Editorial

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„Jan, den wir jetzt besuchen, wird jetzt genauso alt wie du. Sieben Jahre“, hatte mich meine Mutter vorbereitet, als sie mit mir in den Bodelschwinghschen Anstalten in Bethel, in denen sie ihre Jugend verbracht hatte, an das Bett von Jan trat. Der hatte an diesem Tag Geburtstag – den siebten. Jans Kopf wirkte auf mich ähnlich groß wie sein übriger Körper unter der Decke.
An das Geburtstagslied, was wir ihm damals am Bett sangen, sicher eines mit viel Glück und viel Segen auf all seinen Wegen, erinnere ich mich nicht mehr – aber an Jans Augen und ich freute mich, dass er sich freute.
Später, viel später, lernte ich das Instrument der Gegenübertragung kennen, das zum größeren Verstehen der Jans dieser Welt beiträgt.
Ist es eine neue Schubkraft, die in Praxis und Forschung den Fokus auf unsere Klienten lenkt, die ihr Leben unter den Bedingungen schwerster Mehrfachbehinderung leben? Oder zeigt sich durch die Möglichkeit mit heutigen Forschungsinstrumenten (wie z.B. der Einschätzung der Beziehungsqualität EBQ) nur deutlicher, was die unmittelbar begleitenden Therapeutinnen und mitbetroffenen Angehörigen immer schon fühlten, sagten und in ihr Handeln einbezogen: Wie groß der Reichtum des inneren Lebens von Menschen mit schwerster Mehrfachbehinderung sich zeigt, wenn er sich erstmal zeigen, ausdrücken darf und dann kann.

Das Schwerpunktthema dieser Ausgabe ist sehr anstrengend – und unendlich wichtig, weil es, nun forscherisch bestätigt, Reichtümer zu entdecken gilt.
Maria Becker, Hamburg, und Silke Reimer, Berlin, geben zutiefst reflektierte Einblicke in ihre Praxis und Forschung. Auch weitere Beiträge sind dieser besonderen Klientel gewidmet: Das Patienten-Interview von Alexan­dra Takats, die Buchrezension von Ludger Kowal-Summek und die beiden Kolumnen von Thomas Stegemann und mir.
Die übrigen Rubriken lenken den Fokus des Lesenden dann um auf den Klinikspaziergang mit Sylvia Kunkel in der Psychiatrie und Psychotherapie im Universitäts-Klinikum Münster, die „drei-Säulen-Praxis“ von Andreas Vuissa in Heiden/CH. Der Bericht aus dem Studiengang Musiktherapie an der Theologischen Hochschule Fürstenau gibt Einblicke in die Musiktherapie-Ausbildung einer weiteren Kirchlichen Hochschule.
Zum „Erholen“ im Sinne von offener Neugier auf Gegenwart und Zukunft sind die beiden Berichte, in denen ganz einfach „junge Menschen“ in Musiktherapie und Studium das Thema sind.
Reichlich Praxisanregungen gibt es von Sabine Rittner und Constanze Rüdenauer-Speck. Und seit zwei Ausgaben freut es die MuG, wie sich die Singenden Krankenhäuser immer weiter und weiter in ihrer buchstäblichen Bewegung entwickeln.

Hans-Helmut Decker-Voigt