Schwerpunktthema

  • Drucken

Ein ‚musiktherapeutischer Brückenbau‘ über das ‚Fremde‘ hinweg

Von Eric Pfeifer

 

Auszüge einer musiktherapeutischen Pilotstudie bei Erstklässlern mit und ohne Migrationshintergrund an einer Volksschule in Österreich

Rudi Raupe und Klara Räupchen würden wohl aus dem staunenden Berichten gar nicht mehr herauskommen, wäre es an ihnen beiden, hier eine kleine Zusammenfassung zu bieten, was denn im Zuge der in der Überschrift genannten Pilotstudie alles erlebt, gefühlt und beobachtet wurde. Ach, Sie fragen sich vielleicht, wer Rudi Raupe und Klara Räupchen sein mögen? Nun, um es kurz zu fassen, könnte man sie gut und gerne als in diesem Pilotstudienprojekt stets anwesende ‚Zeitzeugen‘ betrachten. Es handelt sich dabei nämlich um zwei gebastelte Rainmaker-/Regenmacher-Instrumente in Raupengestalt, die die Kinder in verschiedensten Funktionen begleiteten und unterstützten. Einerseits konnten Rudi Raupe, und vor allem die kleinere Klara Räupchen, in Situationen, in denen Trost benötigt wurde, als Kuscheltierchen dienen. Andererseits war der symbolische Charakter von großer Bedeutung. Mit Klara Räupchen, als über alle Sprachbarrieren hinwegsehendes Sprach- und Sprechrohr, konnte Schwer-Sagbares, Trauriges, Belastendes, Fröhliches und Erfreuliches auf musikalischem Wege, verbal wie non-verbal ausgedrückt und ausagiert werden, während Rudi Raupe ein wichtiger Begleiter, ja Überleiter auf dem Weg vom Klassenzimmer zum Musikzimmer war, wo die Musiktherapiestunden stattfanden.

Rudi Raupe und Klara Räupchen waren somit wichtige Elemente in einem an einer Schule angesiedelten, interkulturellen Musiktherapieprojekt, das zugleich als Basis eines Promotionsvorhabens dient(e) (vgl. Pfeifer). Dieses Vorhaben trägt den vorläufigen Titel „Musiktherapeutische Vorgehensweisen als Präventions- und Fördermaßnahmen zur Integration von Erstklässlern mit und ohne Migrationshintergrund. Eine Pilotstudie in Österreich“. Über das Wintersemester des Schuljahres 2011/12 nahm eine erste Klasse einer Volksschule (entspricht der Grundschule in Deutschland), geteilt in zwei Gruppen, an diesem Musiktherapieprojekt teil. Jede der beiden Gruppen mit ca. 10 Schülern erhielt dabei 1 Stunde Musiktherapie pro Woche – von September bis Februar. Das Besondere dabei ist, dass die Musiktherapieeinheiten fix im Stundenplan der Klasse verankert waren und sich dennoch keinerlei Schwierigkeiten mit dem Begriff ‚Therapie‘ bzw. ‚Musiktherapie‘ auftaten. Die Musiktherapiestunden wurden schlicht und einfach in den Fächerverbund ‚GU‘ (Gesamtunterricht) der Klasse aufgenommen. Dieses, an Volksschulen in Österreich existierende Fach ‚GU‘, ermöglicht es der jeweiligen Klassenlehrerin/dem Klassenlehrer im Ausmaß einer bestimmten Anzahl an Stunden mit einer gewissen Freiheit zu agieren, mit welchem Bereich sie die Stunde füllen möchte (Lesen, Schreiben, Rechnen usw.).
Möglicherweise lässt dieser Weg der Einbindung der Musiktherapie in den Schulalltag bereits erahnen, dass sich hier glücklicherweise eine ganz besondere Wertschätzung und Unterstützung aller Beteiligter (Landesschulinspektorat, Landesregierung, Schulleitung, Lehrer, Eltern) einstellte. Vorausgegangen waren dabei natürlich gemeinsame, aufklärende, diskussionsreiche und Informationen vermittelnde Gespräche, Konferenzen, Telefonate und Elternabende, die wesentlich zu einer solchen Haltung des ‚Miteinander-Tuns‘ beitrugen!
Als Hintergrundwissen soll noch erwähnt sein, dass diese erste Klasse, in der das Musiktherapieprojekt stattfand, einen Anteil an Kindern mit Migrationshintergrund von über 50% aufwies. Herkunftsländer und -nationalitäten waren u. a. Brasilien, Türkei, Spanien, Tschechien, Italien, Russland, Deutschland. Hinsichtlich dem der Studie zugrunde liegenden Verständnis von Migration sei an dieser Stelle auf einige Gedanken Fitzthums (vgl. Fitzthum 2007, S. 13, 26) verwiesen. Fitzthum geht von einer Grundannahme aus, dass jede Familie über einen Migrationshintergrund verfügt und selbst ein innerhalb einer Nation geschehender Umzug vom Land in die Stadt, oder umgekehrt, ein verlustreiches Migrationserlebnis darstellen kann. Mehr noch, das Kollektiv einer Gemeinde auf dem Land kann in seiner Reaktion einem lediglich vom Nachbarort zugezogenen Menschen gegenüber gnadenlos sein. Schnell wird dieser dann zum ‚Fremden‘. Zu einem sich fremd fühlenden Fremden in einer fremden Umgebung unter Fremden.
Ziel und Absicht der musiktherapeutischen Vorgehensweisen und der mit dem Pilotstudiencharakter verbundenen Fragestellungen ist es nun, zu untersuchen, ob und wie Musiktherapie hier einen Beitrag leisten kann, um eine solche ‚Fremdheit‘, Aspekte des ‚Fremdseins‘ (bezogen auf Sprache, Kultur, Herkunft, Werte, Normen etc.) in und zwischen den Kindern zu überbrücken. Dabei gilt vor allem der Multimodalität im Ausdruck der Kinder besonderes Augenmerk, also jenen gesamtkörperlichen Ausdrucksmöglichkeiten, die die Kinder entwickeln und nutzen, um eine solche Überbrückung herzustellen.
Als Detail am Rande ist noch zu erwähnen, dass sich innerhalb der kurzen Zeit dieses einen Semesters des Schuljahres eine, von der Klassenlehrerin ebenfalls als ungewöhnlich intensiv betonte, (Wander-)Bewegung einstellte. Einige Kinder zogen weg, andere kamen neu hinzu, Weggezogene kehrten zurück usw. Dies trug wohl ebenfalls zu einer gewissen Unruhe und stetig wiederkehrenden Präsenz von ‚Fremdheit‘ bei. Gerade deshalb soll im Zuge der Studie gleichermaßen auch untersucht werden, ob sich das Selbstkonzept der Kinder auf individueller Basis bzw. Gruppen-/Klassenebene durch musiktherapeutische Vorgehensweisen möglicherweise in seiner Entwicklung positiv befördern lässt. In diesem Zusammenhang werden Selbstkonzepte als die Gesamtheit jener Sichtweisen verstanden, die ein Mensch von sich selbst geformt hat und formt (vgl. Filipp 1980, S. 107). Dabei spielen soziale Situationen und Verhaltensweisen eine wichtige, sich gegenseitig beeinflussende Rolle. Als Vergleichsbasis – in Bezug auf die Entwicklung der Selbstkonzepte – dient in dieser Hinsicht eine weitere erste Klasse derselben Schule als Kontrollgruppe. Diese Kontrollgruppe/-klasse erhielt im Gegensatz zur Projektklasse keine Musiktherapie.
Migration bzw. der Akt, das Vollführen einer Migrationshandlung, bringt vielfach tiefgreifende Folgen mit sich. Allzu häufig sind diese Folgen leider negativer Natur (Erkrankungen, Störungen, Verlust sozialer Kontakte, Sprachlosigkeit und -ohnmacht, Isolation, Arbeitslosigkeit u. v. m.). Die ursprünglich hoffnungsvolle Absicht, durch die Wanderung in ein anderes Land die eigene Situation zu verbessern, erfährt dann mitunter einen herben Rückschlag. Erschwerend kommt für die betroffenen Kinder noch hinzu, dass sie in seltensten Fällen mit in die Entscheidung, ob, wann und wie ‚(aus-)gewandert‘ wird, einbezogen werden.
Anlass zur Zuversicht, dass aber gerade Musiktherapie über Kompetenzen, Möglichkeiten und Interventionen verfügt, um hier sowohl vor- wie nachsorgend Hilfe, Unterstützung und Behandlung in Aussicht zu stellen, zeigt sich anhand so manch in der Literatur geschilderter Erfahrungen. Demzufolge ist Musiktherapie in der Behandlung bei Kindern mit Migrationshintergrund u. a. sinnvoll, weil dadurch auf non-verbalem Wege Ausdruck, Kommunikation und Kontakt angebahnt und geschaffen werden können. Nicht-Sagbares kann mitgeteilt werden und das zugleich noch auf eine Art und Weise, die dem Kind besonders entspricht: über erlebnisorientiertes, schöpferisch-spielerisches Tun (vgl. z. B. Stegemann 2005, S. 64–65).
Als ganz besonders wichtig waren und sind in Hinblick auf die Durchführung der Musiktherapieeinheiten an der Schule und die anschließende Auswertung der durch Videoaufnahmen, Teilnehmende Beobachtung und Testung gewonnenen Daten einige Ansätze und Gedanken, die den Gesamtprozess wesentlich prägten und formten. Einerseits war es Ziel und Absicht der therapeutischen Vorgehensweisen zum frühestmöglichen schulischen Zeitpunkt auf präventive, also vorbeugende Art und Weise, Unterstützung zu bieten. Die Schulkinder sollten so die Chance auf ein Angebot erhalten, das sie da abholt und begleitet, wo sie sich befinden und ihnen zu einem Zeitpunkt Handlungskompetenzen und Ausdrucksmöglichkeiten ermöglicht, noch bevor sich Störungen, Krankheiten usw. erst aus-entwickeln und festsetzen müssen/können. Es galt und gilt über die gesamte Pilotstudie hinweg, die Kinder als Akteure in ihrem Umfeld und in ihren Aussagen stets ernst zu nehmen und keinesfalls als noch nicht Erwachsene oder dem Erwachsenen untergeordnete Menschen zu betrachten. Aus diesem Grund sollten die Kinder unbedingt auch die Möglichkeit erhalten, in den Musiktherapieeinheiten über den Verlauf und die Inhalte mitzuentscheiden, genauso wie sie die Testbögen des standardisierten Tests selbst ausfüllen konnten, ohne dass jemand über sie hinweg urteilte.
Natürlich ging es in den Stunden nicht immer fröhlich, reibungslos und ruhig zu. Es gab auch Krach, Streit, Traurigkeit usw., denn schließlich waren die Themen gleichwohl fröhlich, lustig und abenteuerlich wie eben laut, traurig und bedrückend. Mehr als nur manchmal wurde jener zurückgelassenen Freunde, Schulkameraden, Familienmitglieder und Angehörigen gedacht und musiziert, die bitterlich vermisst wurden. Dass dabei aber sowohl Kinder mit wie auch Kinder ohne Migrationshintergrund Erlebnisse von Verlust, Freude und Trauer, Erfolg und Niederlage und noch viel mehr einbrachten und thematisierten, ist wohl verständlich. Deshalb war es von Anfang an wichtig, das musiktherapeutische Schulprojekt als Angebot für alle Kinder der Klasse zu sehen. Die Musiktherapiestunden sollten allen Kindern einen interkulturellen, fördernden und integrierenden Raum eröffnen, den sie in ihrem Ermessen und Ausmaß nutzen durften und konnten.
Was nun aber schlussendlich die detaillierte Schilderung von Fallbeispielen, qualitativ und quantitativ methodischem Vorgehen, Daten und Ergebnissen dieser Pilotstudie anbelangt, so sei darauf verwiesen, dass diese in naher Zukunft veröffentlicht werden sollen.
Diese kleine, einführende Darstellung meines Promotionsvorhabens möchte ich mit ausgewählten Worten abschließen, die mich damals während der Projektdurchführung ganz besonders berührten. Sie stammen von einem Jungen mit Migrationshintergrund, der am Projekt teilnahm und mit diesen Worten den Sitzkreis der allerletzten gemeinsamen Musiktherapiestunde eröffnete. Die Aussage sei in genau jenen Silben wiedergegeben, wie der Junge sie aussprach, und darf meines Erachtens gut und gerne als Aufruf für die Musiktherapie gefasst werden, weiterhin und vermehrt, mit achtsamem und einfühlsamem Mut und Ideenreichtum, einer interkulturellen Welt mit interkulturellen musiktherapeutischen Ansätzen zu begegnen: „Herr Pfeifer, weil unser letzter Tag heute ist, machen wir etwas ganz Schönes!“

(Dem Verfasser persönlich eine wichtige Anmerkung: Den Kindern war völlig frei gestellt, ob sie mich lieber mit meinem Vor- oder Nachnamen anreden wollten.)

Der Autor:

Eric Pfeifer
Musiktherapeut (M.A.), Diplompädagoge, Universitäts-Dozent, Lehramtsstudium für Musikpädagogik und Englisch, Kompositionspreisträger, Musiker.
E-Mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!

 

Literatur

  • Filipp, S.-H. (1980). Entwicklung von Selbstkonzepten. In Zeitschrift für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie. Band XII. Heft 2. S. 105–125.
  • Fitzthum, E. (2007). Die Rolle der Lehr-Musiktherapie beim Vermitteln von interkulturellen Kompetenzen, Studienmigration, Re-Migration und der Export von Musiktherapie am Beispiel Korea. In Berufsverband der Musiktherapeutinnen und Musiktherapeuten in Deutschland e. V. (BVM) (Hrsg.), Jahrbuch Musiktherapie. Kultursensibilität und Musiktherapie. Zeitpunkt Musik. Forum Zeitpunkt. Band 3. Wiesbaden: Reichert Verlag. S. 11–40.
  • Pfeifer, E. (in Entstehung). Musiktherapeutische Vorgehensweisen als Präventions- und Fördermaßnehmen zur Integration von Kindern mit und ohne Migrationshintergrund. Eine Pilotstudie in Österreich. Dissertation. Universität Augsburg.
  • Stegemann, T. (2005). „Ich singe, was ich nicht sagen kann“. Zu Theorie und Praxis musiktherapeutischer Interventionen in der psychotherapeutischen Arbeit mit Flüchtlingskindern. In Psychosozial. Jahrgang 28. Heftnummer 105. S. 49–66.