Editorial

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Crossing borders…

… lesen, hören und (emp-)finden wir immer im Zusammenhang mit musiktherapeutischen Prozesse: Auf unseren internationalen Kongressen, im Umgang mit Migration, Integration …
Crossing borders durch Musiktherapie in den therapeutischen Prozessen in Corona-Zeiten, deren Tragik der Schriftsteller Daniel Kehlmann beschreibt, weil das Heilmittel die Distanz, die Trennung voneinander sei.
Zum Zeitpunkt der Endredaktion dieser Ausgabe häufen sich die Grenzen, die Musiktherapie zu überschreiten sucht: Corona-Grenzziehungen – siehe unser Schwerpunktthema. Und aktuell und erstmals seit 1945 wieder – Nachrichten von Krieg in Europa. Ein Krieg, der etliche von uns, die wir in der Ukraine oder in Russland musiktherapeutisch arbeiten, weit mehr als nur aus der Entfernung zwischen Sofa und Fernseher heraus involviert.


Einige meiner Musiktherapie-Studierenden aus dem Sommersemester 2021 in St. Petersburg demonstrierten und riskierten (sich) in Russland für den Frieden in der Ukraine und meine Kolleg*innen, die von Würzburg oder Wien aus in der Ukraine Musiktherapie-Projekte leiten, werden sich sorgen, dass ihre Arbeit mit den Ukrainern nicht beschädigt wird, sondern hoffen, dass sie sich als Orte der Ressourcenbildung zeigen.
Beim Titeln dieser Ausgabe „Hinein in die Talsohle – und heraus aus ihr“ dachten wir zunächst an Corona, an unseren musiktherapeutischen Umgang damit und den unserer Patientinnen und Patienten. Ein jeweiliger Krieg gegen die Folgen der Viren und ihrer Vielfalt.
Jetzt legen sich die Nachrichten aus einem anderen Krieg daneben, darüber und zwingen dem Titel dieser Ausgabe eine weitere Dimension auf. Diese neue Dimension der Distanzierung und Trennung von Staatsgebilden lässt sich nicht in den Beiträgen dieser Ausgabe lesen, weil diese sich auf den „Krieg der Viren“ beziehen.
Die Rubrik „Klinikspaziergang“ ist erstmals krankheitshalber unterbrochen und auf den Oktober verschoben. Anstelle dessen spazieren wir dank Ilse Wolfram und mit dieser durch die reich vernetzten Aktivitätsbereiche des von ihr mitgegründeten Bremer Instituts für Musiktherapie (BIM). Auch unsere Ambulanz-Institutionen stehen im klinischen Kontext der Musiktherapie.

Die Musiktherapie zu Zeiten der Pandemie
Die weiteren vertrauten Rubriken (s. Inhalt S. 2/3) „stehen“ dank der Treue (und Gesundheit!) ihrer Betreuerinnen und Betreuer um das Schwerpunktthema herum wie Pfeiler, die eine Brücke tragen:
Laura Blauth, Carina Petrowitz und Thomas Wosch ermöglichen uns Einblicke in ihren Forschungsprozess: Erfahrungen mit der Musiktherapie in Zeiten der Pandemie. Sie reflektieren mit uns Zwischenergebnisse ihrer Studie mit dem ermutigenden Tenor in der Fragestellung „Innovation am Ende der Talsohle?“ Nicht nur nebenbei: Wer einmal Einblick in die für Laien unvorstellbare Mühe allein mit den Antragstellungen für die Finanzierungen solch internationaler Forschungsprojekte nehmen will – der und die werden den Chapeau ziehen.
„Ist besser als gar nicht gut genug?“
Julia Stegmann und Christiane Ebeling schildern im Nachhinein des Schwerpunktthemas unter diesem Motto eindrückliche Vignetten aus ihrer Praxis in Zeiten der Pandemie heraus und lassen teilhaben an ihren Perspektiven als Musiktherapeutin und Lehrerin.
Einen Extra-Beitrag nahmen wir auf: Die aus der Medizin vertraute Triade von „Risiken, Nebenwirkungen und Behandlungsfehlern“ transferieren
Clemens Krejci und Hans Ulrich Schmidt in die Musiktherapie – ein Beitrag zur Praxis und ihrer Ethik.

Musiktherapie und Kriegsängste
Viel Lust am Konstruktiven gerade in schwierigen Zeiten wird mir beim Redigieren dieser Ausgabe dankbarer bewusst als in leichteren Zeiten.
Hingegen nie endet die Lust am Destruktiven im Menschen und zeigt sich immer wieder neu. Der Krieg Putins lässt uns für die Oktoberausgabe dieses Jahr „Musiktherapie und Kriegsängste“ planen.
Im Gegensatz zu Musik u.a. Künsten, die jetzt politisiert werden (soeben trennten sich die Münchener Philharmoniker von ihrem Chefdirigenten Valery Gergiev, wegen der zu engen Beziehung zu Putin), fungiert Musiktherapie nicht zwischen den Fronten, sondern (s.o.) crossing borders.
Zugunsten derer, die in Angst leben, im Widerstand gegen Gewalt. Und bei denen es zwar kein Heilmittel gibt, aber Hilfe – durch Nähe. Gegenteilig zu Corona.

Hans-Helmut Decker-Voigt für den Herausgeberkreis (s. Impressum S. 46)