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Kleine Hilfen mit Atem, Bewegung und Stimme
Von Sabine Rittner

Heilsames Tönen im achtsamen Körperkontakt
Heute möchte ich diese Rubrik einem Thema widmen, das manchen klinisch psychotherapeutisch Ausgebildeten heikel erscheinen mag: das Tönen im achtsamen Körperkontakt. Hierbei handelt es sich um eine nonverbale Begegnung über Hand-Körper-Berührung und Stimmklang. Diese uralte Methode zur Unterstützung der Selbstheilungskräfte, das Besingen, wird manchmal auch „Sound healing“ oder „Sound focussing“ oder „Voice healing“ oder mit vielen anderen Bezeichnungen versehen. Mastnak (1992) unternahm vor mehr als 30 Jahren einen ersten Versuch der fachlichen Fundierung dieser uralten Heilmethode. 2008 habe ich sie als wichtige und legitime Methode in der Musiktherapie methodisch eingeordnet. Als Anregung zur alltagtstauglichen Selbstbehandlung wurde sie bereits 2006 von mir in dieser Übungsrubrik der MuG beschrieben („Der Gesang der heilsamen Muster“). Heute möchte ich sie differenzierter und als gegenseitige Partner-Be-Hand-lung erläutern.
Es ist sinnvoll, diese Begegnung in einem ausgeruhten Zustand durchzuführen, so dass beide Beteiligten sich entspannen und dabei gleichzeitig innerlich wach und präsent ihre Aufmerksamkeit bündeln können. Dieser Trancezustand spiegelt sich auf der Ebene der Hirnwellen in Form eines paradoxen Zustands hellwacher und gleichzeitig tiefer Entspanntheit (Alpha- und Theta-Dominanz mit Beta IBeteiligung) wieder. Dabei befindet sich unser Gehirn in einem Zustand der Synchronisation, in dem Suchprozesse und Lösungsfindungen, sowie die selbstwirksame Nutzung der Körperintelligenz optimal unterstützt werden.
Als Abkürzungen verwende ich im Folgenden:
E – für die/den Empfangende:n
G – für den/die Gebende:n

Vorbereitungen
Die Beteiligten sollten sich an einem ruhigen, geschützten Ort befinden und ihr Magen sollte leer sein. Der Zeitbedarf für diese Sequenz beträgt pro Durchlauf etwa 20–25 Minuten.

  • Entscheiden Sie miteinander, wer für den ersten Durchlauf die Rolle von E einnimmt und wer G ist.
  • G wird auch Zeithüter:in sein und stellt sich dafür gut sichtbar eine Uhr bereit. Außerdem wird eine große, halbvoll mit Wasser gefüllte Schüssel vorbereitet und ein Tuch dazu.
  • E findet eine entspannende Körperposition im Sitzen oder Liegen, in der der Atem frei fließen kann. Falls erforderlich, unterstützen Sie die Körperlagerung mit Kissen oder einer gerollten Decke.

Einstimmung

  • E richtet seine/ihre Aufmerksamkeit auf eine Stelle des Körpers, die ihre/seine Zuwendung benötigt. Es kann sein, dass diese sich im Moment unangenehm bemerkbar macht, z.B. in Form einer Anspannung, eines Druckgefühls oder eines Schmerzes. Vielleicht zeigt sie sich aber auch auf andere Weise.
  • E zeigt G diese Stelle, die Zuwendung möchte und an der er/sie sich Berührung wünscht. Wichtig: dies geschieht ohne verbale Erläuterungen, Begründungen oder gar Anamnesen.
  • Hier noch NICHT vorschnell in den Körperkontakt gehen! G findet für sich jetzt in Ruhe eine Körperposition heraus, in der sie/er mühelos(!) diese Stelle mit einer oder beiden Händen berühren kann. – Im weiteren Verlauf sollte diese Position sofort verändert werden, sobald sie für G anstrengend wird, denn das mühsame Aushalten einer unbequemen Position würde die Wirksamkeit deutlich reduzieren.
  • G sammelt sich vor der Kontaktaufnahme erst einmal, kommt zur Ruhe und zentriert sich.
  • Dann führt G unterstützend folgende Energieübung durch: Beide Handflächen vor dem Herzen zusammenlegen und sehr langsam hinauf führen bis weit über den Kopf. Nun die Hände öffnen und seitlich herunterführen, verbunden mit der Vorstellung, eine lichtvolle Hülle um sich und den Partner E herum zu ziehen. Diese Bewegung mehrmals zu allen Seiten hin ausführen. Dabei wird die zu behandelnde Person E in diesen gemeinsamen Energieraum mit eingehüllt.

Durchführung

  • Erst jetzt, nach dieser sorgsamen Vorbereitung und Einstimmung, nimmt G behutsam mit einer oder beiden Händen an der verabredeten Körperstelle Kontakt auf mit E, dabei beobachtet G den Atemrhythmus von E.
  • Jetzt wird unbedingt eine Feinjustierung der Berührung mit verbalem Kontakt durchgeführt: Wie fest, wie sanft soll die Berührung sein…? Vielleicht einen cm höher, tiefer…? Mit einer Hand oder mit beiden Händen berühren? E findet spürend in aller Ruhe heraus, wo und wie der Kontakt wirklich stimmig ist.
  • G lässt nun einen Vokal-Klang entstehen und tönt diesen über die „Klangmembran“ der Handinnenflächen in die Berührungsstelle hinein. Vielleicht spürt G es in den Handflächen, vielleicht nutzt er/sie aber auch ihre/seine Vorstellungskraft dazu.
  • G findet experimentierend heraus, über welche Tonhöhe die Vibration in der Hand-Berührungsstelle am besten ankommt und welcher der Vokale (a, e, i, o, u, ä, ö, ü) dort am besten schwingt – keine Angst, dies einfach auszuprobieren!
  • Während G diesen Klang sich mühelos mehr und mehr entfalten lässt, schaut sie/er ihm innerlich dabei zu und genießt seine Wirkung einige Minuten lang, ohne etwas „zu machen“, ohne etwas bestimmtes „bewirken zu wollen“. Dies ist die große Kunst, sich respektvoll, staunend, neugierig, lauschend leer zu machen und den Vokalklang in einer empfangenden Haltung zu tönen.
    Achtung: Es findet hier keine Massage statt, kein „Wegmachen“ von irgendetwas, kein Bearbeiten der Stelle, kein visionäres Eindringen und Diagnostizieren!
  • Nach wenigen Minuten: E tönt auf Aufforderung von G mit und singt von innen her in die
    Berührungsstelle hinein, mit der Vorstellung, dass sich die Schwingungen von innen und die von außen dort in der Körperstelle begegnen. Das Geben und das Empfangen heben sich jetzt auf.
    Wichtig: Die gesamte Klang-Berührungs-Phase dauert max. 8–10 Minuten, auf keinen Fall überdosieren. Weniger ist für diese intensive Begegnung mehr!
  • G kündigt über die Hände an, dasssie/er sich verabschieden wird, beendet das Tönen, löst dann die Berührung und entfernt langsam die Hände.

Ausklang:

  • Zum Abschluss umfasst G in Stille die Fußsohlen von E, ohne zu tönen. Dazu den Platz zu den Füssen wechseln und von oben mit 4 Fingern (ohne den Daumen) die Sohlen umfassen. G atmet mit E – Dauer ca. 1–2 Minuten.
  • G löst die Hände.
  • G hüllt E bei Bedarf in eine Decke.
  • Mit einer abschließenden Energiebewegung schließt G nun wieder sein/ihr Energiefeld, den Eigen-
    Raum, wie ich ihn nenne. Dazu werden die Hände von unten an beiden Seiten seitlich mit den Handflächen nach oben langsam hinaufgeführt bis über den Kopf (als ob sich „Flügel schließen“). Dann von oben herab die Handflächen wieder vor der Brust zusammenführen.
  • Zum Abschluss gönnen sich nun beide Beteiligten eine Ruhezeit, ein Nickerchen, eine Integrationsphase in Stille von etwa 5 Minuten.
  • G und E kehren nun mit einem genüsslichen Räkeln, Gähnen und Strecken zurück, öffnen die Augen und richten Ihre Aufmerksamkeit wieder auf den umgebenden Raum.
  • Danach zieht G bei Bedarf seine/ ihre Hände durchs Wasser der zuvor bereit gestellten Wasserschüssel. Mit dieser symbolischen Geste gibt sie/er an das Wasser ab, was er/sie evtl. von E aufgenommen haben könnte und was nicht zu ihm/ihr gehört.
  • Es folgt ein kurzes, max. 5-minütiges Nachgespräch miteinander, bei dem E beginnt zu berichten, danach G – hier wird von der konkreten Erfahrung berichtet, bitte keine zerpflückenden oder tiefbohrenden Analysen an dieser Stelle.
  • Danach kann je nach Setting der Rollenwechsel erfolgen.

Die wohltuende, heilsame Wirkung dieser Stimm-Klang-Behandlung beruht auf unmittelbaren körperlichen (wie z.B. Durchblutungsverbesserung, Endorphinausschüttung) und auch auf energetischen Veränderungen, die sich mit Hilfe der Berührung, des Atems, des Klanges und der Aufmerksamkeitsfokussierung eingestellt haben.
Sollte kein Gegenüber/Partner:in zur Verfügung stehen, so kann diese Sequenz auch in Form einer fürsorglichen Behandlung mit sich selbst durchgeführt werden. Dazu wählen Sie eine für die eigenen Hände leicht erreichbare Körperstelle aus. Wenn Ihr Organismus diese Art der Hinwendung einige Male gut kennengelernt hat, so lässt sich diese Information auch in Alltagssituationen abrufen, indem Sie Ihre Hand unauffällig an die betroffene Körperstelle legen oder sogar nur in Ihrer Vorstellung dort hineinatmen und sich dabei an den wohltuenden Klang erinnern. Sollten bei Ihnen während dieser Übung unangenehme Gefühle auftauchen, so ist es ratsam, sie unter fachkundiger Begleitung durchzuführen. Symptome, die trotz mehrfacher Selbstbehandlung nicht verschwinden, sollten selbstverständlich von einem guten Arzt/Ärztin angeschaut werden.

Methodische Hinweise für Musiktherapeut:innen

  • Diese Sequenz kann sehr gut in der Einzel-Musiktherapie-Behandlung als körper-musiktherapeutische Intervention eingesetzt werden, allerdings ist dafür zuvor eine sorgsame Abklärung des Einverständnisses der/des Patient:in für den Körperkontakt erforderlich.
  • Das verbale Feedback zur Feinjustierung der Berührung ist besonders am Beginn wichtig, sollte aber jederzeit möglich sein. Die Vereinbarung eines gestischen STOP-Signals kann zusätzlich sinnvoll sein.
  • Wichtig: Der/die Empfangende (bzw. der Patient/die Patientin) muss in jedem Moment die Kontrolle über die Situation behalten und Einfluss nehmen können!
  • Ein vertiefendes, explizit körpertherapeutisches Arbeiten in der Musiktherapie-Sitzung sollte nur durchgeführt werden, wenn dies vom Kontext her adäquat und für den Prozess erforderlich ist. Hierfür ist eine fundierte körperpsychotherapeutische Zusatzausbildung sinnvoll.
  • Wird diese Sequenz in einer Gruppe gemeinsam im Raum durchgeführt, so führt der/die Therapeut:in/Gruppenleiter:in durch die Abfolge der Schritte hindurch und hat dabei die Zeit im Blick. In der Stimm-Klang-Phase kann leise, unterstützend und Raum haltend mitgetönt werden.
  • Die Phase des stimmlichen Betönens im Körperkontakt sollte 8–10 Minuten nicht überschreiten. Hier ist weniger mehr.
  • Entscheidend für die Förderung der Selbstwirksamkeit ist, dass der Therapeut/die Therapeutin nicht zu viel „bewirken will“, nicht zu „therapeutisch bemüht“ ist, nicht unbedingt etwas „gezeigt bekommen will“ von der Ursache des Symptoms. Es geht darum, respektvoll und nicht invasiv zu sein. Es handelt sich um eine Anregung zur Stärkung der Selbstheilungskräfte, nicht darum, etwas „wegmachen zu wollen“. Dies würde die Selbstwirksamkeit des Empfangenden vermindern.
  • Wichtig ist, hinterher sorgsam eine gute Ablösung und Reorientierung für beide Beteiligten durchzuführen.
  • Im Nachgespräch ist es sinnvoll, sich auszutauschen, das Erfahrene jedoch nicht zu zer-analysieren oder zu zer-reden. So bleibt das Erlebte lebendig und kann weiterwirken. Gegebenenfalls kann in der Folgesitzung vertiefend nachbesprochen werden.

Viel zu oft unterschätzen wir die Kraft einer Berührung.
Felice Leonardo Buscaglia, amerikanischer Prof. für Pädagogik

Literaturtipps und Infos
Mastnak, W. (1992). Sound Focusing. Therapie durch Stimme und gezielte Körperresonanz. Musiktherapeutische Umschau. Forschung und Praxis der Musiktherapie, 13(1), 30–47.
Rittner, S. (2006). Hilfe zur Selbsthilfe: Kleine Hilfen mit Atem, Stimme, Körper. Der Gesang der heilsamen Muster. In: Musik und Gesundsein 11/2006, 28.
Rittner, S. (2008). Der Wirkfaktor Stimme in der Psychotherapie / in der Musiktherapie. In: Musiktherapeutische Umschau, Themenheft „Die Stimme im therapeutischen Dialog“, 29, 3/2008, 201–220.
Rittner, S. (2017). Die Bedeutung des Körpers in der Musikpsychotherapie. In: Musik und Gesundsein 31/2017, 21–24.

Unter www.sabinerittner.de finden Sie mehrere Videos mit einer von Sabine Rittner angeleiteten, tönenden Stimm-Meditation und einer Klangtrance-Reise kostenlos zum Mitmachen.

Sabine Rittner
ist Musikpsychotherapeutin, Atem- und Stimmtherapeutin, approbierte Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin, Psychotherapeutin (HP), Hypnotherapeutin, IFS- und Traumatherapeutin
mit Spezialisierung in der Arbeit mit veränderten Bewusstseinszuständen und körperorientierter Therapie. Sie war 30 Jahre lang tätig am Institut für Medizinische Psychologie der Universitätsklinik Heidelberg (Lehre, Psychotherapie, Bewusstseins- und Musiktherapieforschung). Sie arbeitet weiterhin in eigener Praxis (Therapie, Supervision, Coaching), leitet Seminare, bildet aus, hält Vorträge und tritt international
in Kunst-Performances auf. Umfangreiche Forschung und Publikationen zu den Themenkomplexen Bewusstseinsforschung – Klang – Trance – Stimme – Musiktherapie – Depression.

Weitere Informationen: www.SabineRittner.de