Schwerpunktthema II

Wenn Eltern sich trennen – Chancen und Risiken für die Kinder

Von Thomas Stegemann und Georg Romer

 

Fallvignette
Schon bevor L. geboren wurde, war die Beziehung seiner Eltern sehr brüchig und nach der Geburt ihres ersten Kindes stritten sich der 19-jährige Vater und die noch minderjährige Mutter ständig. Wegen der Beziehung zu einer anderen Frau – Hauptgrund der Streitigkeiten – verließ der Vater schließlich die junge Familie. Die Mutter, plötzlich auf sich allein gestellt, brachte L. bei ihrer Mutter unter, die vorerst zu seiner Hauptbezugsperson werden sollte. Auch der Bruder seines Vaters kümmerte sich um L., was jedoch dazu führte, dass L. zwischen dem Haushalt seiner Großmutter und dem seines Onkels hin und her gereicht wurde. Zum Vater bestand kaum Kontakt; auch die Mutter, die mutmaßlich als Prostituierte „anschaffen ging“, war die meiste Zeit nicht für L. präsent. Obwohl sich die Eltern, als L. 2 Jahre alt war, wieder versöhnten und auch ein zweites Kind bekamen, blieb L. zunächst bei seiner Großmutter wohnen. Erst als sich die Eltern erneut trennten – L. war inzwischen 5 Jahre alt – und die Mutter ernsthaft erkrankte, kehrte L. zu ihr und seiner Schwester zurück. Ohne die Fürsorge und die Struktur, die ihm seine Großmutter hatte bieten können, und unter den negativen Einflüssen der neuen sozialen Umgebung entwickelte L. eine Störung des Sozialverhaltens mit oppositionellem, aufsässigem Verhalten. Als L. im Alter von 12 Jahren zu Silvester mit einer Handfeuerwaffe, die er einem seiner „Stiefväter“ entwendet hatte, auf der Straße in die Luft schoss, wurde er durch die Polizei der Jugendhilfe zugeführt. L. wurde daraufhin im Rahmen eines neuen sozialen Projektes fremduntergebracht. Musik spielte in der Institution eine große Rolle und so bekam L., der unbedingt in der hauseigenen Band mitspielen wollte, seinen ersten Trompetenunterricht. Dieses Ereignis veränderte sein ganzes Leben und sollte der Beginn einer unvergleichlichen Karriere sein: 20 Jahre später schrieb der mittlerweile berühmt gewordene L. an den Direktor des Heimes: „Ich werde nie die Menschen vergessen, die alles für mich getan haben. Obwohl ich aus dem Waif’s Home fort bin, habe ich das Gefühl, ganz in der Nähe zu sein. Ich habe nie anders empfunden… Bin immer stolz, der Welt von dort zu erzählen, wo mein Weg als erstklassiger Musiker begann.“ (Bergreen, 2000, S. 102).
Unterschrieben war der Brief mit „Louis Armstrong“.

Sicherlich ist die Geschichte des kleinen Louis Armstrongs nicht die des „typischen“ Trennungskindes, aber sie zeigt eindrücklich, wie der Lebensweg eines Menschen trotz (oder vielleicht auch wegen) der Trennung der Eltern, bzw. seiner Trennung vom Vater und zeitweise von beiden Elternteilen, eine positive Entwicklung nehmen kann. Dieser Artikel fokussiert daher – neben den bekannten ungünstigen Auswirkungen von Trennung und Scheidung auf die betroffenen Kinder – insbesondere auf die Chancen und positiven Aspekte, die sich für die (neue) Familie und die Persönlichkeitsentwicklung der Kinder und Jugendlichen ergeben können.

Statistisches
Im Jahr 2012 wurden in Deutschland 179.147 Ehen geschieden (statista.com). Damit liegt die Scheidungsquote, die seit 2005 leicht rückläufig ist, aktuell bei 46,23 %, d. h., fast jede zweite Ehe wird geschieden (im Vergleich: die Scheidungsquote 1960 lag bei 10,66 %). In der Hälfte der Scheidungsfälle sind Kinder betroffen; im Jahr 2012 ca. 143.000 minderjährige Kinder (destatis.de). Nach den im Rahmen des Kinder- und Jugendgesundheitssurveys (KiGGS) erhobenen repräsentativen Daten lebten 85,9 % der befragten Kinder und Jugendlichen in einer vollständigen Familie (Erhart et al., 2007). Aktuelleren Zahlen zufolge ist die Anzahl der Alleinerziehenden von 1996 bis 2010 von 1,3 auf 1,6 Mio. angestiegen, während die Gesamtzahl der Familien mit minderjährigen Kindern in der gleichen Zeitspanne von 9,4 auf 8,2 Mio. gesunken ist (Statistisches Bundesamt, zitiert nach Monitor Familienforschung, 2012). Das bedeutet, dass knapp 20 % der Familien mit minderjährigen Kindern von Alleinerziehenden geführt werden, in neun von zehn Fällen von der Mutter. Nach wie vor stellt die Ein-Eltern-Familienkonstellation ein Armutsrisiko dar: Vollständige Familien weisen in 23,6 % einen niedrigen sozioökonomischen Status auf, während es bei den unvollständigen mit 51,2 % über die Hälfte sind (Erhart et al.,2007).

Trennung/Scheidung:
Ursachen und Verlauf
Die Auflösung einer Paarbeziehung ist in den seltensten Fällen ein „spontaner“ Entschluss, sondern in der Regel die Konsequenz eines länger andauernden Prozesses von Entfremdung und Distanzierung der Partner. Durchschnittlich erfolgte 2012 eine Scheidung nach 14 Jahren und 7 Monaten Ehedauer (destatis.de). Zartler und Werneck (2004) betonen den Funktions- und Bedeutungswandel von Ehe bzw. Partnerschaften, der sich im vergangenen Jahrhundert vollzogen hat: Die „Wirtschafts- und Arbeitsgemeinschaft“ ist zugunsten einer „Partnerbeziehung (…), welche die Erfüllung persönlicher Glückserwartung verspricht“ (S. 59) in den Hintergrund getreten. Verbunden damit haben sich auch die gegenseitigen Erwartungen der Partner deutlich verändert (dies gilt beispielsweise für die Aufgabenverteilung im gemeinsamen Haushalt). Die fehlende Kongruenz dieser Erwartungen und Ansprüche – insbesondere bei mangelnden Kommunikations- und Konfliktlösekompetenzen – kann als wesentlicher Faktor für einen negativen Beziehungsverlauf angesehen werden.

Kraul et al. (2008) unterscheiden drei Phasen der Scheidung:
1.    Ambivalenzphase: Unsicherheit und Unentschlossenheit
2.    Scheidungsphase: Verstärkung der aggressiven Konflikte
3.    Nachscheidungsphase: von der juristischen zur psychischen Scheidung

Aus Sicht der Kinder hängt die gelingende Verarbeitung der Scheidung in erster Linie vom „Konfliktniveau der Eltern, der sozialen Unterstützung durch geeignete AnsprechpartnerInnen (v. a. Geschwister und Großeltern) und ihrem Informationsstand über die elterliche Trennung“ ab (Zartler & Werneck, 2004, S. 105). Weil Zeitpunkt und Art der Information der Kinder von großer Relevanz sind, schlägt Figdor (2012) vor, „die Information der Kinder von der stattgefundenen oder bevorstehenden Scheidung, also die Mitteilung über die unwiderrufliche Trennung der Eltern, als ‚psychologischen Scheidungszeitpunkt‘ zu definieren“ (S. 28f.).
Dieser „psychologische Scheidungszeitpunkt“ stellt für Kinder einen radikalen Einschnitt in ihr Leben und in ihr Lebenskonzept dar. Sie erleben – häufig zum ersten Mal – den „Verlust“ eines nahestehenden Menschen (denn der scheidende Elternteil verlässt nicht nur den Partner, sondern auch die Kinder) und sie müssen registrieren, dass „Liebe“ endlich sein kann: Beides löst Angst aus. „Diese Angst, die viele Kinder auch ganz bewußt erleben, leitet sich in erster Linie von der – schockierenden – Erfahrung über die Vergänglichkeit der Liebe her. ‚Mama und Papa verstehen sich nicht, haben viel gestritten und lieben sich nicht mehr wie früher…‘ – so oder ähnlich erklären die meisten Eltern ihren Kindern den Grund für die Scheidung. Nichts liegt näher, als daß sich das Kind sagt: ‚Wenn die Mama den Papa nicht mehr liebhat und ihn verläßt/wegschickt, wer weiß, ob sie mich morgen, übermorgen vielleicht ebenso nicht mehr mag und auch von mir fortgeht oder mich wegschickt?‘“ (Figdor, 2012, S. 38). Neben der Angst sind es vor allem auch Schuldgefühle, die die betroffenen Kinder quälen. „Die Entwicklung von Gefühlen, an der Scheidung der Eltern schuld zu sein, ist in der Tat eher die Regel als die Ausnahme (…)“ (Figdor, 2012, S. 37). Zu den weiteren typischen Reaktionen/Symptomen von Kindern während der Scheidung gehören: Trauer, Wut/Aggressionen, Verleugnung/Affektisolierung, regressive Tendenzen, Antriebslosigkeit, Schulprobleme, Pseudo-Autonomie („Notreifung“). Generell lässt sich sagen, dass im ersten Jahr nach der „psychologischen Trennung“ praktisch alle der oben aufgeführten „Symptome“ auftreten können, ohne dass es eine Aussagekraft für die weitere Entwicklung hätte. Bedenklich ist es eher, wenn keine Reaktionen/Symptome zu beobachten sind. Aus „Rücksicht“ auf die belasteten Eltern (oder einen Elternteil) bzw. aus der bewussten oder unbewussten Angst heraus, auch verlassen zu werden, verhalten sich nicht wenige Kinder besonders angepasst und „kompetent“, um Konflikte in der Familie zu vermeiden. In der Hoffnung, ihre Eltern wieder zusammenbringen zu können, betätigen sich viele Kinder auch als „Mediatoren“ oder „Streitschlichter“, wodurch die Gefahr für die Kinder, in eine Loyalitätsfalle zu geraten, besonders hoch ist. Mit den Worten Figdors besteht die „wichtigste und zugleich schwierigste Aufgabe, die sich Eltern in dieser schwierigen Zeit nach der Scheidung (bzw. Scheidungsinformation) stellt, (…) darin, die Schuld am Leid der Kinder mit gutem Gewissen auf sich zu nehmen“ (2012, S. 50).

Die Perspektiven der Kinder
Die US-amerikanische Psychologin E. Mavis Hetherington hat die Ergebnisse aus drei Langzeitstudien zu Scheidungsfolgen, in welche die Befragungen von über 2.500 Kindern und annähernd 1.400 Familien eingingen, in einem viel beachteten Buch zusammengefasst (Hetherington & Kelly, 2003). Auf der Grundlage von Verläufen, die z. T. bis zu 30 Jahre umfassen, räumt Hetherington mit einigen gängigen Mythen auf: Dazu gehört beispielsweise die Annahme, dass „Kinder immer die Leidtragenden einer Scheidung“ sind. Die Untersuchungen haben gezeigt, dass in den ersten zwei Trennungsjahren die meisten Kinder emotionale, soziale und Verhaltensstörungen aufweisen. Zwei Jahre nach der Trennung kommen die meisten Jungen und Mädchen jedoch wieder ganz gut zurecht (S. 169). Auch wenn sechs Jahre nach der Trennung die Rate der Auffälligkeiten bei Kindern aus geschiedenen bzw. wiederverheirateten Familien doppelt so hoch ist wie bei Kindern aus vollständigen Familien, zeigen sich bei der Mehrzahl der Betroffenen keine negativen Auswirkungen mehr. Im Gegenteil: „Die Herausforderungen, die mit einer Scheidung und dem Leben mit nur einem Elternteil einhergehen, scheinen tatsächlich bei manchen Kindern die Fähigkeit zu stärken, zukünftige Belastungen besser zu bestehen“ (Hetherington & Kelly, 2003, S. 215).
Hetherington (Hetherington & Kelly, 2003) zieht aus ihrer Forschungstätigkeit folgende Schlussfolgerungen:

Lektion 1: Verschiedenheit
„Misstrauen Sie Durchschnittswerten.“ Hetherington betont in ihrem Fazit zu den Langzeitstudien, dass das Auffallende in ihren Untersuchungen nicht die „Vorhersehbarkeit oder Unvermeidlichkeit“ bestimmter Entwicklungen war, sondern vielmehr die große Heterogenität und Individualität von Beziehungsverläufen.

Lektion 2: Geschlechtsspezifische Unterschiede
Bei allen Ähnlichkeiten, die Männer und Frauen aufweisen, gilt es wichtige geschlechtsspezifische Unterschiede zu berücksichtigen, z. B. in der Art der Kommunikation, der Nähe-Distanz-Regulation oder der Art, mit Konflikten umzugehen. Bezogen auf die Kinder bedeutet dies beispielsweise, dass die Studien gezeigt haben, dass vorpubertäre Jungen mehr Schwierigkeiten im Zusammenleben mit einer alleinerziehenden Mutter haben; vorpubertäre Mädchen haben mehr Schwierigkeiten, sich mit einer Stieffamilie zu arrangieren (S. 216).

Lektion 3: Veränderung und Formbarkeit
„Eheliche Veränderungen bieten eine große Chance für persönliches Wachstum und Neuorientierung“ (S. 366). Hetherington spricht vom „Fenster der Veränderung“, das sich während der Krisenzeiten auftut und das „zum Guten oder zum Schlechten“ genutzt werden kann.

Lektion 4: Aktive Teilnahme
„Menschen sind keine passiven Spielbälle des Schicksals“. Hetherington findet in ihren Untersuchungen bestätigt, dass diejenigen, die in der Lage sind, aktiv auf die durch die Trennung veränderte Situation zu reagieren, eher zu den „Gewinnern“ der Scheidung gehören. „Diejenigen, die in Hilflosigkeit, Selbstmitleid und Inaktivität verharren, bleiben zurück“ (S. 367).

Lektion 5: Gegenwärtige Vergangenheit
„Viele Schwierigkeiten, die der Scheidung angelastet werden – bei Eltern z. B. Depressionen, antiso­ziales Verhalten, Mangel an persönlichen Beziehungen, die Unfähigkeit, Probleme zu lösen; bei Kindern mangelhafte Erziehung, emotionale und Verhaltensprobleme – sind in schlecht funktionierenden Familien häufig schon lange vor der Scheidung sichtbar“ (S. 367). Entscheidend ist also für den Verlauf nach einer Trennung, welche Ressourcen zur Verfügung stehen und ob die neue Familiensituation – mittelfristig – von weniger Stress und Belastungsfaktoren gekennzeichnet ist als vor der Trennung.

Lektion 6: Risiko- und Schutzfaktoren
„Scheidung und Zweitehe sind in der Regel stark belastende Übergangssituationen. Wie gut Erwachsene und Kinder diese Veränderungen meistern, hängt mit dem Gleichgewicht von Risiko- und Schutzfaktoren zusammen“ (S. 367f.).

Lektion 7: Biologie und Verhalten
„(…) die genetische Disposition beeinflusst in gewissem Umfang die Art, wie andere Menschen auf uns reagieren, die Stresssituationen, in die wir geraten, und die Unterstützung, die uns zugänglich ist, die Qualität unserer Intimbeziehungen und die Wahrscheinlichkeit, ob unsere Beziehung stabil und erfüllend oder kurzlebig, turbulent und unglücklich verläuft“ (S. 369). Obwohl es kein „Scheidungsgen“ gibt, spielen bestimmte Persönlichkeitsmerkmale (siehe Tab. 1 + 2) eine wichtige Rolle bei dem Aufbau und der Aufrechterhaltung von Beziehungen und erhöhen bzw. reduzieren die Wahrscheinlichkeit des Gelingens.
Lektion 8: Intimbeziehungen
„Enge, unterstützende Vertrauensbeziehungen – ob zwischen Eheleuten, Liebespaaren, Eltern und Kindern, Geschwistern oder zu Menschen außerhalb der Familie – spielen die wichtigste Rolle, um Menschen gegen stressbelastende Ereignisse zu schützen“ (S. 369). Diese Erkenntnis zeigt sich auch in der oben angeführten Fallvignette von Louis Armstrong, der von den positiven Beziehungserfahrungen zu seiner Großmutter und später zu seinem Trompetenlehrer profitieren konnte.

Lektion 9: Widerstandskraft
Die „Lehren“ zur Bedeutung der Widerstandskraft (heute würde man von „Resilienz“ sprechen) sind nach Hetherington die wichtigsten, die die Forscher aus den Scheidungsstudien ziehen konnten: „Scheidung und Wiederverheiratung werden anfangs sowohl von Kindern wie von Erwachsenen als seelisch überaus anstrengende Lebensveränderungen erlebt. Im Rückblick beschreiben viele Eltern und erwachsen gewordene Kinder die Scheidung als das schmerzvollste Ereignis ihres Lebens, doch sie sagen auch, dass sie sich in ihre neue Situation einfinden konnten und gegenwärtig ein vergleichweise erfülltes Leben führen. Etwa 70 bis 80 Prozent der Erwachsenen und Kinder zeigen nur wenige ernste nachhaltige Probleme bei dem Anpassungsprozess nach der Scheidung und ‚funktionieren‘ innerhalb der normalen Bandbreite. Viele, die anhaltende Probleme nach einer Scheidung hatten, zeigten diese auch bereits davor. Und eine beträchtliche Anzahl von geschiedenen Frauen und einige Töchter gingen tatsächlich gestärkt aus der Scheidung hervor, sie entwickelten neue Kompetenzen, um mit den drängenden Herausforderungen im Gefolge der Scheidung und des Lebens als allein Erziehende fertig zu werden“ (S. 370).

Zusammenfassung und Fazit
Die eingangs skizzierte Biografie des weltberühmten Jazzmusikers Louis Armstrong wurde als Beispiel dafür gewählt, wie trotz widrigster Umstände eine belastete Kindheitsbiografie von Kreativität, Selbstwirksamkeit und Erfolg geprägt werden kann, wenn protektive Ressourcen verfügbar sind. Dies ist nichts Neues. Dennoch sollten wir uns als professionelle TherapeutInnen immer wieder auf’s Neue darin schulen und üben, biografische Risikobelastungen wie die Trennung und Scheidung der Eltern während der Kindheit nicht zu deterministisch zu verstehen oder gar als spezifisch in ihren Auswirkungen auf eine gesunde seelische Entwicklung anzusehen. Die ausführlich dargestellten Befunde der weltweit bislang umfangreichsten Langzeitfolgeuntersuchung von Scheidungsfamilien von Hetherington und KollegInnen in den USA illustrieren anhand naturalistischer Verlaufsdaten bei einer nicht durch therapeutische Inanspruchnahme selektierten Zielpopulation, wie heterogen die Verlaufsmuster im realen Leben sind. Insbesondere wird deutlich, dass Trennung und Scheidung als kritisches Lebensereignis in familiären und Kindheitsbiografien in seiner Auswirkung nicht isoliert zu verstehen ist, sondern als eine Phase eines familiären Umbruchs anzusehen ist, in dessen weiteren Verlauf es nur bei einem Teil der Betroffenen bei der Nachscheidungs-Familienstruktur mit getrennten Eltern ohne neue Partner bleibt. Bei einem Großteil der Betroffenen kommt es zur Wiederverheiratung eines oder beider Elternteile mit der Folge, dass die Entwicklung weiter geht hin zur Stief- oder Zweitfamilie. Diese Entwicklung birgt neben allen Fallstricken, denen sogenannte Patchwork-Familien ausgesetzt sind, auch viele Chancen der Heilung der erlittenen Verletzungen bei den geschiedenen Elternteilen sowie bei den betroffenen Kindern, die ihre Elternbeziehungen flexibel auf mehrere Erwachsene verteilen dürfen und müssen. Zweitfamilien sind in ihrem Selbsterleben bei weitem nicht nur „Scheidungsfamilien“, sondern eben neue Familien im zweiten Anlauf, die aus den schmerzlichen Erfahrungen des Einbruchs eines ursprünglichen familiären Lebensentwurfes ihre Lehren ziehen konnten. Im günstigen Fall geht dies mit mehr Achtsamkeit und einer flexibler gelebten Familienideologie einher, was beides die kreativen Entwicklungsräume der Kinder in diesen Familien begünstigen kann. Lang anhaltende und virulent bleibende Stressbelastungen von Kindern aus Scheidungsfamilien können in diesem Sinne weniger als lang andauernde Nachwirkungen eines „Traumas“ der Vergangenheit verstanden werden, sondern sollten unter dem Blickwinkel des Nicht-Gelingens neuer Lebens- und Familienentwürfe auf Seiten der betroffenen Eltern verstanden werden, was mitunter für Therapeuten, die diese Familien begleiten, lebensaktuellere Ansatzpunkte für eine hilfreiche Überwindung dieser Belastungen eröffnet.

 

Die Autoren

Thomas Stegemann
Professor für Musiktherapie (Diplom-Musiktherapeut), Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Psychoanalytischer Paar- und Familientherapeut (BvPPF).

Universität für Musik
und darstellende Kunst Wien
Abteilung für Musiktherapie
Rennweg 8
1030 Wien
Österreich
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Georg Romer
Lehrstuhlinhaber und Klinikdirektor, Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Ausbilder in Psychoanalytischer Paar- und Familientherapie am Institut Göttingen-Heidelberg-Hamburg (BvPPF).

Universitätsklinikum Münster
Klinik für Kinder- und Jugend­psychiatrie, -psychosomatik
und -psychotherapie
Schmeddingstr. 50
48149 Münster
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Literatur

  • igdor, H. (2012): Kinder aus geschiedenen Ehen: Zwischen Trauma und Hoffnung. Wie Kinder und Eltern die Trennung erleben. Gießen: Psychosozial-Verlag.
  • Hetherington, E. M. & Kelly, J. (2003): Scheidung. Die Perspektiven der Kinder. Weinheim: Beltz.
  • Kraul, A., Ratzke, G., Reich, G. & Cierpka, M. (2008). Familiäre Lebenswelten. In M. Cierpka (Hrsg.), Handbuch der Familiendiagnostik (S. 199–221). Heidelberg: Springer.
  • Nawe, N. (2009): „Wer spielt den dritten Ton?“ Triangulierungsprozesse und triadische Dimensionen in der Musiktherapie mit Trennungskindern. Dissertation. Hamburg.
  • Zartler, U. & Werneck, H. (2004): Die Auflösung der Paarbeziehung: Wege in die Scheidung. In U. Zartler, L. Wilk & R. Kränzl-Nagl (Hrsg.), Wenn Eltern sich trennen (S. 57–105). Frankfurt: Campus.


Die ausführliche Literaturliste kann bei den Autoren erfragt werden.