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Kleine Hilfen mit Atem, Bewegung und Stimme

Von Sabine Rittner

„Ist so’n kleines Rückgrat…“ – Die Wirbelsäule als tönendes Organ der Würde

Ist so’n kleines Rückgrat,
sieht man fast noch nicht.
Darf man niemals beugen,
weil es sonst zerbricht.
Grade klare Menschen,
wär’n ein schönes Ziel.
Leute ohne Rückgrat,
hab’n wir schon zuviel.

Manche von Ihnen erinnern sich vielleicht an Bettina Wegeners berühmten sanften Protestsong von 1978: „Kinder“. Dessen letzte zwei Strophen sind aktueller denn je und haben mich zu einer Übungssequenz inspiriert, die ich nachfolgend gerne mit Ihnen teile. Wenn Sie sie mitmachen möchten, benötigen Sie lediglich einen ruhigen Ort, eine Sitzgelegenheit, am besten einen Hocker oder Stuhl mit gerader Sitzfläche und etwa 15–20 Minuten Zeit.

a) Im Sitzen:
Stellen Sie sich vor, Ihre Wirbelsäule sei ein Schwanenhals. Die Füße stehen sehr breit. Stützen Sie Ihre Hände mit den Fingern nach innen auf Ihre Oberschenkel. Nun bewegen Sie Ihren Kopf, der die gesamte Wirbelsäule sowie den Rücken anführt, in sanft fließenden Bewegungen, mal nach links, mal nach rechts, mal nach unten, vielleicht sogar bis zwischen die Beine, mit der Vorstellung, dass der Schwan im Fluss nach Futter taucht. Dabei genießen Sie die Dehnung und Beweglichkeit Ihrer Wirbelsäule, ohne sich dabei allzu sehr anzustrengen.

b) Nun richten Sie sich wieder auf. Tönen Sie im Sitzen den Vokal „ü“, indem Sie sich innerlich auf Ihre Wirbelsäule konzentrieren. Halten Sie das Ü auf einer Tonhöhe und spüren Sie, wie es einen ganz bestimmten Bereich Ihrer Wirbelsäule in Vibration versetzt. Wenn Sie es nicht spüren, so gibt es die wunderbar wirksame Methode des „So tun als ob“, in der Sie sich vorstellen, der Ton würde in einer bestimmten Stelle der Wirbelsäule vibrieren. Verändern Sie nun die Tonhöhe und finden Sie heraus, wo der Ton abhängig von der Tonhöhe diesmal vibriert. Dabei spielen Sie auch mit der Formung des Ü und experimentieren dabei mit der Spannung im Mundraum.

c) Lassen Sie das Ü nun in der Wirbelsäule auf- und absteigen, indem Sie es in unterschiedlichen Tonhöhen intonieren. Dabei gleitet der Ton die Wirbelsäule hinauf und hinab. Lassen Sie die Töne ineinander über fließen.

d) Im Stehen:
Verlagern Sie nun Ihr Gewicht nach vorne auf die Beine und setzen Sie die Übung im Stehen fort, so dass Ihre Wirbelsäule sich in ihrer Schlangenkraft entfalten kann. Wie die Schlange von der Flöte des Schlangenbeschwörers in Marrakesch lassen Sie sich zu einem Tanz inspirieren, der von dem tönenden Ü in Ihrer Wirbelsäule angeführt wird. Dort, wo Sie die Vibrationen des Vokals spüren, lassen Sie sich zu freien Bewegungen inspirieren, in die Sie nun auch die Arme mit einbeziehen.

e) Ausgehend vom Vokal Ü erweitert sich das Tönen nun hin zu anderen Vokalen: „ü – e – ü“ oder „ü – i – ü“ oder „ü – ö – ü“ usw. und regt Sie zu weiteren freien tanzenden Bewegungen an, in die Sie alle Körperteile mit einbeziehen. Dabei bleibt die Wirbelsäule jedoch weiterhin im Zentrum Ihrer Aufmerksamkeit.

f) Abschließend setzen Sie sich in Stille und innerer flexibler Aufrichtung hin, als hätten Sie eine sanfte und doch würdevolle Krone auf dem Kopf. Richten Sie Ihre Aufmerksamkeit nach innen und spüren Sie nach. Was ist jetzt anders als zu Beginn der Übung? Was spüren Sie? Was fühlen Sie? Wie hat sich Ihre Stimmung, Ihr Gestimmtsein verändert? Wie Ihr Körperempfinden? Welche Bilder tauchen vielleicht auf? Dies Nachspüren ist der wunderbare Moment der „Ernte“, in dem Sie staunend und neugierig Veränderungen wahrnehmen, ohne sie jedoch zu bewerten. Sollte sich in diesem Moment vielleicht ein zensierender, meckernder Teil in Ihnen bemerkbar machen, so bitten Sie ihn, beiseite zu treten und genießen Sie weiterhin jede noch so kleine, wohltuende Veränderung wie ein kostbares Kleinod.

Variante mit Partner:
Sollten Sie diese Übung gemeinsam mit einem/r Partner/Partnerin oder in einer Gruppe machen, so lässt sie sich im Anschluss von e) auch sehr gut stehend im Rückenkontakt durchführen: Anfangs tönend die Vibrationen des Ü in der Berührung spürend, nach und nach sich in die gemeinsame Bewegung erweiternd.
In der körperorientierten Musikpsychotherapie bezeichnen wir die Wirbelsäule als tönendes Organ der Würde. Ich wünsche Ihnen, dass Sie aus dieser Übung Inspiration für Ihren Alltag in Aufrichtigkeit, Flexibilität und Klarheit mitnehmen. Denn: „Menschen mit Rückgrat zeigen auch in den Kurven des Lebens ihre Geradlinigkeit.“ Ernst Ferstl (*1955)

Anmerkungen /Literaturtipps:
Diese Übungssequenz ist u. a. inspiriert von einer meiner ganz frühen Lehrerinnen, der Atemtherapeutin Ilse Middendorf. Mehr dazu finden Sie in: Middendorf, Ilse (2017): Der erfahrbare Atem. Eine Atemlehre. (Mit 2 CDs). Junfermann Verlag: Paderborn 2001.
Rittner, Sabine (2017): Die Bedeutung des Körpers in der Musikpsychotherapie. In: Musik und Gesundsein 31/2017. Reichert: Wiesbaden.
Rittner, Sabine (2008): Der Wirkfaktor Stimme in der Psychotherapie/in der Musiktherapie. In: Musiktherapeutische Umschau, Themenheft „Die Stimme im therapeutischen Dialog“, Bd. 29, 3/2008. Göttingen: Vandenhoeck & Rupprecht, S. 201–220.