Schwerpunktthema

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Traumatische Erfahrungen und ihre Behandlungsmöglichkeiten in der Musiktherapie

Von Gitta Strehlow

Fallvignette 1:
Frau B. (43) wählt, wie auch in früheren Stunden, das kleine Glockenspiel. Sie denkt sich gern kleine Melodien aus und spielt diese mit lächelnd entspannter Miene. Die Therapeutin begleitet ihr Spiel mit dem großen Metallophon, indem sie die Töne der Patientin durch eine regelmäßige Begleitung mit langsamen tiefen Tönen ergänzt. Die Musik von beiden kann mit Hauptstimme (Patientin) und Begleitung (Therapeutin) beschrieben werden. Allmählich verändert sich das Spiel in eine dialogische Frage-Antwort-Form. Frau B. und die Therapeutin unterhalten sich in der Tonsprache miteinander und versichern sich jeweils, dass sie noch da sind und sich hören. Frau B. genießt dieses Zusammenspiel offensichtlich. Frau B. reflektiert anschließend, dass sie sich solch ein friedliches Miteinander auch mit ihrer Tochter wünschen würde. Traurig merkt sie an, dass sie sich in ihrer Jugend, ähnlich wie jetzt auch, sehr einsam gefühlt habe und ihr ein Miteinander fehlte. Entlastet und auch nachdenklich verlässt sie die Therapiesitzung.


Zur Psychotraumatologie
Der Bedarf Patienten zu behandeln, die aufgrund von traumatischen Erfahrungen eine Therapie aufsuchen, hat in den letzten 20 Jahren beachtlich zugenommen. Fortbildungen, spezialisierte traumaorientierte Therapiekonzepte und Literatur sind rasant angewachsen, mit der Folge, dass im psychotherapeutischen Diskurs das Thema Trauma nicht mehr wegzudenken ist. Mit welchen Störungen und wie intensiv auf ein traumatisches Erlebnis reagiert wird, ist abhängig von der Dauer, der Schwere, dem Alter, den biologischen und psychischen Prädispositionen, dem Stand der erreichten Entwicklung und der Anwesenheit bzw. dem Fehlen einer hilfreich stützenden menschlichen Umgebung (Dümpelmann 2016). Obwohl sich Freud (1896) bereits vor mehr als 100 Jahren mit traumatischen Erfahrungen befasste, hat sich der Fokus auf äußere Faktoren damals nicht durchgesetzt. Erst in den 1980er Jahren wurde durch die Aufnahme des Krankheitsbildes der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) in den offiziellen Diagnose­katalog anerkannt, dass äußere traumatogene Faktoren zu psychischen Symptomen führen können. In den 90er Jahren entwickelte sich das Fachgebiet der Psychotraumatologie mit dem 3-Phasen-Modell von Stabilisierung, Traumakonfrontation/Bearbeitung und Integration (Fischer et al. 1998). Unterschieden wird nach Terr (1998) Trauma Typ 1 als einmalig und Trauma Typ 2 als anhaltend, kumulativ und multipel. In den psychiatrischen Krankheitsbildern gibt es mittlerweile vielzählige Forschungsergebnisse, die die Verbindung von inneren Krankheitsfaktoren und exogenistischen Krankheitsverursachungen (multiple Traumatisierungen) aufzeigen. Beispielhaft seien hier die Borderline-Persönlichkeitsstörung (Wöller 2014) und die Psychose (Dümpelmann 2016) erwähnt. Glaser (2000) unterschiedet zwei Typen von Traumatisierung:


a)    commission: aktive Übergriffe, Bemächtigung durch Gewalt, Sexualität, Entwertung usw. und
b)    omission: passiv erlittener Entzug, Verlust und Vernachlässigung durch Isolation, Ausgrenzung Nichtbeachtung (Dümpelmann 2016).


Gerade die Traumatisierungen durch omission (Unterlassung, Vernachlässigung) ist in den letzten Jahren in den Fokus gerückt (Allan et al. 2011, S. 279). Neue Erkenntnisse aus der Neurobiologie, Bindungstheorie und Gedächtnisforschung wurden in die neuen Trauma-Therapiekonzeptionen integriert (Dümpelmann 2016, Wöller 2014, Sack et al. 2013, Leutzinger-Bohleber et al. 2008). In der aktuellen Traumaliteratur ist Musik und Rhythmus als heilende Kraft mittlerweile aufgenommen worden (Van der Kolk, 2015, S. 256). Auch in der Musiktherapie hat das Thema Traumatisierung seit Jahren seinen Niederschlag gefunden.


Literatur zur Musiktherapie
Musiktherapie ist in zahlreichen Kliniken und Institutionen etabliert, in denen alte und junge Patienten mit traumatischen Erfahrungen behandelt werden, so dass Musiktherapeuten über reichhaltige Erfahrungen in der Behandlung dieser Klientel verfügen. Insgesamt besteht die musiktherapeutische Literaturliste (deutsch und englisch) zum Thema aus ca. 65 Beiträgen, die aufgrund des Umfangs hier nur ausgewählt erwähnt werden können. Erstmals haben Tüpker 1989 über sexuelle Traumatisierung im deutschsprachigen Raum und Roger (1992) im englischsprachigen Raum publiziert. Besonders das Thema der sexuellen Traumatisierung wurde in der Musiktherapie in über 30 Artikeln (deutsch und englisch) beschrieben und bearbeitet. Bücher, die sich ausschließlich mit dem Thema von Traumatisierung in der Musiktherapie befassen, gibt es bisher nur wenige. Sutton (2002) und Wolf (2007) geben Einblicke in unterschiedliche Gebiete der Psychotraumatologie und ihre Behandlung in der Musiktherapie. Kim (2015), Day et al. (2009), Curtis (2007), York (2006), Decker-Voigt (2005) beschreiben Forschungsprojekte mit dem Fokus der sexuellen Traumatisierung. Maack (2012) und Wiesmüller (2014) befassen sich in ihren Forschungsprojekten genereller mit Traumatisierung. Andere Publikationen befassen sich mit Kriegstraumatisierung, Flucht, Folgen des Holocaust, Migration und der Hilfe bei Naturkatastrophen.


Grundsätze in der Traumabehandlung
Als Grundstrategie in der psychotherapeutischen Behandlung beschreibt Sack et al. (2013) die Balance und Verknüpfung zwischen den beiden Polen von Ressourcenorientierung und konfrontativen Behandlungsstrategien. Die Aufgabe des Therapeuten ist es, zu erkennen, wann er mit zu langer Ressourcenorientierung identifikatorisch ein Vermeidungsverhalten des Patienten übernimmt oder wann eine zu frühe Konfrontation eine emotionale Überforderung des Patienten darstellt. Dieses Spannungsfeld gehört zu den immensen Herausforderungen bei der Arbeit mit traumatisierten Patienten.


Musiktherapie
Die Musiktherapie kann zum einen in der ressourcenorientierten Arbeit verwendet werden, sie kann aber ebenso in der Traumakonfrontation und Bearbeitung ihre Rolle finden.
Im Folgenden werden für beide Bereiche Fallvignetten vorgestellt.


Fallvignette 2
Frau B. war in die psychiatrische Klinik gekommen, da sie von starken Suizidgedanken gequält war. Sie war zwar einerseits niedergeschlagen, antriebslos, doch gleichzeitig konnte sie keine Ruhe finden, nicht schlafen und ihre Gedanken kreisten unaufhörlich. Durch Gespräche erfuhr das Team, dass Frau B. sich große Sorgen um ihre jetzt in der Pubertät befindliche Tochter machte. Erst durch Nachfragen und nur unter großer Scham konnte Frau B. berichten, dass sie selbst in diesem Alter mehrfach sexuell missbraucht worden war. Sie habe über diese Erfahrung nie gesprochen und niemand habe ihren damaligen Rückzug bemerkt. Sie mache sich große Sorgen um ihre Tochter, dass diese sich nicht schützen könne. Die Kleidung der Tochter sei auffällig aufreizend. Gleichzeitig konnte Frau B. gar keine Worte finden, um mit ihrer Tochter zu sprechen. Ihre Tochter war immer seltener zu Hause und zog sich von ihrer Mutter zurück. Frau B. haderte mit sich, denn sie mochte sich selbst nicht, wenn sie zu bestimmend war. Sie wollte ihrer Tochter den Freiraum gern lassen – wenn nur ihre Angst nicht gewesen wäre.
In der Musiktherapie war es Frau B. zunächst nicht möglich, die Instrumente auszuprobieren und auf ihnen zu spielen. Die Angst, etwas falsch zu machen, lähmte sie fast vollständig. Es war notwendig, dass die Therapeutin in dieser aktuellen Krise Entscheidungen für Frau B. übernahm und ihr aktiv Vorschläge machte. Zu Beginn hatte sie vor allem mit der Therapeutin zusammen Musik gehört. Musik, die ihr bekannt war und bei der sie sich sicher aufgehoben fühlte. Es war Musik, die sie beruhigte, z.B. Die vier Jahreszeiten von Vivaldi. Einmal erinnerte sie sich während des Hörens an gute Momente mit einem nahen Freund. Dieser hatte in der Pubertät Gitarre für sie gespielt. Die Therapeutin explorierte mit Frau B. diese guten Beziehungsmomente und stellte eine Verbindung zu dem aktuellen Gefühl der Einsamkeit her.
Das Hören dieser für Frau B. bedeutsamen Musik und die nachfolgenden Gespräche beruhigten Frau B., so dass sie weniger Angst hatte und infolge sich auch ihre strenge Bewertung reduzierte. Sie fasste den Mut, sich „experimentell“ den Instrumenten zu nähern und entdeckte das Glockenspiel für sich, wie in der Fallvignette 1 beschrieben.
In beiden beschriebenen Fallvignetten steht die Ressourcenorientierung im Vordergrund und damit die Entwicklung von Stärke, Freude, Kreativität und Hoffnung. Die Therapeutin bietet Frau B. mit Hilfe von Musik Sicherheit und Verlässlichkeit an. Dazu gehört eine aktive Rolle der Therapeutin, die notfalls auch bedeutet, die Musik zu stoppen, wenn diese zu bedrohlich wird. Patienten mit Traumatisierung haben einen massiven Kontrollverlust erlitten, mit starken Gefühlen von Hilflosigkeit und Ohnmacht. Daher ist es zentral, als Therapeutin dem Thema Kontrolle höchste Aufmerksamkeit zu geben. Die Therapie sollte so gestaltet werden, dass die Patientin größtmögliche Kontrolle und damit Sicherheit erleben kann.
Musik wird immer im Hier und Jetzt erlebt. Mit diesem Angebot gelang es der Therapeutin, Frau B. ganz konkret aus ihren Gedankenschleifen zu locken. Sie erlebte die Musik körpernah, sinnlich und beruhigend. Frau B. nahm sich und ihr Erleben während der Musik achtsam und mit hoher Konzentration wahr. Ein besonderes Erlebnis, das sie lange nicht mehr gehabt hatte. Die Therapeutin weiß um die Wirkung der unterschiedlichen Musikparameter und suchte Musik aus, die möglichst aus wenig dynamischen Elementen und einer klaren Struktur (Periodizität, Melodie und Begleitung) bestand.
Frau B. erinnerte sich während des Hörens an eine gute Beziehungserfahrung. Dies ist ein wesentliches Moment, es zeigt, dass sie über innere positive Repräsentanzen verfügt und diese ihr hilfreich zur Verfügung standen. Frau B.s Gefühl von innerer Stärke für Entwicklung, Veränderung und Hoffnung war geweckt worden. In der ersten Fallvignette gelang auf der Handlungsebene ein vorsichtiges Miteinander von Frau B. auf dem Glockenspiel und der Therapeutin auf dem Metallophon. Frau B. erlebte eine Form der Bezogenheit und Verbundenheit, die sie aus ihrer Isolierung holte. Gerade Menschen mit einer Traumatisierung erleben sich häufig als sehr isoliert und einsam (Reddemann 2009). Musiktherapeutisches Spiel stärkt Gemeinschaftsgefühle.


Fallvignette 3
Die Entlassung ist für die nächste Woche geplant und Frau B. ist damit beschäftigt, wie sie ein Gespräch mit ihrer Tochter führen könnte. Frau B. erzählt, wie viel Angst sie um ihre Tochter habe, und dass sie sich viel darüber streiten, wann ihre Tochter abends zu Hause zu sein habe. Der Vater hält sich aus diesen Diskussionen meist heraus und überlässt es seiner Frau Entscheidungen zu fällen. Welche Worte Frau B. für dieses Gespräch wählen möchte, weiß sie noch gar nicht, aber sie möchte nicht immer von ihrer Angst bestimmt sein. Frau B. wird von der Therapeutin gefragt, ob sie sich vorstellen kann, Musik zu machen, die sie der Angst entgegensetzen kann. Frau B. sieht sich ängstlich um. Sie schaut die große Pauke an, braucht aber doch noch ein paar Ermutigungen von der Therapeutin, bevor sie dieses Instrument wählt. Die Therapeutin wählt wieder das Metallophon, da es das Instrument geworden ist, das sie mit Frau B. verbindet. Frau B. spielt zunächst zögerlich auf der Pauke und ihre regelmäßigen Schläge entwickeln sich als Begleitung zu der Melodie, die die Therapeutin auf dem Metallophon spielt. Nach einer Weile probiert Frau B., wie es ist, wenn sie lauter spielt. Da die Pauke viel aushält, wird das Spiel von Frau B. überraschend laut und extrem kräftig. Es wird auch schneller. Frau B. spielt richtige Wirbel, so schnell ihre beiden Hände es ihr ermöglichen. Die Musik der Therapeutin ist nahezu nicht mehr zu hören. Schnell entscheidet die Therapeutin, dass es wichtig ist, sich hörbar zu machen und klopft auf dem Holz des Instruments. Ein kräftiger lebendiger Prasselregen von beiden ist zu hören. Patientin und Therapeutin strengen sich körperlich an, denn für die Lautstärke und den Wechsel der Hände ist Kraft nötig. Nach einer Weile beruhigt sich das Spiel wieder, wird langsamer und tröpfelt langsam aus.
Was ist passiert?
Frau B. ist nach der Improvisation erschöpft und zufrieden. Sie fühlt sich lebendig und das Spiel hat sie vitalisiert. Sie wusste gar nicht, dass sie so viel Kraft hat, sagt sie. Ihr fällt auf, dass sie ziemlich laut gespielt hat. Zu Beginn habe sie bemerkt, dass sie mal wieder nur die Begleitung gespielt habe. Sie hatte sich an das Spiel der Therapeutin angepasst. Sie wurde dann ärgerlich, als sie bemerkte, dass sie wieder versucht, es allen recht zu machen. Sie spricht nun mit ärgerlicher Stimme. Ihr war aufgefallen, dass ihr Mann ihr doch helfen könnte, wenn sie sich mit ihrer Tochter streitet. Stattdessen hält dieser sich raus. Dieser Ärger habe dazu geführt, dass sie so laut geworden ist, sie wollte zu hören sein. Als sie dies im Nachgespräch erzählt, fällt ihr auf, dass ihr damals auch keiner geholfen habe. Keiner habe bemerkt, was mit ihr los war, als der Nachbar sie mehrfach missbraucht habe. Die Mutter war vermutlich froh, dass sie außer Haus war und der Vater habe nicht gefragt. Während Frau B. zunächst mit ihrer Fähigkeit kräftig zu sein beschäftigt war, hat sich jetzt ihr Erleben stark gewandelt und sie ist mit ihrer Trauer konfrontiert. Frau B. erinnert sich, wie einsam sie damals war. Die Therapeutin entscheidet an dieser Stelle, nicht die Trauer sondern das Gefühl von Kraft und Stärke zu fokussieren. Die Therapeutin betrachtet die Beziehungen im Hier und Jetzt, und Frau B. wird deutlich, dass sie ihre Tochter nicht in gleicher Weise allein gelassen hat. Ihre Tochter konnte sich immer mit ihren Sorgen an ihre Eltern wenden. Gestärkt durch das Paukenspiel kann Frau B. sich nun besser ein Gespräch mit ihrer Tochter vorstellen. In diesem Gespräch will sie sich dafür interessieren, wie die Tochter Gefahren einschätzen kann und wie sie sich notfalls zu schützen weiß. Frau B. denkt auch darüber nach, ob sie mit ihrem Mann ein Gespräch suchen sollte, um sich von ihm mehr Unterstützung zu holen.
In dieser Fallvignette wird Frau B. mit ihrer Angst konfrontiert. Die Therapeutin macht einen aktiven Vorschlag, den Frau B. zögerlich, aber dann doch annimmt. Erst im sicheren Raum der Therapie konnte Frau B. mit anderen als ihren sonst üblichen leisen Spielarten experimentieren. Frau B. bemerkt ihre Zurückhaltung beim Spiel (immer nur Begleitung) und ihr Ärger-Gefühl verändert sich von „keiner nimmt mich wahr“ (Tochter, Ehemann, Täter, ehemals Eltern) zu dem Wunsch „endlich zu hören sein zu wollen“. Der Ärger und damit die gewachsene Kraft und die leichte Handhabung der Pauke führen zur Überraschung von Frau B. dazu, dass sie plötzlich extrem laut und also gut zu hören ist. Frau B. konnte durch die Aufforderung der Therapeutin, einmal etwas Neues auszuprobieren, ein ihr bisher unbekanntes Gefühl entdecken. Das Gefühl von Ärger war bisher zu bedrohlich und durch große Angst verdeckt gewesen. Durch das Spiel konnte Frau B. eine Kraft in sich entdecken, die bisher nicht hörbar geworden war und zu der sie bisher keinen Zugang hatte. Frau B. konnte sich als mit Kompetenzen ausgestattet und selbstwirksam erleben.
Weitere Schritte sind notwendig, Frau B. wird in ihrem Alltag erproben müssen, was sie während der Therapie gelernt hat. Frau B. wird sich mit der Trauer, dem Ärger und der Verzweiflung über ihre traumatische Vergangenheit (sexueller Missbrauch und Vernachlässigung) auseinander setzen müssen. Es ist davon auszugehen, dass ihre Erfahrungen in Kindheit und Jugend sie in ihrem Kontakt zu ihrem Ehemann beeinflussen. Frau B. steht vor der Aufgabe, sich auch mit ihrem Ehemann zu verständigen. Frau B. ist ebenso durch die zunehmende Selbstständigkeit der Tochter mehr mit sich und damit auch mit ihrer Biographie konfrontiert. Der Streit mit der Tochter ist nicht nur wesentlich durch ihre eigene traumatische Vergangenheit der sexuellen Übergriffe geprägt, sondern auch durch das Wegschauen der Eltern, die Frau B. allein gelassen haben. Frau B. fühlt sich nun auch von ihrem Ehemann allein gelassen. Hier wird sie eine Auseinandersetzung führen müssen und es bleibt abzuwarten, inwieweit es ihr gelingt, die Kraft und Lebendigkeit, die sie beim Paukenspiel erlebt hat, in die Gespräche einzubringen.
Musik lässt uns lebendig fühlen, aufgrund der ihr innewohnenden Vitalitätsaffekte. Stern beschreibt diese ebenso für alle zeitgestützten Künste wie Musik, Tanz, Theater und Kino. Die dynamischen Aspekte des Erlebens, der vitale Schwung, sind das, was „Lebendigkeit“ ausmacht. Als Formen der Vitalität werden die dynamischen Empfindungen (auf- oder abschwellend, explosionsartig, fließend, sich hinziehend, hereinplatzend, aufscheinend, stockend) bezeichnet. Stern ist der Ansicht, dass diese dynamischen Vitalitätsformen die fundamentalste aller gefühlten Erfahrungen ist, wenn wir mit anderen „Menschen in Bewegung“ zu tun haben (Stern 2011, 19). Frau B. konnte durch ihr Spiel auf der Pauke gemeinsam mit der Therapeutin „im Prasselregen“ diese Form der Lebendigkeit bei sich spüren.


Gefahren
Im lauten Spiel mit der Therapeutin deutet sich eine Besonderheit in der Musiktherapie an. Musik kann auch als übergriffig erlebt werden, durch Lautstärke, aber auch durch eine Form des Eindringens. Musik kann als eklig oder auch chaotisch erlebt werden und auf diese Weise Gefühle von Ohnmacht und Hilflosigkeit auslösen, auf Seiten der Patientin und auch auf Seiten der Therapeutin. In diesem Fallbeispiel konnte Frau B. ihre Aktivität und auch Aggressivität durch die Lautstärke spüren. Nun war Frau B. in der Rolle derjenigen, die sich kräftig durchsetzte und so nahezu übergriffig spielte. Die Therapeutin ist nicht verstummt, stattdessen hat sie sich durch das Klopfen auf das Holz des Metallophons hörbar gemacht. Sich aktiv zur Wehr zu setzen, ist eine der zentralen Spielarten, die in der Musiktherapie erprobt werden können.
Gefühle von Macht und Ohnmacht und damit Täter- und Opfer-Beziehungen sind typische Interaktionsmuster in der Behandlung von traumatisierten Patienten. Die Autorin hat dieses Muster mit dem Satz „Musik geht über Grenzen“ bezeichnet und ausführlich beschrieben (Strehlow 2011). Musiktherapeuten müssen um die Gefahr und Mächtigkeit von Musik wissen und über ein entsprechend schützendes Interventionsrepertoire verfügen.
Zwei weitere Besonderheiten in der Arbeit mit traumatisierten Patienten sollen hier noch Erwähnung finden. Die Therapeutin muss sich auf Gefühle von Überforderung, Disharmonie und Widersprüchlichkeit einstellen. Beispiel: Die Therapeutin bemüht sich um Übereinstimmung und die Patientin ändert immer wieder ihre Spielart, so dass ein Miteinander verhindert wird. Die Therapeutin erlebt die Musik als in sich widersprüchlich, und die Unmöglichkeit der Übereinstimmung ist das zentrale Muster („Musik erlaubt Disharmonie“, vgl. Strehlow 2011). Für Patienten ist es notwendig, den durch die Traumatisierung verinnerlichten, bedrohlichen Anteil zu externalisieren, um ein stimmiges Selbstbild zu erschaffen. Der nicht aushaltbare Anteil (fremdes Selbst) kann in der Musik Gehör finden und so zu einer Entlastung führen (Strehlow 2013). Ziel der Therapie ist die Veränderung und Integration dieses bedrohlichen Anteils.
Als Letztes sollte das für Traumatisierung typische Symptom der Dissoziation Erwähnung finden. Dissoziation ist eine Störung des Bewusstseins, die vielfältige Formen aufweisen kann (Eckhardt-Henn 2014). In der Musiktherapie zeigt sich die Dissoziation z.B. dadurch, dass Patienten in der Musik versinken und nahezu abwesend wirken oder auch sind, Patienten können sich an Teile der Therapie nicht mehr erinnern, Patienten spielen in einer schädlichen Weise Musik und können sich nicht schützen, Patienten zeigen von einem Moment auf den anderen völlig unterschiedliche Seiten von sich. Die Musiktherapeutin wird gebraucht, um Verbindungen herzustellen. Dissoziation ist zuallererst ein Schutzmechanismus, der auf eine überfordernde Situation hinweist.
Für alle Therapien mit traumatisierten Patienten gilt die Balance eines entsprechenden Erregungsniveaus. Das Erregungsniveau darf nicht zu niedrig sein, damit die Therapie wirksam sein kann, aber es darf auch nicht zu hoch sein, damit die Patienten nicht überfordert sind. In der Musiktherapie ist es daher notwendig, sorgsam auf die Stresssymptome von Patienten zu achten und die Interventionen entsprechend auszurichten. Ein klar vorstrukturiertes Angebot, wie z.B., dass in einer Gruppe ein Patient beginnt und die anderen folgen, gibt deutlich mehr Sicherheit, als eine freie Improvisation. Musiktherapeuten wissen um vielfältige Spielinterventionen und verfügen über musikalisches Können, mit dem sie das Spannungsfeld von Stabilisierung und Konfrontation kreativ gestalten können.
Für Patienten ist die Verknüpfung von Ressourcenorientierung und Musiktherapie häufig sehr schnell möglich. Es ist die Aufgabe des Musiktherapeuten Patienten behutsam hinzuführen, dass Musiktherapie auch für die Traumabearbeitung sinnvoll genutzt werden kann.

Die Autorin:

Dr. sc. mus. Gitta Strehlow
Dipl. Musiktherapeutin, seit 16 Jahren Musiktherapeutin in der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Bethesda Krankenhaus Hamburg-Bergedorf und bei Dunkelziffer e.V. (Hilfe für sexuell missbrauchte Kinder). Nationale und internationale Vortrags- und Lehrtätigkeit. Veröffentlichungen zu den Themen Musiktherapie und Psychotraumatologie, Borderline-Persönlichkeitsstörung und Mentalisierung. Fortbildung in PITT (Psychodynamisch Imaginative Traumatherapie) und MBT (Mentalization Based Treatment).
Bethesda Krankenhaus, Glindersweg 80, 21029 Hamburg, Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!

Literatur:

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