Musiktherapeutischer Klinikspaziergang

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Musiktherapie am Universitätsklinikum Magdeburg
Von Franziska Adler

Nicht erst seit den aktuell krisengebeutelten Zeiten gibt es Menschen, die
von Haus aus oder durch ihre Lebensumstände derart herausgefordert sind, dass sie einer umfassenden medizinisch-therapeutischen klinischen Begleitung und Unterstützung bedürfen.
In der Klinik für Psychiatrie und
Psychotherapie des Universitätsklinikums der Landeshauptstadt Magdeburg wird diesem Unterstützungsbedarf stationär (eine Akut-, eine gerontopsychiatrische, zwei offene Stationen), teilstationär (Tagesklinik) sowie ambulant (Psychiatrischen Institutsambulanz) seit 1994 nachgekommen.
Die Vorgeschichte des Klinikums und der Nervenheilkunde in Magdeburg geht bis ins Ende des 19. Jahrhunderts zurück. Wenn sich heute hilfesuchende Erwachsene bei uns vorstellen, erwartet sie eine umfassende Anamnese, Diagnostik und Beratung hinsichtlich eines passenden Behandlungskonzepts/-rahmens, der von einem multiprofessionellen Team umgesetzt wird. Je nach Indikation kommen dann eine differenzierte pharmakologische Therapie sowie vielfältige nichtmedikamentöse Verfahren zum Einsatz. Zu letzteren zählen verhaltenstherapeutische, kognitive, unterstützende sowie tiefenpsychologische/psychoanalytische und Entspannungsverfahren, Soziotherapie, Ergotherapie, Physiotherapie und auch die Musiktherapie.*
Die Musiktherapie hat eine mittlerweile über 25-jährige Geschichte an unserem Klinikum und ist im Gesamtbehandlungskonzept fester Bestandteil*. Unser Team besteht in der Regel aus zwei bis drei professionellen Musiktherapeut:innen, teilweise mit verschiedenen Ausbildungshintergründen und persönlichen Arbeitsschwerpunkten, was im Austausch sehr befruchtend ist. Wir bieten schwerpunktmäßig Gruppen-, nach Bedarf und Kapazität aber auch Einzeltherapie an. Hierfür stehen uns zwei Räume zur Verfügung. Beide sind mit Klavier, Gitarre, einer Musikanlage und – angepasst an ihre Nutzung – mit unter schiedlichem weiterem Instrumentarium ausgestattet. So befindet sich im Raum auf der Gerontopsychiatrie eine kleinere Auswahl an Musikinstrumenten, bei der das Akkordeon nicht fehlen darf, ein Plattenspieler samt zahlreicher Platten und eine Vielfalt an Liederbüchern. Im anderen Musiktherapieraum ist die Instrumentenvielfalt erheblich höher. Insbesondere Instrumentalimprovisation, gezielt strukturiertes Spiel, Musikhören und gemeinsames Singen sind Bestandteile der Musiktherapie*.
Mein persönlicher Schwerpunkt und Herzensbereich ist die gerontopsychiatrische Station. Die Klientel ist vielfältig, was kein Wunder ist: Zum einen liegt die Altersspanne bei bis zu 40 Jahren, zum anderen sind die Krankheitsbilder heterogen und schließen Gedächtnis- und Orientierungsstörungen, die u.U. auf hirnorganische, degenerative Erkrankungen wie eine Demenz hinweisen, ebenso ein wie Altersdepression und langjährige psychische Erkrankungen, die im Alter weiterhin bestehen und betreut werden.
Im Krankenhaus zu sein, außerhalb der gewohnten Umgebung, multimorbide herausgefordert, möglicherweise nicht verstehend, was gerade passiert und warum Untersuchungen und Medikamente notwendig sind, dazu soziale Veränderungen wie bspw. das Versterben eines geliebten Menschen, Auseinandersetzungen mit Familienangehörigen oder der (drohende) Verlust der Wohnung, erlebte Ängste, Wahnvorstellungen, der aus der Not geborene Wunsch oder Versuch, dem Leben ein Ende zu setzen – das ist nur eine Auswahl der möglichen Herausforderungen, vor denen die Menschen stehen, die mir hier begegnen. Das Altersbild in sich ist geprägt von allgemeinem individuellem Abbau, körperlich und/oder sozial, was sich ebenso auf die Psyche auswirkt. Auch in der stationären medizinischen Diagnostik und medikamentösen Behandlung geht es zumeist um das Erkennen und Kompensieren von Defiziten. Deswegen ist es mir in der Musiktherapie wichtig, einen Raum (baulich, aber auch symbolisch zu verstehen) zu schaffen, in dem sich unsere Patient:innen aufgehoben und verstanden fühlen in ihrer Situation und mit ihren Gefühlen, in dem ich Zeit gebe, wir gemeinsam Ressourcen erkennen und sehen, was (wieder bzw. noch) geht. Dafür ist die Musik ein wertvolles Medium: ob es das gemeinsame Singen biografisch vertrauter Lieder ist, das Hören einer berührenden Melodie, das (oft erstmalige) Ausprobieren oder endlich mal wieder Spielen eines altvertrauten Instruments. Die Biografie darf dabei nicht außer Acht gelassen werden und damit auch nicht der immense Schatz an Lebenserfahrungen und Bewältigungsstrategien, welche diese Menschen mitbringen. Die Musiktherapie teile ich in Gruppe 1 (nicht/kaum kognitiv eingeschränkte Patient:innen) und Gruppe 2 (kognitiv eingeschränkte Patient:innen) ein. In der Singegruppe treffen sich alle gemeinsam.

Fallbeispiel
Frau B. ist eine gepflegte Frau, kognitiv altersgerecht gesund, körperlich schlank und mobil. Eine wiederkehrende Depression, welche bereits mehrfach zu dem Versuch führte, sich das Leben zu nehmen, führte sie nach einigen vorangegangenen Klinikaufenthalten zum zweiten Mal zu uns. Zudem leidet sie an einem Schuldwahn und beständigem Obstipationsgefühl. Selbstabwertung prägt ihr Selbstbild. Ihre Situation werde sich nie mehr ändern; sie werde nie mehr gesund und das schlimmste: niemand verstehe sie. Heute äußert sie bei Einladung zur Musiktherapie: „Wenn ich nicht vorher umfalle…“ und kommt dann mit etwas Verspätung doch selbstständig zur heute aus drei Patientinnen bestehenden Gruppe. Ihr Gesicht: kreidebleich, verbraucht; hoffnungslos wirkend. Sie nahm bisher stets an der Musiktherapie teil, pflichtbewusst, ohne äußerlich sichtbare innere Berührung, kurze Antworten bei nicht ihre Krankheit betreffenden Nachfragen, abwertend/klagend bei krankheitsbezogenen Fragen; ansonsten still, beobachtend, anderen gegenüber stets hilfsbereit. Sie erlebe Musiktherapie manchmal als Ablenkung, aber dies nütze ihr nichts, denn es ändere nichts an ihrem Problem. Heute lasse ich alle Gruppenmitglieder auf kleine Zettel ihre/eine Lieblingsmusik aufschreiben, sammle diese ein und lasse dann losen. Die geloste Musik hören wir gemeinsam, es soll geraten werden, zu wem sie gehört und dann kommen wir darüber ins Gespräch. Das als vorletztes gezogene Los gehört zu Frau B. Ungehalten beim Vorlesen äußert sie spontan: „Das ist meins“. Es sind die Beatles: Yellow Submarine. Plötzlich blitzen Frau B.s Augen auf, ihr Gesicht wird lebendig und sie fängt an, von früher zu erzählen: dass man in der Jugend heimlich verbotene Sender in der DDR hörte, um dazuzugehören, dass sie einen Brieffreund in England gehabt habe, der ihr über angesagte Musik berichtet habe, dass „wir“ damals doch alle heimlich Dinge getan hätten. Beim Anhören wippt sie mit den Füßen mit und ist sehr aufmerksam. Normalerweise frage ich am Ende der Therapiestunde, wie es allen Teilnehmenden (heute drei) nun geht. Heute verzichte ich darauf, denn Frau B. würde wahrscheinlich wieder in ihr wahnhaftes Denken und die Aussichtslosigkeit verfallen. Stattdessen nimmt sie so diesen Moment des Lebendig-Seins und der Freude mit in den Stationsalltag.


*Quellen: https://kpsy.med.ovgu.de (07.06.2023)

Franziska Adler
Dipl.-Musiktherapeutin (FH), Schwerpunkt: Musiktherapie mit alten Menschen (seit 2011 Uniklinik Magdeburg, seit 2003 APH, Tagespflege, Demenz-WGs etc. in/um Magdeburg) sowie einschlägige Vortrags-/Weiterbildungstätigkeiten