Editorial

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Verlust oder Möglichkeit?

Das Schwerpunktthema dieser Ausgabe ist „Arbeiten im Ausland“. Genauer: Musiktherapeutisches Arbeiten dort, wo die Muttersprache keine mehr zu sein scheint. Claudia Noll, eine der drei Autorinnen zum Schwerpunktthema, gibt in einer ihrer Zwischenüberschriften die Antwort auf das Fragezeichen oben im Editorial: „Was der Verlust des Vertrauten ermöglicht“.
Eigentlich ist diese Suche und die Findung von neuen Möglichkeiten, die jeder Verlust in sich birgt, Aufgabe jeder Therapie, jeder Gestaltung von Lebenssituation, in der Vertrautes sich entzieht, verblasst. Langsam oder plötzlich. Körperteile, Teile der Identität bei Berufsrollenverlust, Verlust von Freundschaften, Liebespartnern. Ungeplant oder geplant.
Die drei Autorinnen wanderten mitsamt Muttersprache geplant aus, in ein Aus-Land. Ihre Erfahrungen laden ein zum Nachdenken und Vordenken über die Rolle der Muttersprache der Musiktherapeutin, wenn sie im Ausland arbeitet – und mit der Musik über eine Sprache verfügt, die wir formelhaft als „crossing borders“ bezeichnen. Was die Erstgespräche z.B. mit Erwachsenen nicht leichter macht – aber das „danach“.
Die Estin Katrin Kaasik, die Japanerin Saya Shiobara, die zitierte Deutsche Claudia Knoll entführen uns und machen uns heimisch in ihrer vertraut gewordenen Ferne.
Mich stimmt dies Schwerpunktthema auch persönlich zur Bescheidenheit mahnend – und Bewunderung hervorrufend, weil ich bis heute ca. mindestens ein Viertel eines jeden Jahres Ausländer bin, im Ausland für und mit Musiktherapie arbeite. Jedoch hier den Mut (= Gesinnung) bewundere, sich mit vollem Risiko der Veränderung des eigenen Spontanverhaltens im fernen Land ebenso zu stellen wie dem des Patientengegenübers.

Lassen wir die Therapie und die Patienten einmal weg – dann führt dieses Schwerpunktthema auch direkt in gesellschaftlich unvermeidliche Grundaufgaben unserer Republik und der EU und unserer Mutter Erde hinein: Migration, Immigration. Seit 1945 flossen nicht mehr so viele Menschenströme in neue Flussbetten.
Mag sein, dass Musik und Musiktherapie eine Flussbett-Gestaltungskraft und Fließgeschwindigkeit erfahren, wie wir sie heute nur ahnen – und Teil von ihr sein werden.
Thema Muttersprache – es sind drei Frauenpersönlichkeiten, die darüber schreiben. Zufall? In westlichen Psychologien und in den meisten Religionen sehen wir keine Zufälle. Zumal die Idee zu diesem Thema von Eckhard Weymann, einem Mann, stammt.
Von Vaterland und Muttersprache an anderer Stelle dieser MuG.
Unsere Rubriken: Sara Bonnen führt uns im „Klinikspaziergang“ in die LVR-Klinik (Landschaftsverband Rheinland) in Langenfeld, die sich wie die weiteren LVR-Kliniken als Klinik für psychisch Kranke spezialisierte, von denen wir vier in einer Erstsitzung kennenlernen dürfen. Die Klinik zeigt den bemerkenswerten Personalschlüssel von vier MusiktherapeutInnen auf 3,2 Planstellen.
Alexandra Takats spricht im „Patienteninterview“ mit einem Patienten aus dem Kreis der Klientel, die unter den Bedingungen eines Schädel-Hirntraumas leben. Zudem ein Patient, der selbst als Erzieher mit Montessori-Diplom und therapeutischem Spiel als Schwerpunkt arbeitet. Welcher Arzt in seinem Umfeld hält von Musiktherapie „Nichts!“? Vielleicht erreicht diesen informationsresistenten Menschen diese MuG oder eine MU oder ein Ärzteblatt, welche das Gegenteil von „Nichts“ zeigen.
Carolin Kubacki zeigt uns ihre Praxis in Villingen, auch durchtränkt vom Thema „Muttersprache“, und wer das „Capriccio Cerebrale“ von Thomas Stegemann bisher noch nicht kannte, verzichtet auf Lebensqualität als Patient oder MusiktherapeutIn.
Der Blick in das Ausland geht diese Mal nach Belgien und dort zu Jos de Backer und seinem KollegInnen-Kreis.
Den Blick in ebenso Neues wie Wichtiges auf unserem Fachbuch-Markt richtet wie immer Ludger Kowal-Summeck und „schmeckt uns vor“.
Frühjahr ist eine Zeit des Übergangs. Nicht nur meteorologisch wünsche ich Ihnen und mir nicht nur eine gelingende Zeit, sondern überhaupt gelingende Übergänge! Die misslungenen sind weitestgehend mitverantwortlich für unsere psychischen Schwächen.

Hans-Helmut Decker-Voigt