Musiktherapeutischer Klinikspaziergang

Aktuelles und Geschichte der Alexianer

Von Wolfgang Böhrer

„Behandlung und Begleitung vom Fach und von Herzen“ ist das ausgegebene Motto der Alexianer-Einrichtungen. Die Dienstleistungen und Angebote richten sich an Menschen mit Behinderungen oder psychischen Erkrankungen, an ältere und pflegebedürftige Menschen, aber auch an junge Menschen und Kinder. Das Rückgrat aller Angebote bildet die Stiftung der Alexianerbrüder als Träger unseres Hauses. Die Stiftung ist Träger der Alexianer GmbH, die somatische und psychiatrische Krankenhäuser, Einrichtungen und Werkstätten für Menschen mit Behinderungen, Senioreneinrichtungen sowie sonstige soziale Einrichtungen betreibt. Die Alexianer GmbH mit Hauptsitz in Münster ist ein Unternehmen der Gesundheits- und Sozialwirtschaft und beschäftigt bundesweit 11.300 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in neun Regionen. Die Alexianer gibt es in Aachen, in Berlin (in Mitte, Köpenick und Pankow), in Köln/Rhein-Sieg (Köln, Siegburg und Troisdorf), im Landkreis Diepholz, in Krefeld, Münster, Potsdam und in Sachsen-Anhalt (Dessau und Wittenberg). Die Einrichtungen der Alexianer zeichnen sich dadurch aus, dass sie starke regionale Anbieter sind.
Die Alexianerbrüder haben sich seit ihren Anfängen vor rund 800 Jahren entschieden, die Menschen in den Mittelpunkt zu stellen, die an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden. Seit ihrer Entstehung kümmern sich die Alexianerbrüder um arme, leidende und ausgegrenzte Menschen.
Auf dem heutigen Stammgelände der Alexianer in Münster-Amelsbüren wurde 1888 die Niederlassung im „Haus Kannen“ gegründet. Dann wurden erste Bewohner aus der sogenannten „Irrenabteilung“ eines Münsteraner Krankenhauses eingeliefert. Nach 25 Jahren wurden 370 Patienten ausschließlich von 45 Brüdern des Alexianer-Ordens betreut. In den 1950er-Jahren wurden die Schlaf­säle ausgebaut, die Handwerksbetriebe modernisiert. Anfang der 1980er-Jahre bildeten die Alexianerbrüder beim Pflegepersonal und in der Verwaltung ihrer Einrichtungen nur noch eine Minderheit, was insbesondere in dem starken Wachstum der einzelnen Häuser begründet war. Auch „Haus Kannen“ war mittlerweile enorm gewachsen und verlangte daher einen stärkeren Grad an Professionalisierung im kaufmännischen und verwaltungstechnischen Bereich. Aufgrund des Nachwuchsmangels in allen Ordensgemeinschaften ging im Laufe der Jahre der Pflegedienst in die Hände weltlicher Mitarbeiter über. Seit den 1980er-Jahren wurden verschiedene Therapiebereiche für eine bestimmte Klientel wie akut psychisch Kranke oder gerontopsychiatrische Patienten eingerichtet. Ergo- und Physiotherapie wurden angegliedert. Gemeinsames, geleitetes Spielen von Musik, gemeinschaftliches Singen bis hin zu öffentlichen Auftritten von Alexianer-Bands und -Chören waren die Wurzeln, Musik als Darstellungs- und Entfaltungsmittel im Sinne der Musiktherapie einzusetzen und Menschen mit psychischen oder geistigen Behinderungen an klanglichen Ausdruck heranzuführen.
Die heutige Alexianer Münster GmbH betreibt auf dem Stammgelände in Münster-Amelsbüren das Alexianer-Krankenhaus, eine Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, eine Fachklinik für Gerontopsychia­trie, eine Kinder- und Jugendpsychia­trie, eine Fachklinik für forensische Psychiatrie, Werkstätten und Wohngruppen für Menschen mit psychischer Behinderung sowie in Außenbereichen noch Kliniken für Psychotherapie und Suchterkrankungen. Der Standort verfügt aktuell über 254 vollstatio­näre Betten, 42 tagesklinische Plätze, 350 Plätze im Wohnbereich, 154 Plätze in der stationären Seniorenpflege, 18 Plätze in der jungen Pflege und viele ergänzende teilstationäre und ambulante Angebote.


Vor Ort
Das Gelände des Alexianer-Hauptsitzes liegt außerhalb von Münster. Es wirkt weitläufig, durchsetzt von Wegen, der Parkanlage, dem Kunsthaus Kannen und Gebäuden, die scheinbar lose zueinander stehen. Der Sinnespark wurde 1994 eingeweiht. Auf einer Fläche von ca. zwei Hektar laden die unterschiedlichen Erfahrungsstatio­nen die Besucher ein, ihre Sinne auf spielerische Art und Weise ganzheitlich wahrzunehmen und zu erproben. Objekte, die jeweils einzelne Sinne ansprechen, geben Impulse zur eigenen Wahrnehmung. Im Kunsthaus Kannen werden seit 1996 kontinuierlich Ausstellungen und Projekte zu den Themen zeitgenössische Kunst und Psychiatrie, Art Brut und Outsider Art präsentiert.
Ein Zentrum auf dem Gelände ist das Café, in dem Patienten der verschiedenen Stationen, Besucher und Mitarbeiter zu Mittag essen, es wird Kaffee getrunken, es werden Zigaretten gekauft oder geschnorrt. Am Rande dieses sozialen Ortes liegt der Musiktherapieraum. Patienten und Mitarbeiter kommen auf dem Weg ins Café daran vorbei.
Manche berichten in den Vorgesprächen, dass sie schon merkwürdige oder ansprechende Klänge im Vorbeigehen gehört hätten und sich auch fragten, was sich da wohl gerade abspielte. Klänge sind bisweilen also schon zu den Patienten gedrungen, bevor diese direkte Verbindung mit ihnen hatten.
Wenn ich die Tür zum Musiktherapieraum zwischen Therapiesitzungen zum Lüften offen stehen lasse, nehmen Menschen das auch als unverbindliche Einladung an, mal einen Blick zu riskieren oder einen Schritt in den Raum zu machen und ein paar Worte zu wechseln. Teilweise bekomme ich kurze Episoden und Erinnerungen zu hören, was Menschen mit Instrumenten, Klängen und Musik schon verbunden haben oder welche Verbindung sie gerne hätten.
Diese Episoden beschreiben den durchlässigen und offenen Aspekt der zentralen Lage auf dem Gelände.
Auf der anderen Seite bedarf die therapeutische Arbeit auch eines geschützten Raumes – dies gilt gleichermaßen für den inneren wie den äußeren Raum. Der Musiktherapieraum liegt am Durchgang, ist von außen weder zu öffnen noch einzusehen. Manchmal berichten Patienten von Sorgen, was andere „da draußen“ von ihren Klängen halten könnten. Sorgen, abgewertet zu werden aufgrund „mangelnder musikalischer Fertigkeiten“ oder „ungenügendem Talent“. Die Sorgen werden aufgegriffen und lassen sich in einen Kontext setzen, sodass die Patienten handlungsfähig bleiben.
Die Musiktherapie ist in der Klinik Maria Brunn, der Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, und in der Damian Klinik, der Fachklinik für Psychotherapie und Gerontopsychia­trie, vertreten. Die Aufenthaltsdauer der Patienten liegt hier in der Regel bei fünf bis zwölf Wochen. Die Musiktherapie für Menschen in Wohngruppen ist längerfristig angelegt.
Menschen begeben sich mit ihrer ganzen Persönlichkeit und den bislang gemachten psychischen Erfahrungen in die Therapie. Innerhalb der Behandlungskonzepte der einzelnen Stationen oder Wohngruppen kommt der Musiktherapie insbesondere die Rolle zu, den Menschen Spielräume zu geben.
Spielraum meint hier einerseits für die Patienten, sich mit erweiterten Handlungsmöglichkeiten in ihrem Tun als selbstwirksam zu erleben. Andererseits ist auch buchstäblich damit gemeint, das Spielerische als therapeutisch wirksames Mittel einzusetzen. Hier beziehen wir uns auf Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie mit psychoanalytischen Wurzeln, wie sie etwa Daniel Stern oder Donald Winnicott erarbeitet haben. Das Spielen zeigt einen Weg, der eigenen Entwicklung einen öffnenden Blick oder ein offenes Ohr zu geben. Handeln und Entwicklung brauchen Zeit. Um innerhalb der vorhandenen Zeit der stationären Behandlung (meist auf einige Wochen klar begrenzt) auch einen Spielraum erleben zu können, ist es nötig, das Geschehen vom Ergebnisdruck zu befreien. (Psychische) Entwicklung ist auf Freiräume angewiesen, Entwicklung soll passieren dürfen, nicht hergestellt oder gemacht werden. Das bedeutet, dass die Suche, sich in eigener kreativer Entfaltung selbst entdecken zu dürfen, im Vordergrund steht. Anpassungsdruck an vorgegebene Ziele kann dagegen eigene Kreativität ersticken.
Offenheit und Spielraum sind nicht beliebig. Das Probieren mit eigenen Händen, das Hören und Fühlen der eigenen Klänge gibt Patienten eine unmittelbare körperliche und emotionale Rückmeldung. Aufgabe des Therapeuten ist, den Spielraum oder das Spielfeld so zu gestalten, dass es begehbar wird. Der Therapeut hat die Funktion, mit seinen Worten und seinen Klängen dem Patienten eine Art Spiegel zu sein, der es ermöglicht, zu sich selbst zu kommen. In der Musiktherapie wird nicht das äußere Abbild gespiegelt, eher die gerade vorhandenen Möglichkeiten, mit sich und anderen in Beziehung zu treten. In Beziehung zu sein ist der Kern einer Psychotherapie und auch einer Musiktherapie.
Musiktherapie ist für viele etwas Gewagtes. Sich klanglich zu äußern, ist oft ein unbekannter, unbegangener oder gefürchteter Weg. Um sich auf das Wagnis der Offenheit und der Ungewissheit einzulassen, ist es nötig, einen stützenden und versichernden Rahmen zu bieten. Offenheit, Vertrauen und die Würdigung des Leidens sind die Basis dazu. Dem Therapeuten kommt die Aufgabe zu, Vertrauen und Zuversicht für kommende Schritte zu vermitteln. Und zwar für Schritte, die auch der Therapeut nicht vorher wissen kann. Innerhalb dieses Freiraums können nächste erreichbare Schritte innerhalb einer psychischen Entwicklung gegangen oder angebahnt werden.
Konkret bedeutet das, den Menschen die Instrumente zur Verfügung zu stellen und auch das Zutrauen zu verkörpern, dass die (suchenden, verunsicherten, gehemmten, gewagten, schrägen, exotischen) Klänge aus den Händen, der Seele, dem Bauch und dem Herzen der Patienten ein gangbarer und wertvoller Ausgangspunkt sind. Jeder darf alles benutzen. Musikalische Vorkenntnisse und Ziele können den offenen, unmittelbaren Zugang verstellen. Sie sind nicht Thema der Musiktherapie.
Für die Musiktherapie für Bewohner der Wohngruppen kann ich das Motto der Wohnbereiche „selbstverständlich und selbstbestimmt leben“ übernehmen. Die längerfristige Begleitung erlaubt es, dass sich die Gruppen langsam entwickeln dürfen. Den Bewohnern wird Zeit und Raum für langsame und nachhaltige Entwicklung gegeben. Sie bekommen Zeit, sich als Gruppe und als Individuum innerhalb der Gruppe zu finden und zu definieren. Das Zusammenspielen und auch das Aufeinander-Zugehen werden selbstverständlicher. Die Eigenheiten werden mit der Zeit geschätzt, werden integriert einbezogen und auch untereinander eingefordert. Für manche Bewohner ist es aufgrund ihrer Persönlichkeit nicht leicht, regelmäßige Termine einzuhalten. In längerfristigen Therapien ist es möglich, auch diese Leute mit ihren Fehlzeiten einzubinden und eine Perspektive zu bieten, damit sie nicht „rausfallen“.


Fallvignette: „sich zeigen“
Vier Patientinnen nehmen an der Gruppe teil, zwei zum ersten Mal. Fr. V. nimmt das fünfte Mal teil. Sie kam mit der Diagnose einer schweren depressiven Episode und einer Posttraumatischen Belastungsstörung. Insuffizienz- und Schuldgefühle sind ausgeprägt. Sie hat zwei Suizidversuche im vergangenen Jahr hinter sich.
Ihre Kindheit und Jugend sei schwierig gewesen, da ihr Stiefvater sie geschlagen und ab ihrem zehnten Lebensjahr sexuell missbraucht habe. Sie vernachlässige Kontakte, ziehe sich zurück, zeige sich z. B. tagsüber nicht auf ihrer Terrasse aus der Sorge heraus, die Nachbarn könnten sie für „faul“ oder „unwertig“ halten, wenn sie während möglicher Arbeitszeit nur auf der Terrasse sitzt. Insgesamt sei ihr „wenig Selbstvertrauen anerzogen“ worden und sie habe wenig gedurft.
Sie zeigte sich im Vorgespräch verunsichert, ob sie innerhalb einer Gruppe bestehen könne. Die Aussicht, innerhalb der Gruppe weniger ausschließlich vom Therapeuten beobachtet zu werden, sei allerdings entlastend und gebe ihr mehr Handlungsspielraum.
In der Gruppenstunde formuliert sie nun, dass ihre selbst gespielten Klänge im tiefen Bereich des Klaviers sie stärkten und gut zu ihr passten. Im Hinblick darauf, dass sie sich eigentlich in der Gruppe unauffällig und angepasst verhalten will, um keine Angriffsfläche zu bieten, scheint dies bemerkenswert. Sie nimmt damit aktiv eine Gegenposition zu einer Mitpatientin ein, die sich von den tiefen Klängen gestört fühlt.
Als sich im letzten Gruppenspiel ein Ende andeutet, die Klänge weniger werden und leiser, ergreift Fr. V. die Gelegenheit und entwirft kurze Motive auf dem Klavier, die sich deutlich vor dem leisen Hintergrund abheben. Die Motive wirken klar und prägnant, vermitteln dabei Zartheit. Die Gruppenmitglieder nehmen anschließend anerkennend darauf Bezug, würdigen, dass sie die Gelegenheit ergriffen und eigenständig zugepackt hat. Sie selbst formuliert, die Klänge seien „zufällig“ gekommen. Auf mich wirkt es so, dass sie heute eher beiläufig spielen konnte, ohne den Druck, etwas Bestimmtes leisten zu müssen. Neben dem äußeren Spielraum scheint auch innerer Spielraum vorhanden zu sein. In diesem Falle in Form von Entlastung von Erwartungs- und Beobachtungsdruck.
In der gleichen Stunde tritt Fr. V. ermunternd auf den Plan, indem sie die Entscheidung von Fr. C., lieber zuzuhören als sich selbst einzubringen, in Frage stellt. Sie fordert sie freundlich und nachdrücklich auf, doch mitzuspielen. Fr. C. nimmt den Rat ihrer erfahrenen und vertrauenswürdigen Mitpatientin an, zeigt sich anschließend erleichtert über diesen Schritt. Fr. V. erfährt damit auch Bestätigung für ihr Gespür anderen gegenüber und für ihre Initiative.

Der Autor:

Wolfgang Böhrer
Geb. 1974
Diplom-Musiktherapeut (FH),
Heidelberg
MAS Klinischer Musiktherapeut,
Zürich
Lehrmusiktherapeut DMtG
Lehrmusiktherapeut SFMT
Seit 2000 in der Erwachsenenpsychiatrie tätig, bei den Alexianern seit 2012.

Angaben zur Klinik:

Alexianer Münster GmbH
Alexianerweg 9
48163 Münster
Tel.: (0 25 01) 966 20 000
Fax: (0 25 01) 966 20752
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www.alexianer-muenster.de
Leitender Arzt: Dr. Klaus Telger

Quellen:

www.alexianer-muenster.de
Winnicott, Donald W. (2006): Vom Spiel zur Kreativität. Stuttgart: Klett Cotta.
Stern, Daniel N. (2005): Der Gegenwartsmoment. Frankfurt a.M.: Brandes & Apsel.
ders. (2003): Die Lebenserfahrung des Säuglings. Stuttgart: Klett-Cotta.