Schwerpunktthema I

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Beziehungsweise – Musiktherapie mit Familien
Von Eva Phan Quoc, Agnes Burghardt-Distl & Thomas Stegemann

Milo ist fünf Jahre alt und kommt seit einem Monat zur Musiktherapie. Im Kindergarten beteiligt er sich kaum an gemeinsamen Aktivitäten und spricht mit niemandem, was den Eltern Sorgen bereitet. Da Milos Mutter heute arbeiten muss, wird er erstmals von seinem Vater zur Therapie gebracht. Milo ist während der Fahrt zum Ambulatorium eingeschlafen und soeben erst wach geworden. Verschlafen und ängstlich will er sich heute nicht von seinem Vater trennen, daher lade ich schließlich einfach alle beide in meinen Therapieraum ein. Etwas verlegen willigt Milos Vater ein und setzt sich auf einen Sessel an die Wand. Er möchte sichtlich nicht stören. Während ich mein Begrüßungslied für die beiden singe, rutscht Milo vom Schoß seines Vaters, läuft zur großen Trommel und versucht, sie Richtung Vater zu ziehen. Dieser hilft schließlich und vorsichtig streichen ihre Finger über das Trommelfell. Ich beginne eine neue Strophe in meinem Lied und lade sie darin ein, ihre Hände über die Trommel wandern zu lassen – mal leise, mal laut leite ich sie mit meinem Singen an, unterschiedliche Spielweisen auszuprobieren. Nach wenigen Minuten scheinen sie mich beinahe nicht mehr wahrzunehmen. Sie sind im Spiel.
Im Gespräch erzählen mir die Eltern Wochen später, dass Milos Vater inzwischen zuhause eine Trommel gekauft hat und immer wieder lustvoll und lautstark „das Trommelspiel“ mit seinem Sohn spielt.

Potenziale entfalten und Grenzen ausloten
Musiktherapie mit Familien ist eine Form des musiktherapeutischen Arbeitens, die sich vor allem in den letzten beiden Jahrzehnten entwickelt und immer mehr ausdifferenziert hat. So
wie auch viele andere Therapierichtungen im psychosozialen Feld, wurde auch die Musiktherapie auf die Chancen und Möglichkeiten aufmerksam, die eine Arbeitsweise bietet, die Familienmitglieder in verschiedener Weise in das musiktherapeutische Setting miteinbezieht. Neue Ansätze, mit Bezugspersonen, Angehörigen und Familien in verschiedensten Arbeitsfeldern und Altersbereichen musiktherapeutisch zu arbeiten, sind entstanden.
Im internationalen „Network Music Therapy with Families“ haben sich Praktiker:innen und Forschende zusammengeschlossen, um sich mit Besonderheiten, Möglichkeiten, aber auch Herausforderungen dieser Arbeitsweise auseinanderzusetzen. Um diesem Austausch einen passenden Rahmen zu geben, wurde in Zusammenarbeit mit dem Wiener Zentrum für Musiktherapie-Forschung (WZMF) an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien von 23.–25. September 2022 das erste internationale Symposium „Music Therapy with Families“ veranstaltet (www.mdw.ac.at/mt-family) (Abb. 1).

„Familie“ – wer ist gemeint?
Die Frage, wann wir als Musiktherapeut:innen eigentlich „mit Familien arbeiten“, beantwortet die dänische Musiktherapeutin Stine Lindahl Jacobsen mit der Gegenfrage: „Wann arbeiten wir eigentlich NICHT mit Familien?“ (Abb. 2).
Menschen, die musiktherapeutische Angebote in Anspruch nehmen, leben in Interaktion mit ihrem Umfeld, müssen also auch im Kontext ihrer Umgebung betrachtet werden. Dieses Umfeld ist in der einen oder anderen Form immer auch im Therapiegeschehen präsent – aus Erzählungen, als Personen, die im Alltag versorgen oder zur Therapie begleiten, als Bezugspersonen oder Angehörige – und manchmal stellt uns dieses Umfeld vor größere Herausforderungen als die Symptomträger:innen selbst.
Manfred Cierpka (2008, S. 20) schlägt als Definition für eine „(Ein- oder Zweieltern-)Familie“ das Zusammenleben von mehreren, „meistens zwei Generationen der (leiblichen,
Adoptiv-, Pflege-, Stief-)Eltern und der (leiblichen, Adoptiv-, Pflege-, Stief-)Kinder“ vor. Dieses ist „charakterisiert durch gemeinsame Aufgabenstellungen, durch die Suche nach Intimität und Privatheit und durch die Utopie der Familie. (...) Dadurch wird ein Rahmen für das geschaffen, was die Familie oder eine andere Lebensform an Lebens- und Entwicklungsaufgaben
erfüllt.“
Noch weiter fasst die deutsche Autorin Teresa Bücker (2022, S. 141) diesen Begriff, wenn sie schreibt: „Familie ist nicht definiert durch eine bestimmte Personenkonstellation, durch eine Hochzeit oder ein Eigenheim. Familien sind Gemeinschaften und Orte, an denen wir uns und anderen emotionale Sicherheit geben können und einander dabei gleichberechtigt unterstützen, frei zu leben.
Mit dem Begriff „Familie“ ist hier also weit mehr als die gängige heteronormative Definition von Kleinfamilie im Sinne von „Mutter, Vater, Kind“ gemeint. Familie kann auch eine „Wahlfamilie“ sein – Personen, mit denen sich jemand umgibt, wo eine Form von Zugehörigkeit spürbar wird. Eine (nicht verwandte) Bezugsperson kann zum Beispiel auch ein:e Sozialpädagog:in der Wohngemeinschaft sein, eine Bezugspflegeperson oder eine Person aus der direkten Nachbarschaft. Angehörige können Elternteile, Großelternteile, Kinder oder auch Enkelkinder sein. Geschwister, Onkel, Tanten – die Liste ließe sich noch lange fortführen. Ein Verständnis von Familie als eine Gemeinschaft von Sorgenden (caring community) erweitert gleichzeitig auch den Begriff des Settings „Musiktherapie mit Familien“. Diese meint in diesem Sinn folglich das Miteinbeziehen des erweiterten Umfeldes einer Person oder die von vornherein geplante Arbeit mit mehreren Mitgliedern eines Familiensystems. Mit dieser Verortung des Begriffes als „Musiktherapie unter Miteinbezug von Bezugspersonen, Angehörigen oder Familien“ bewegen wir uns auch gedanklich aus dem Altersbereich der Kindheit hinaus und beziehen uns auf die gesamte Lebensspanne.

Formen musiktherapeutischen Arbeitens mit Familien
Einen guten Überblick im Sinne einer umfangreichen Sammlung verschiedener Arbeitsansätze vermittelt das 2017 von Stine Lindahl Jacobsen (DNK) und Grace Thompson (AUS) herausgegebene Fachbuch „Music Therapy with Families“. Je nach Arbeitsfeld und Zielsetzung ist es bei der Arbeit mit Familien möglich, das Setting sehr individuell zu gestalten: beginnend bei Musiktherapie zu dritt mit Patient:in, Bezugsperson und Therapeut:in, über die Arbeit mit dem gesamten Familiensystem, bis hin zu etwa mehreren Eltern-Kind-Einheiten oder auch mehreren Familien gemeinsam in einer Gruppe kann in unterschiedlichen Konstellationen gearbeitet werden. Die Arbeitsfelder reichen von der Neonatologie (vgl. Beitrag von Ettenberger & Phan Quoc in diesem Heft) über stationäre Angebote in der Kinder- und Jugendpsychiatrie bis hin zur Arbeit mit Personen, die von Demenz betroffen sind, und ihren Angehörigen (Stegemann, 2021).
In Österreich findet Musiktherapie zumeist im Einzel- oder Gruppensetting statt. Bei einer 2018 durchgeführten Berufsgruppenumfrage zeigte sich aber auch, dass ca. 15% der befragten Musiktherapeut:innen angaben, in zumindest einem kleinen Ausmaß in einer (nicht näher definierten Form) des Familiensettings zu arbeiten (Phan Quoc, Riedl, Smetana & Stegemann, 2019). Wie diese Arbeitsansätze konkret aussehen und in welchen Bereichen im gesamten deutschen Sprachraum mit Bezugspersonen, Angehörigen oder Familien musiktherapeutisch gearbeitet wird, wäre interessant herauszufinden. Erste Impulse, sich diesbezüglich zu vernetzen und in einen Austausch zu gehen, werden aktuell vom Wiener Zentrum für Musiktherapie-Forschung (WZMF) gesetzt: Unter der Koordination von Eva Phan Quoc und Agnes Burghardt-Distl sind regelmäßige Angebote (wie Vernetzungstreffen oder Impulsvorträge) geplant. Nähere Informationen finden sich unter (www.mdw.ac.at/mt-family).

MusikSpielTherapie
Ein musiktherapeutischer Ansatz aus dem deutschen Sprachraum, der sich in der praktischen Arbeit mit Säuglingen, Kleinkindern und ihren Bezugspersonen sehr bewährt hat, ist die Musik-SpielTherapie. Sie wurde in Berlin von Katrin Stumptner und Cornelia Thomsen entwickelt und wird aktuell gerade in enger Zusammenarbeit mit den Begründerinnen aus bindungstheoretischer Perspektive von Eva Phan Quoc am WZMF beforscht und weiterentwickelt. MusikSpielTherapie (MST) richtet sich an Familien mit Kindern bis zu einem Alter von vier Jahren und eignet sich besonders für länger andauernde Interaktionsstörungen zwischen Bezugspersonen und Kindern.
In der MST finden musiktherapeutische Spieleinheiten mit Kind, Bezugsperson und Therapeut:in zu dritt abwechselnd mit Reflexionsgesprächen nur mit den Bezugspersonen alleine statt. Dies bedeutet, dass das Kind in der Musiktherapieeinheit immer zusammen mit einer Bezugsperson, meist einem Elternteil, anwesend ist. Ein musikalischer Spielraum wird eröffnet
und die Bezugsperson wird dabei begleitet, mit ihrem Kind in Kontakt und ins Spiel zu gehen (Abb. 3).
Die musiktherapeutische Spieleinheit zu dritt wird auf Video aufgezeichnet. In begleitenden therapeutischen Gesprächseinheiten wird mit der Bezugsperson das Geschehen aus der Spieleinheit besprochen, reflektiert und gemeinsam aufgearbeitet. Gelungene Interaktionen können gemeinsam nochmals angesehen werden, um so neue Erfahrungsmuster auch in den Alltag mit dem Kind zu integrieren. Eine solche videobasierte Arbeitsweise und der regelmäßige Wechsel zwischen Erleben und Reflexion unterstützen die Familienmitglieder dabei, neue oder korrigierende Erfahrungen miteinander zu machen, um so schlussendlich besser aufeinander abgestimmt reagieren zu können.
Die feinfühlige Abstimmung auf die Bedürfnisse eines Babys oder Kleinkindes ist von großer Bedeutung für die Entstehung und Aufrechterhaltung einer sicheren Bindungsbeziehung. Hier noch mehr Wissen zu speziell bindungsfördernden Aspekten der MusikSpielTherapie zu generieren, ist daher ein wichtiges Forschungsanliegen (Phan Quoc, 2021).

Musiktherapie mit Familien – Zusammenarbeit mit anderen Berufsgruppen
Ein weiteres wichtiges Themenfeld im Zusammenhang mit Familiensystemen ist das interdisziplinäre Arbeiten. Ein gut vernetztes und abgestimmtes Zusammenarbeiten von Musiktherapeut:innen mit anderen Berufsgruppen wie beispielsweise Psycholog:innen, Ärzt:innen oder Sozialpädagog:innen stellt besonders dort eine Notwendigkeit dar, wo Familien durch verschiedene, miteinander verwobene Problemstellungen belastet sind.
Ein besonders geeignetes Setting für die interdisziplinäre Arbeit findet man in ambulanten Therapiezentren, die viele Berufsgruppen unter einem Dach vereinen. In Wien bieten beispielsweise die Zentren für Entwicklungsförderung ärztliche, sozialarbeiterische und therapeutische Begleitung für Kinder und deren Familien an. Ihre Klient:innen stehen oft vor einem schier unüberwindbaren Berg von Schwierigkeiten, wie etwa Behördengängen in Zusammenhang mit Arbeitslosigkeit, Asylstatus oder der Suche nach einem geeigneten Kindergartenplatz für ein Kind mit Entwicklungsbeeinträchtigungen. Zusätzlich wirken sich die vielen psychosozialen Belastungsfaktoren auf die Psyche der Eltern und der Kinder aus, sodass ein breit aufgestelltes Angebot aus medizinischer Versorgung, Therapie und Sozialarbeit zur Verfügung gestellt werden muss.
Dieses vernetzte Arbeiten bringt immense Vorteile mit sich. Eltern schildern, dass sie diese Art der Zusammenarbeit als besonders qualitätsvoll, zielgerichtet und „passgenau“ empfinden und sie sich in diesem „Netz von Hilfsangeboten“ besonders gut aufgefangen und in ihrer Gesamtheit gesehen fühlen. Für uns Therapeut:innen stellt die interdisziplinäre Arbeit ebenso eine Entlastung dar: Man hat nicht das Gefühl, alles alleine „lösen“ zu müssen und fühlt sich als helfende Person ebenso in ein Team eingebettet. Auch hier kann ein Gefühl von Zusammenhalt und Unterstützung wie in einer Familie entstehen (siehe weiter oben die Definition von Teresa Bücker). Eine solche Atmosphäre innerhalb einer Institution wirkt sich wiederum haltgebend auf die betreuten Patient:innen aus, die sich in weiterer Folge ebenfalls als Teil dieser „Familie“ erleben.
Eine Herausforderung in der interdisziplinären
Zusammenarbeit stellen vor allem die zeitlichen Ressourcen dar, die für gemeinsame Absprachen, Helferkonferenzen und Ähnliches notwendig werden. Diskussionen, das Finden einer „gemeinsamen professionellen Sprache“, Telefonate mit externen Institutionen wie Kindergärten etc. brauchen Zeit, sind aber oft zwingend nötig, um kein „Nebeneinander“, sondern eben ein „Miteinander“ im Helfer:innensystem herzustellen.
Die Profession Musiktherapie hat nicht nur die Verantwortung, ihre Potenziale zu kennen und zu entfalten, sondern auch sich ihrer Grenzen bewusst zu sein. Expert:in zu sein heißt vor allem auch, zu wissen, wann man Supervision braucht oder eben auch andere Berufsgruppen zu Rate ziehen sollte (oder wann Musiktherapie gar nicht indiziert ist).
So kann etwa bei Familien mit autistischen Kindern Musik eine erste „Brücke“ zur innerfamiliären Kommunikation und Interaktion herstellen. Im musikalisch-spielerischen Tun zwischen
Bezugsperson und Kind können Ressourcen entdeckt und Freude erlebt werden. Dennoch gibt es auch Themenbereiche, bei denen die Musiktherapie an ihre Grenzen stößt und
andere Berufsgruppen wichtige Beiträge zur Entwicklungsförderung leisten. So können etwa sensorische Überempfindlichkeiten oft bestmöglich in der Ergotherapie behandelt werden,
vorschulische Fertigkeiten wie konzentriertes Arbeiten unter elterlicher Hilfestellung oder eine Erweiterung des Spielverhaltens in der Sonder- und Heilpädagogik. Nichtsdestotrotz kommt es beim sogenannten transdisziplinären Arbeiten auch zu Überschneidungen: In einem gut vernetzten Team können Elemente aus der einen Therapie auch für die andere Therapie übernommen werden. Allerdings bleibt das Hauptaugenmerk in jeder Therapierichtung spezifisch.

Aus der Perspektive der Betroffenen
Ein gutes Beispiel für gelungenes Zusammenarbeiten verschiedener Berufsgruppen mit einer Familie ist die Geschichte von Lilly Haller, die als Vortragende am Symposium „Music Therapy
with Families 2022“ zusammen mit ihrer Mutter, ihrer Musiktherapeutin Brigitte Meier-Sprinz und ihrem Neuropädiater Andreas Sprinz ihre Erfahrungen vorstellte (Abb. 4).
Lilly Haller, 2007 geboren, hatte bis vor wenigen Jahren kaum Möglichkeiten, mit der Außenwelt zu kommunizieren. Bedingt durch schwere Komplikationen während der Geburt und eine dadurch verursachte Hirnschädigung sitzt Lilly im Rollstuhl, hat kaum Kontrolle über ihre Bewegungen und verfügt über keine lautsprachliche Ausdrucksmöglichkeit.
Lilly wurde zu Hause, zusammen mit ihrer Mutter Heike Haller, im Rahmen eines Forschungsprojekts von Brigitte Meier-Sprinz musiktherapeutisch betreut. Dabei stellte sich durch die Wiederholung bestimmter rhythmischer Muster heraus, dass sie in der Lage ist, einen Muskel im Oberarm so zu bewegen, dass trotz Spastik ein gezieltes Anspannen des Muskels möglich
wird. In der Ergotherapie wurde diese Bewegungsansteuerung zusätzlich geübt, sodass Lilly mit der Zeit und viel Unterstützung ihrer Mutter ein eigenes Kommunikationssystem
entwickelte. Mittlerweile kann sich Lilly – digital unterstützt – differenziert schriftsprachlich ausdrücken. Zusätzlich hat die Familie Musik als Ressource entdeckt und Lilly das Schreiben
und Musizieren als kreativen Ausdruck im Alltag integriert. Über ihre Anfänge in der Musiktherapie schreibt sie:
Ich hab noch nie so viele Instrumente auf einmal in einem Zimmer gesehen. Ich durfte alles anfassen und hören, wie es klingt. Es war so, dass wir uns erst kennenlernen mussten. Sehr vorsichtig, aber gründlich. Zu der Zeit war ich noch […] oft krank und echt frustriert, weil ich so falsch eingeschätzt wurde. Ich hatte Angst, dass es in der Musik auch so wird.“ (Lilly Haller, 2022)
Schlussendlich ist es die Musik und die feinfühlige Wahrnehmung ihrer Mutter und der Therapeutin bzw. die Unterstützung der Ergotherapeutin und des Neuropädiaters, die es möglich
machten, dass Lilly endlich an der Welt teilhaben und solch wichtige Botschaften wie diese äußern kann:
„Es ist so wichtig, dass wir aufeinander achtgeben, jede:r ist so einzigartig. Dass Kinder in Schubladen gesteckt werden, das ist nicht sehr schlau, denn es nimmt denen, die darin stecken, die Freude am Leben.“ (Lilly Haller, 2022)
Für genauere Einblick in Lilly Hallers Vortrag, siehe auch https://www.mdw.ac.at/magazin/index.php/2022/11/29/musiktherapie-oeffnet-tueren/
Auch Maxim Thompson, der mittlerweile erwachsen ist und sich beruflich unter anderem als Künstler betätigt, gibt beim Symposium „Music Therapy with Families 2022“ zusammen
mit seinem Vater Bill und seiner früheren Musiktherapeutin Amelia Oldfield Einblick in seine schon lange zurückliegende Musiktherapie. Maxim, genannt Max, der als Kind die Diagnose Autismus-Spektrum-Störung erhielt, nahm ein Jahr lang mit seinem Vater an der Musiktherapie teil. Ziel war es, seine Kommunikations- und Interaktionsfähigkeiten zu unterstützen. Obgleich Max wegen seines damals jungen (Kindergarten-)Alters wenig Erinnerung an die Therapie hat, so blieb doch ein starkes Interesse für Musik sowie die Begeisterung für eigenes
Musizieren und kreatives Schaffen aus dieser Zeit bestehen.
Über die Idee eines dokumentarischen Musiktherapie-Filmprojektes nahmen Max und seine damalige Therapeutin schließlich vor fünf Jahren wieder Kontakt zueinander auf und eine neue Zusammenarbeit begann: Unter der Regie von Max Thompson und mit seinem Vater als Produzent entstand der faszinierende Dokumentarfilm „Operation Syncopation“ (zu
finden auf youtube.com). Dieser zeigt Ausschnitte aus Musiktherapieprozessen von zehn autistischen Kindern und ihren Familien, die bei Amelia Oldfield vor 17 Jahren Musiktherapie erhalten hatten. Verknüpft werden diese Filmausschnitte mit aktuellen Interviews, in denen alle Beteiligten (Kinder und Elternteile) ihre Erinnerungen dazu teilen und reflektieren.
Gemeinsam mit seinem Vater zieht auch Max bei seinem Vortrag in Wien die Bilanz, dass die Musiktherapie vor allem ein „Ressourcenort“ war, an dem gesehen wurde, was er kann und nicht nur Defizite im Fokus standen. Ähnlich wie bei Lilly ebneten positive Interaktionen mit der Musiktherapeutin und dem Elternteil den Weg für die Teilhabe an der Außenwelt. Auch hier gab es ein eng vernetztes Zusammenarbeiten mit anderen Berufsgruppen. Noch heute stellen die Musik und sein kreatives Schaffen eine wichtige Ausdrucksform für Max dar, die es ihm ermöglicht, Botschaften zu vermitteln, die ihm wichtig sind (Abb. 5).
Die Perspektiven von Personen wie Lilly Haller oder Max Thompson, die Musiktherapie selbst in Anspruch genommen haben, in fachliche Diskussionen integrieren zu können, stellte beim Symposium „Music Therapy with Families 2022“ eine sehr große Bereicherung dar. Gleichzeitig verdeutlichte dies auch nochmals die Chance, die diese Form musiktherapeutischen
Arbeitens bieten kann, wenn alle Beteiligten sich als „Expert:innen für ihr eigenes Erleben und Verhalten“ auf Augenhöhe begegnen (auch in der Wissenschaft – Stichwort: partizipative Forschung).
In beiden geschilderten Fallbeispielen war die Beteiligung eines Elternteils jedenfalls ein wesentlicher Faktor für den Therapieerfolg bzw. den Transfer der Erfahrungen in den Alltag.
Idealerweise entfaltet Musiktherapie ihre Wirkung über den Behandlungsraum hinaus und fördert – das Umfeld mit einbeziehend – die Teilhabe und positive Entwicklung des gesamten (Familien-)Systems.

…alle Stimmen werden gehört
Wie nun bereits deutlich wurde, umfasst der Begriff „Musiktherapie mit Familien“ ein breites Spektrum musiktherapeutischer Arbeit. Was all diese Ansätze aber gemeinsam haben, beschreiben Jacobsen & Thompson (2017) als eine äußerst respektvolle Haltung den Familien bzw. Systemen gegenüber, mit denen sie arbeiten. Das Erfahrungswissen, die Wünsche und die Ressourcen aller Beteiligten nehmen einen hohen Stellenwert ein und stellen eine wichtige Grundlage der gemeinsamen Arbeit dar.
Im Fokus steht sehr oft die Qualität des Beziehungsgeschehens. Hier öffnet Musiktherapie Spielräume, um sich auf nichtsprachlicher Ebene musikalisch zu begegnen und dadurch neue
Erfahrungen miteinander zu machen. Gehalten und begleitet werden diese Begegnungen durch die therapeutische Beziehung, die einen sicheren Rahmen dafür bietet, dass wirklich alle Stimmen gehört werden können.
Sowohl Erfahrungsberichte von betroffenen Familien, praktische Erfahrungen von Musiktherapeut:innen (vgl. Burghardt-Distl & Kofler, 2022) als auch Forschungsprojekte zeigen auf, dass der Miteinbezug des gesamten Systems von enormer Wichtigkeit für den Transfer von Therapieinhalten in den Alltag ist. Daher sollte die dahingehende Weiterentwicklung der Profession zunehmend in den Fokus rücken.

Austausch und Vernetzung als wichtige Ressourcen
Das „Music Therapy with Families Network“ (Abb. 6) besteht aus einem Zusammenschluss engagierter Musiktherapeut:innen und hat zum Ziel, die Vernetzung auf internationaler
Ebene auszubauen, um bestmöglich voneinander lernen zu können. Nähere Informationen sind auf der Website www.mdw.ac.at/mt-family zu finden, die derzeit aufgebaut wird.
Geplant ist, dadurch eine Plattform zur Verfügung zu stellen, auf der sich Informationen zu aktuellen Veranstaltungen, Weiterbildungen ebenso wie Literaturhinweise, Anwendungsfelder und Impulse zur Weiterentwicklung und gemeinsamen Forschungsinitiativen finden. Interessierte Kolleg:innen sind herzlich eingeladen, unter der Mailadresse Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein! Kontakt aufzunehmen und sich per Newsletter über aktuelle Entwicklungen informieren zu lassen!

Referenzen
Bücker T. (2022). Unlearn familie. In L. Jaspers, N. Ryland & S. Horch (Hrsg.), unlearn patriarchy (S. 123–142). Berlin: Ullstein.
Burghardt-Distl, A. & Kofler, K. (2022). Kluge Synergien. Systemische Psychotherapie und Musiktherapie in der Gruppentherapie mit sozial-ängstlichen Kindern und deren Familien. In C. Unterholzer & H. Gröger (Hrsg.), Handbuch der systemischen Gruppentherapie.
Ansätze, Methoden, Zielgruppen, Störungsbilder (S. 280–295). Heidelberg: Carl-Auer.
Cierpka, M. (2008). Handbuch der Familiendiagnostik (3. Aufl.). Heidelberg: Springer.
Phan Quoc, E., Riedl, H., Smetana, M. & Stegemann, T. (2019). Zur beruflichen Situation von Musiktherapeut.innen in Österreich: Ergebnisse einer Online-Umfrage. Musiktherapeutische Umschau, 40, 236–248. doi:10.13109/muum.2019.40.3.236
Phan Quoc, E. (2021). Die Bedeutung der Bindungstheorie für die Musiktherapie. In T. Stegemann & E. Fitzthum (Hrsg.), Kurzlehrbuch Musiktherapie. Teil II. Wiener Ringvorlesung Musiktherapie – Grundlagen und Anwendungsfelder. Wiener Beiträge zur Musiktherapie Band 13 (S. 171–192). Wien: Praesens.
Stegemann, T. (2021). Musiktherapie mit Familien. In H.-H. Decker-Voigt & E. Weymann (Hrsg.), Lexikon Musiktherapie (3. Aufl., S. 411–417). Göttingen: Hogrefe.

Agnes Burghardt-Distl, MMag.a
Musiktherapeutin und Psychologin. Seit 2007 im Kinder- und Jugendbereich therapeutisch tätig. Internationale Forschungsmitarbeit und Vorträge, v.a. in den Themenbereichen Autismus-Spektrum-Störungen und interdisziplinäres Arbeiten mit Familien.
Kontakt: www.praxisburghardt.distl.net

Thomas Stegemann, Univ.-Prof. Dr.
med. Dr. sc mus
Professor für Musiktherapie und Leiter des Instituts für Musiktherapie an der mdw – Universität für Musik und darstellende Kunst Wien; Musiktherapeut, Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Paar- und Familientherapeut. Internationale Lehr- und Vortragstätigkeit. Forschungsschwerpunkte: Musiktherapie und Neurobiologie; Familien-Musiktherapie; Ethik in der Musiktherapie.
Kontakt: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!

Eva Phan Quoc, Mag.a art.
Senior Scientist am Wiener Zentrum für Musiktherapie-Forschung (WZMF), Lehrtätigkeit am Institut für Musiktherapie, mdw – Universität für Musik und darstellende Kunst Wien. Musiktherapeutin in freier Praxis mit Kleinkindern und Familien. Forschungsschwerpunkte: Bindungsbasierte Musiktherapie, Eltern-Kind-Interaktion, Musiktherapie mit Familien, Musiktherapeutische Forschungsmethodik und Assessments.
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