bestehenden musiktherapeutischen Praxis kommen die musiktherapeutischen Handlungsrepertoires vieler KollegInnen hinzu, die im Bereich musiktherapeutischer Salutogenese oder der Community Music Therapy arbeiten.
So vermeiden wir eines Tages die nicht seltene Situation, dass ein neu in die Hauptschulklasse gekommener 14jähriger Muslim mit dem Stuhl auf seine ahnungslose Lehrerin einschlagen will, weil diese seinen circle of protection durchbrach, der anders und größer war als der bei ihren deutschen Schülern und sie dies nicht wusste.
Die weitere MuG wird gefüllt mit den vertrauten Rubriken (s. Inhaltsverzeichnis, blättern Sie zurück). Eine neue Rubrik kristallisiert sich heraus: Geburtstags- u.a. Würdigungen als Anlass für die Lebens-Schichten von MusiktherapeutInnen, die uns die Geschichte unseres Faches lebendig halten. Lesen Sie über zwei prominente Musiktherapie-Mitgestalter, die jetzt 60 wurden (S.…34f.).

 

Ihr
Hans-Helmut Decker-Voigt

(für den Herausgeberkreis)