Schwerpunktthema

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Musiktherapie in Hospiz und Palliativmedizin

Spielräume in der Palliativmedizin

Von Pia Preißler



Als Musiktherapeutin auf der Palliativstation arbeite ich gemeinsam mit dem Psychologen bezugstherapeutisch und integriere spezifisch musiktherapeutische Verfahren in eine psychoonkologische Betreuung der Patienten und deren Angehörigen.
Nur für einen Teil unserer Patienten ist es selbstverständlich oder aus eigener Initiative möglich, sich für eine Behandlung der psychisch-seelischen Ebene zu öffnen.
In meiner Arbeit geht es darum, im Erstkontakt ein Vertrauen aufzubauen, welches dem Patienten ermöglicht, in seiner hochbelasteten Situation Selbstwahrnehmung zuzulassen. Im ersten Schritt erkunde ich mit dem Patienten, in wieweit er sich im jeweiligen Moment mit sich selbst und seiner Lebenssituation auseinandersetzen kann und möchte.

Wenig ist dabei vorausschaubar und planbar. Die Arbeit lebt von einer hohen Flexibilität und einer kreativen Spontaneität. Oft sind z. B. Symptome wie Übelkeit oder Müdigkeit so beherrschend, dass ein Kontakt zu diesem Zeitpunkt gar nicht möglich ist. In dem komplexen Krankheitsgeschehen und im Stationsalltag braucht es für therapeutische Beziehungsarbeit ein gutes Gespür für den günstigen Augenblick und das ihm innewohnende Potential.
Für den Patienten geht es um die Entwicklung der Kunst des Hinspürens zu seiner eigenen Weise, die Begrenzung des Seins zu meistern.
Der erste Schritt ist, etwas aus der oft isolierten und auf das Leid fokussierten Erfahrungswelt kommunizierbar zu machen. Als Musiktherapeutin suche ich nach der Resonanz, die die Musik dem Patienten für seine Erfahrungen geben kann. Der Facettenreichtum von Musik ermöglicht dabei eine sehr behutsame Annäherung an die Gefühle von Angst und Trauer und lässt oft Hoffnungsschimmer zwischen diesen Gefühlsqualitäten erkennen. Die innere Festlegung auf das Leiden kann durch musikalische Impulse eine neue Beweglichkeit erfahren. Der Kontakt zu sich selbst wird wieder belebt.
Die Kunst des Hinspürens ist in unserem Arbeitsfeld eng verbunden mit der Kunst der Abwehr. Zur inneren Stabilisierung ist oft ein sehr stützendes und ressourcenorientiertes Vorgehen indiziert, welches methodisch ablenkt von Leiden und dadurch Kraft geben kann. Hier setze ich gezielt die Beschäftigung mit Musik zur Defokussierung ein. Ich lasse mir zum Beispiel von einem beglückenden Opernbesuch erzählen, singe Lieblingssongs oder gehe dem Wunsch nach, sich einfach nur zur Musik entspannen zu dürfen. Dabei halte ich meine Aufmerksamkeit offen für Zwischentöne.
In diesem Spannungsfeld zwischen Hinspüren und Abwehren, zwischen bewusster Auseinandersetzung und Ablenkung, entstehen die Spielräume der Situation.


Spielraum 1:

Herr Molt (Name verändert), ein Patient von kräftiger körperlicher Statur, ist in seinen Wahrnehmungs– und Ausdrucksmöglichkeiten stark eingeschränkt. Durch ein Tracheo­stoma (eine operativ angelegte Öffnung der Luftröhre) kann er nicht sprechen und eine obere Einflussstauung lässt sein Gesicht so stark anschwellen, dass er nur noch mit einem Auge schauen kann. Unsere Gespräche finden über eine Schreibtafel statt. Die zunehmende Einfluss­stauung schränkt diese Möglichkeit zusehends ein. Es bleibt nicht mehr viel Zeit. In unseren Gesprächen zeigt sich, dass sich auch im inneren Raum Vieles aus der Lebensgeschichte angestaut hat: unglückliche Beziehungserfahrungen, Schuldgefühle, ein unerfüllter Wunsch nach Anerkennung. Indem ich mich einlasse auf diese emotio­nale Situation, spüre ich als innere Resonanz eine tiefe Trauer über das greifbar werdende Schwinden der Möglichkeiten, weiter am Leben teilzunehmen und eine Veränderung dieser Lebenserfahrungen aktiv bewirken zu können. Auch taucht da eine große Verzweiflung auf, die sich mit Wucht den Weg bahnen möchte. Dem Patienten jedoch ist eine Ausdrucksmöglichkeit für solche Gefühle verwehrt, da ist nur dieses feine Geräusch eines schreibenden Stiftes auf Papier. Und Tränen, die still fließen.
Ich suche nach einem Musikstück, welches Resonanz geben kann auf das, was ich aus der Innenwelt des Patienten erahne.
Ich möchte dem Patienten die Möglichkeit geben, trotz erzwungenen Rückzugs aus der äußeren Handlungsfähigkeit in Resonanz mit einer Musik zu gehen. So kann er die symbolische Durcharbeitung von Gefühlen, die dort geschieht, für den eigenen Verarbeitungsprozess nutzen – auch ohne ihn aktiv in die äußere Kommunikation zu bringen.
Ich wähle Samuel Barbers Violinkonzert op. 14 in der Kombination mit Vaughan Williams Fantasia on Greensleeves. Im ersteren öffnet sich ein Raum für Zurückschauen und Abschied. Gefühlsqualitäten von Trauer und Schmerz können im Hören durchlebt werden. Die Solovioline windet und kämpft sich durch mit großer Intensität und Dynamik. Das Orchester gibt Unterstützung auf dem Weg, den sie alleine gehen muss.
Herr Molt gibt mir zu Beginn ein Zeichen, das Stück sehr laut abzuspielen. Beim Hören kann er Tränen fließen lassen und in der Musik, die das Zimmer ausfüllt, entsteht ein gemeinsamer Erlebensraum, in dem sich der Patient verstanden fühlt.
Die Greensleeves Phantasien ermöglichen eine schrittweise Erdung und Versöhnung. Nach dem Ausdruck der großen inneren Dramatik braucht es dies zur Stabilisierung.


Spielraum 2:

Auf der Akutstation unserer ­Klinik lerne ich Frau Feise (Name verändert) kennen. Es zeichnet sich ab, dass ihr Tumor nicht mehr kurativ behandelt werden kann. Frau Feise tut sich schwer mit der Verlegung auf die Palliativstation. Sie fühlt sich abgeschoben und wertlos. Es aktua­lisiert sich hier eine alte Lebenserfahrung. Diese können wir nur ansatzweise betrachten und aufarbeiten, da Frau Feise mit zunehmender Schwäche konfrontiert ist. Sie ist sehr frustriert, dass sie nicht mehr viel tun kann und gibt sich immer mehr auf. Wichtig für die musiktherapeutische Intervention wird es hier, diesem Erleben ein Gegen­gewicht zu setzen. Ich suche mit Frau Feise nach einer Möglichkeit, ein Gefühl von Handlungs- und Gestaltungsfähigkeit lebendig zu halten, etwas Wertvolles zu erschaffen und eine Idee von Sinnhaftigkeit zu bewirken.
Sie wählt das Röhrenglockenspiel (eine Zusammenstellung pentatonisch gestimmter, lang nachklingender Röhrenglocken), welches leicht genug ist, um es liegend auf dem Bett spielen zu können. Auch mit wenig Kraft können die Schlegel von ihr so bewegt werden, dass sie eine kleine Melodie gestalten kann. Ich begleite sie auf der Körpertambura (ein von B. Deutz entwickeltes 28-saitiges Klanginstrument, gestimmt auf die Töne A-d-d-D), gebe ihr dadurch Resonanz auf ihr Spiel. Wir schaffen einen gemeinsamen Klangraum. Es entsteht eine sehr zarte, feine, wunderschöne und tröstende Musik, die Anteile zum Schwingen bringt, die unter der Frustration und Trauer begraben schienen. Während des Spiels nickt Frau Feise für kurze Momente ein, wacht wieder auf und spielt einen nächsten Ton. Die Klänge der Tambura fließen in der Zwischenzeit weiter, die Schwäche muss kein Aufgeben bewirken. Unserem Spiel tun diese Momente keinen Abbruch, wir können sie vielmehr als musikalische Pausen in das Spiel integrieren und ihnen dadurch einen Sinn geben.
Die Augen von Frau Feise leuchten bei unserer Verabschiedung, ein Lächeln verzaubert ihr sonst in sich gekehrtes Gesicht.


Spielraum 3:

Frau Ahrens (Name verändert) leidet sehr unter schwer in den Griff zu bekommenden Schmerzen. Hinzu kommen stark depressive Gedanken. Am Beginn unseres Kontaktes sprechen wir über ihre musikalischen Vorerfahrungen. Früher habe sie gerne Musik gehört, jetzt leide sie aber eher darunter, dass sich beim Musikhören keine inneren Bilder mehr einstellen. Etwas sei erstarrt. Lebensgeschichtlich wäre hier etwas aufzuarbeiten, die Kraft jedoch fehlt. In der Situation braucht es eine Brücke aus der Erstarrung. Wir finden sie durch die Oceandrum (eine beidseitig bespannt Rahmentrommel, in der kleine Stahlkügelchen hin- und herbewegt werden). Über die Lenkung der Aufmerksamkeit auf ein Geräusch hin ist die Hörerfahrung genügend neu, um die Erfahrung der erstarrten inneren Bilder zu umgehen. Statt der Zimmerwand ist da nun der Ostseestrand, der Horizont öffnet sich. Frau Ahrens kann das Rauschen der Wellen wahrnehmen, fühlt die Sonne auf der Haut, die leichte Brise im Gesicht und tankt spürbar neue Kraft. Ich gebe das Instrument weiter an die Tochter, die zu Besuch ist. So kann sie ihrer Mutter dieses Geschenk machen.


Verklungen

Drei Menschen, in deren Sterbeprozess die Musik eine Bedeutung bekam. Bei denen sich im Ausklingen des Lebens Spielräume fanden. Alle drei verstarben ein paar Tage später in meiner Abwesenheit. In der musikalischen Gestaltung der Erinnerungsstunde auf unserer Station wird es mir möglich, mich der Klangfarben zu erinnern, sie in mein Spiel zu integrieren und so Abschied zu nehmen.

 

Die Autorin:

Pia Preißler
Diplom-Musiktherapeutin
Tätig als Musiktherapeutin seit 2007, vorwiegend mit onkologischen Patienten. Arbeit im Onko­logischen Zentrum des Universitätsklinikums Hamburg-­­Eppendorf seit 2008. Derzeit Durchführung eines Forschungsprojektes zur Musiktherapie.
Kontakt: p.preissler(at)uke.de