Praxisvorstellung

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Ein Tag aus dem Leben einer Musiktherapeutin
Julia Ehrlich-Tochalkeva

Vorbemerkung der Redaktion
In der Rubrik „Praxisvorstellung“ diesmal: Autobiographische Gedanken anlässlich der musiktherapeutischen Praxis im „Haus am Lunapark“ in Leinefelde-Worbis. „Rubrik“ – das bedeutet immer auch, eine bestimmte Erwartungshaltung der Lesenden auf den folgenden Leseinhalt zu produzieren. Die jetzt erwartete „Praxisvorstellung“ folgt jedoch nicht dem vertrauten Format.

Es ist früh morgens, 5 Uhr. Eigentlich bin ich ein Nachtmensch. Spät am Abend schießt meine Energie hoch, ich erlebe mich selber kreativ, aktiv produzierend bis verrückt.
Langsam stehe ich auf und führe alle dazugehörigen Morgenrituale langsam durch. Auch mein Kaffee gehört zu den festen Ritualen.
Heute hat der dritte Satz vom Saint-Saëns Klavierkonzert N 5 eine Aufgabe. Er soll mich in Schwung bringen. Das gelingt eigentlich ganz gut. Ich schwinge mit dieser Musik so sehr, dass mir entgegenkommende Autofahrer es gewiss merken.
Danach höre ich Consolation N 3 von Liszt, was mich in ein Gefühl von „es war einmal“ versetzt. Ich denke über meinen bisherigen Lebensweg nach. Der war fast wie ein Märchen.
Damals lebte ich ständig im Zeitmangel – harte russische Klavierschule, tägliches Üben seit meinem fünften Lebensjahr, ständiger „Tun“-Modus, ohne Ausweichen.
Meine Mutter sagte: „Du hast morgen deinen Klavierunterricht. Was spielst Du denn für einen Quatsch?!“ (Sie meinte damit die Improvisation). „Du sollst Bach üben! Und auch Mozart kommt morgen in Frage! Dafür kriegst du deine Note, vergiss es nicht! Außerdem ist bald die Prüfung. Alles muss perfekt sein!“
Seufzend lasse ich den „Quatsch“. Ich bedauere das sehr. Ich bin so ein Freebird, wenn ich aus meiner kindlichen Seele herausspiele! Aber, naja, ein anständiges, gehorsames Mädchen soll alle Wünsche und Vorstellungen der Eltern erfüllen.
Schon damals war ich eine Gegnerin des Perfektionismus. Als Vierjährige stand ich zwar ganz artig auf dem Stuhl vor den eingeladenen Gästen, aber sang ein ganz komisches Lied, in dem jedes Wort von dem Wort „Nicht“ begleitet war, so wie „nicht Hänschen, nicht klein, nicht geht, nicht allein“. Damit blamierte ich mich und machte mich zu einem nicht anständigen Mädchen.
Doch es gab auch freudige Momente!
Meine kreative, fröhliche Mama, die auch wunderbar malte und meine Puppen mit selbst genähten bunten Kleidern so schick und glücklich machen konnte, hatte manchmal Lust, mit mir „Komm, lieber Mai und mache“ vierhändig zu spielen! Oder mein Vater, der Kriegsgeborene, leidenschaftlicher Musikliebhaber ohne Möglichkeit, ein Instrument zu lernen, der aus dem alten schwarzen Klavier in unserem Wohnzimmer einen Strauß-Walzer nach einem Philharmonie-Konzert entlockt hat.
In diesen Momenten verwandelten sich die ernsthaften Erwachsenen der Sowjetunion ganz plötzlich in Kinder!
Jetzt bin ich selbst kein Kind mehr, aber ich schäme mich niemals, in meinem Alter am Strand Sandburgen zu bauen! Dieses Spiel entspannt mich und bringt mich manchmal auf lustige, sprudelnde Ideen … und ich „verliere“ die Zeit (im damaligen Sinne) oder vergesse die Zeit (im neuen schönsten Sinne).
Habe ich damals schon meine komplette Lebensveränderung geahnt? Vielleicht beim nächtlichen heimlichen Lesen der Märchen der Brüder Grimm, die mich immer so fasziniert haben? Oder beim Spielen meiner „Muttermilch“: Musik wie Bach-Inventionen und Beethovens Sonaten? Aber auch zu der magischen „Nussknacker“-Schallplatte fühlte ich mich ebenfalls hingezogen und glaubte fest, ich sei die Marie!
Ich bin doch die Marie! Kann mich bitte jemand richtig schütteln? Es ist kaum zu glauben. Ich erinnere mich, wie ich an einem Winterabend in Sankt Petersburg im Jahre 2012 vor dem Fenster stand. Im Radio lief „Stille Nacht“ und obwohl ich überhaupt kein Wort Deutsch konnte, sang ich das Lied wieder und wieder nach Gehör. Und heute stehe ich im Dezember vor meinen Posaunenchor in der Kirche und „Stille Nacht“ ist tief in meinem Herzen. Die märchenhafte Wunderwelt ist meine Wahrheit.
Irgendwann war die Zeit der Musikschule und Musikfachschule vorbei und ich bin sehr gut an der Musikhochschule angekommen.
Meine Klavierprofessorin, geniale Pianistin, Pädagogin und trotz mehrerer heftiger Schicksalsschläge eine unerschütterliche Optimistin, wurde zu meiner Klaviermutter. Sie hat kindliche Neugier, Begeisterung und unglaublich viel Wissen auf spielerische Art und Weise. Niemals war sie abwertend und hatte immer ihre „Schatzkiste“ mit den Sätzen dabei. An solch einen Schatz-Satz erinnere ich mich auch heute sehr oft: „Mach so viele Fehler beim Vorspielen wie Du willst!“
Das war eine Umstellung. Von glänzenden Passagen ging es zur Tiefe und Ruhe und dann zur Freiheit.
Am Ende meines Studiums erwähnte sie wie zufällig: „Mensch, Julia! Es gibt etwas sehr Interessantes! Musiktherapie nennt sich das. In unserem Land ist die Musiktherapie kaum bekannt, aber in Deutschland schon.“
Solche „zufälligen“ Sätze verfolgen uns oft im Leben. Sie tauchen ganz plötzlich zu einem richtigen Zeitpunkt auf. Mein Leben, meine Einstellung zum Leben wird maßgeblich von solchen „zufälligen“ Sätzen geprägt.
Meinem Hochschulabschluss folgten zehn Jahre intensiver pädagogischer Tätigkeit und auch Konzerte,
Konkurrenz und Neid im musikalischen „Hexenkessel“.
Wieder Bewertung. Gut, schlecht, richtig, falsch. Schwarz, weiß. Es gibt keine Farben mehr, nur die Kontraste. Ich bleibe richtig, auch perfekt und merke, dass sowohl Lust als auch Luft raus sind. Das „perfekte“ System macht mich Tag für Tag kränker. Ich bin psychisch völlig erschöpft und spüre eine leise und monoton tickende Bombe in mir.
Der letzte Tropfen war meine dreizehnjährige Schülerin Alexandra, die heutzutage eine hervorragende Organistin in Frankreich ist. Genauer gesagt war es der „pädagogische“ Umgang mit Alexandra.
Frechheit, stundenlange Treffen am Friedhof mit Jugendlichen, tiefe blutige Wunden an beiden Händen,
„himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt“ – ich durfte diesen Übergangsprozess nicht nur beobachten, sondern auch begleiten, für die zerbrechliche Jugendseele da sein und einfach zuhören, in ihrem Schmerz annehmen, den Schmerz wertschätzen. Dieses Vertrauen ist so wichtig!
Ich sah meine damalige Pubertät im Spiegel und war stolz auf das mutige Mädchen in ihrer Pubertät. Ja, das war ein Zeichen, ein Klingelton, eine Aufforderung – ich musste etwas verändern.
Zehn Jahre nach dem „zufälligen“ Satz im Jahr 2014, nach zahlreichen Konzerten und pädagogischen Erfahrungen bin ich wieder eine Studentin im Alter von 38 Jahren. In Deutschland. An der theologischen Hochschule Friedensau. Der nächste Lebenswandel für mich.
Nach dem Studium wollte ich gleich in die musiktherapeutische Arbeit einsteigen und habe mich dort
vorgestellt, wo mein Tag in wenigen Minuten beginnt – im „Haus am Lunapark“, im Wohn- und Therapiezentrum für Menschen mit Autismus mit dem Spektrum Störungen und Hör- und Sehbehinderung.
Im Haus duftet es nach Kaffee. Meine Haut spürt die Wärme, aus dem Snoezelraum kommt sanfte Entspannungsmusik. Mein Blick fällt auf die mit Bildern gestaltete Wand. Kurz reise ich in meinen Gedanken in das Jahr 2021, in die farblose Lockdown-Mitte, eine Zeit voller Einschränkungen und Verbote. So viel Liebe haben die Bewohner zusammen mit dem Kunsttherapeuten in diese farbigen Bilder gesteckt!
Die Sonne schickt ihre Strahlen und die ersehnte Wärme strömt schon durch meinen ganzen Körper.
Unser eingespieltes Therapieteam besteht aus einer Arbeitstherapeutin, einer Diätassistentin (Kochtherapeutin), einer Ergotherapeutin, einem Psychologen, einem Sporttherapeuten und einem Künstler und Sozialpädagogen. Wir sind unterschiedlich wie Feuer und Wasser, aber pflegen sorgfältig
unsere vertrauensvolle fachbezogene Kommunikation. Der ganzheitliche Therapieansatz umfasst nicht nur
einzelne Sequenzen der Menschen mit Autismus, sondern bezieht seine bisherige Umgebung und seine Bezugspersonen in die therapeutische Förderung und Integration ein. Oberstes Ziel der therapeutischen Arbeit ist der Erhalt der Selbstbestimmung, die Förderung der selbstständigen Lebensführung und gesellschaftliche Integration der Menschen mit Autismus.
Arbeitstherapie und Ergotherapie gestalten sich je nach Möglichkeiten des Bewohners. Dabei wird mit
ganz unterschiedlichen Materialen wie Holz, Papier, Stoff usw. gearbeitet. Die Teilnehmer erledigen viele Aufgaben im Haus wie z.B. Dekorieren, Blumen- und Gartenpflege, Herstellung von kleinen Geschenken, sowie die Vorbereitung des Angehörigentages, der ein besonderer Höhepunkt im Haus ist. Zu diesem Tag wird ein Theaterstück einstudiert und aufgeführt. Dabei begleite ich die Theaterstücke musikalisch und tauche zusammen mit den Bewohnern in die bunte, kostümierte Märchenwelt ein, wo mir im dunklen Wald ein böser Wolf begegnet oder wo ich eine königliche Hochzeit mitfeiern darf. Manche Bewohner sind sehr talentiert. Auch eine Begabung, wie zum Beispiel jede Stimme ganz genau nachmachen zu können, begegnet mir dort. Ich staune oft, wenn ich beobachte, wie als „typisch autistisch“ klischierte Menschen ihre „Seelen-Türchen“ aufmachen!
Und getreu dem Motto „Essen hält Leib und Seele zusammen“ wird das Kochen auch zur Therapie. Der „Koch“ der Gruppe darf seine individuellen Wünsche in die Therapie mit einfließen lassen und die eigene Phantasie zur Inspiration nutzen. Die Bewohner freuen sich immer sehr, wenn sie ihrer Gruppe und den Betreuern mit dem ausgewählten Menü eine Freude bereiten können.
Die Zugangsmöglichkeiten zu den Menschen mit Autismus sind besonders eingeschränkt. Jede Therapie orientiert sich daran, inwieweit sie dem autistischen Menschen hilft, seine Fähigkeiten zu entwickeln und trotz seiner Störungen Sozial- und Handlungskompetenz zu erwerben.
Unsere Angebote sind vielfältig und haben Ziele: Stabilisierung und Förderung der Kommunikation durch das Erlernen von Kommunikationsformen; den Erhalt und den Ausbau von kognitiven Fähigkeiten; Verbesserung der Wahrnehmung durch basale Stimulation; Orientierungstraining und Verbesserung der Motorik durch Mobilitätstraining; Förderung sozialer Kompetenzen; Entwicklung lebenspraktischer Fähigkeiten. Ergänzt werden diese Aktivitäten durch ein vielfältiges Freizeitangebot innerhalb und außerhalb der Einrichtung.
In der Musiktherapie suchen wir „Schlüssel“ zueinander – langsam, achtsam und geduldig. Das ist ein gegenseitiger Prozess. Wir lernen voneinander. Wir lernen, miteinander umzugehen. Unsere Wahrnehmung ist sehr unterschiedlich. Manchmal entstehen dadurch wirklich kuriose Geschichten! Aber was ist denn richtig? Und was ist falsch?
Aber wir ergänzen uns, wie Plus und Minus bei einer Batterie. Die Therapie ist ein Balanceakt. Ein geplanter, bewusster Methodenansatz einerseits und Spontanität, Lebendigkeit und Unerwartetes andererseits. Der Mensch steht im Mittelpunkt, Ausgangspunkt sind seine Stärken. Er wird in seinen Kompetenzen und Interessen abgeholt, wo er sich befindet.
Die Menschen mit Autismus weisen eine Reihe weiterer psychischer Störungen auf, wie Phobien, Zwänge, Depressionen, Schlaf- und Essstörungen und heftigen Wutausbrüchen, die beim Trommeln wie die Blitze in den Baum einschlagen. Reflektieren ist nicht immer möglich und wo die Rede aufhört, fangen die Töne an zu sprechen.
In der Improvisation geschieht Begegnung, das Ungesagte findet seinen Ausdruck und kann sich in Resonanz zu den Mitspielenden weiterentwickeln.
Nonverbale Kommunikation ist auch mein fester Bestandteil als Musikerin. Man empfängt die Schwingungsfrequenzen des Partners und synchronisiert sich damit.
Die Therapie findet in 1:1 Betreuung, aber auch in Kleingruppentherapieform statt und wird individuell
nach den Wünschen und Bedürfnissen der Bewohner durchgeführt. Wir singen die Lieder, die das Sprachvermögen erweitern und auch nicht selten die Erinnerungen wecken. Manchmal wird ein Lied spontan „geboren“, sogar mit einem lustigen phantasievollen Text! „Traumreisen“, Naturgeräusche normalisieren innere Balance, beruhigen, trösten. Bei der Therapie versuche ich, die persönlichen Potenziale und Bedürfnisse zu erkennen, zu stärken und Eigenständigkeit zu fördern.

Meine Erlebnisse
W. grüßt mich mehrmals am Tag, was mir eigentlich nur große Freude bereitet. Ich kenne keinen einzigen Menschen, der so viele Lieder auswendig singt!
In der allerersten Stunde entdeckte W. ein Volksliederbuch und sagte, dass er gerne mit mir singen würde. Ich nickte ihm zu. Direkt ging es los und gleich in bayrischem Dialekt. Am Anfang war ich, gebürtige Russin, keine besonders gute Partnerin für dieses abenteuerliche Spiel. Vor mir saß ein absolut glücklicher, geselliger Mann, der heute, nach vier Jahren, mir im Flur sagt: „Ich habe Dich gerne!“ Und! Vielfältigkeit und Reichtum der Deutschen Sprache ist für mich kein Hindernis mehr!
S., eine junge sehbehinderte autistische Frau, sagt: „Weißt Du, ich mag tanzen!“ Sie schlägt vor: „Wir machen Folgendes: Ich bewege mich und Du spiegelst meine Bewegung auf Deinem Klavier!“ … Glückliches Lachen … Sie sagt: „Weißt Du, was ich mag?“ Leise summt sie ein Lied.
Aha, … nach kurzem Überlegen „hole“ ich ihre Melodie aus dem Klavier.
Weiter sagt S.: „Weißt Du, diese Melodie habe ich im Auto gehört, unterwegs nach Italien.“ Eine Reisegeschichte folgt der anderen.
Der Novemberraum klingt, erfüllt sich mit dem herzhaften Lachen. Wieder ein Phänomen – eine prachtvolle geöffnete „Seelenblume“. Mit Musik kann ich die Gefühlswelt beeinfl ussen. Und auch das Leben ein bisschen versüßen. Bitteres Weinen gibt es genug.

Jeden Tag lasse ich mich auf etwas Neues, etwas Anderes ein und lasse los.
Ich freue mich, wenn es gegen Abend im Haus nach Kuchen riecht. Häusliche gemütliche Atmosphäre ist hier besonderes wichtig!
Zwei Bewohner bringen mich zur Tür, wünschen einen schönen Feierabend und fragen ein wenig besorgt, ob ich nächste Woche wieder komme.
Wir brauchen uns, denke ich.
Menschen mit Autismus benötigen spezielle Hilfen, die individuell angepasst wird. Die Betroffenen und auch ihre Angehörigen benötigen Menschen, die sich für diese spezielle Problematik des „Autismus-Spektrum“ einsetzen, die mit Liebe und Geduld nach Lösungen suchen, damit autistischen Menschen ein gleichberechtigtes Leben ermöglicht wird.
Ich wünsche mir so sehr, dass sich die Menschen hier im Haus geborgen fühlen.
Jetzt ist der Moment: Ich stehe auf einer „Brücke zwischen zwei Welten“. Morgen erwartet mich Kirchenmusik und eine Abendprobe mit dem Posaunenchor – eine gute Abwechslung und eine gute Ergänzung. Ich darf heutzutage die Menschen in ihrer Trauer und auch im Glück musikalisch begleiten. Die „Musiküberei“ hat mich damals krank gemacht, aber jetzt bin ich geheilt und Tag für Tag wird meine Seele sensibler.
Viele Menschen haben autistische Züge. Außer dem festen Morgen-Kaffee brauche ich heute auch mein Abend-Klavierspielen. Die Tasten scheinen heute bunt zu sein. Ich denke an Resonanzen, Schwingungen und Polaritäten und beim „Streicheln“ der Liszt-Chromatismen beobachte ich erstaunt, dass mein Wunsch, „Freebird“ zu sein, in Erfüllung ging.

Julia Ehrlich-Tochalkeva
In Sankt-Petersburg geboren und aufgewachsen. 1999 Beginn eines Studiums mit Fachrichtung Klavier und Klavierpädagogik. Nach dem Hochschulabschluss zehn Jahre intensive pädagogische Tätigkeit und auch Konzerte. 2014 Umzug nach Deutschland. 2019 Diplom als Musiktherapeutin (Theologische Hochschule Friedensau, M. A.). Heutzutage ergänzen sich Musik, Musiktherapie und Musikpädagogik.