Schwerpunktthema III

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Sinn und Klang.
Über die Musik als Vermittlerin von Erlebniswerten 
Jörg Zimmermann

Vorbemerkung der Redaktion
Der nachfolgende Beitrag entstand für die MuG vor dem Hintergrund der Jahrestagung der Gesellschaft für Logotherapie und Existenzanalytische Psychotherapie (GLEP) im Jahr 2023 zum Thema „Vom Sinn des Hörens“. Inhaltlich schließt er sich damit an die beiden vorangegangenen Schwerpunktthemen an. Denn „jedes Hören in der Therapie ist Sinnsuche – sonst wäre es keine…“

Die Logotherapie und Existenzanalyse nach Viktor E. Frankl und die Musiktherapie sind einander ergänzende Heil- und (überwiegend säkulare) Seelsorgemethoden, die sich gegenseitig befruchten und erweitern können und dies auch bereits tun. So haben sich die Referentinnen und Referenten der letzten Tagung der Gesellschaft für Logotherapie und Existenzanalytische Psychotherapie (GLEP) im September 2023 mit dem Thema „Vom Sinn es Hörens. Logotherapie, Musik und Klang“ befasst, zum Teil sind sie sowohl Logotherapeuten als auch Musiktherapeuten (z.B. die Professoren Hans-Helmut Decker-Voigt und Eric Pfeifer). Der Vorsitzende der GLEP (und Autor dieses Beitrags) unterrichtet an der Hochschule für Musik und Theater in Hamburg Studierende der Musiktherapie in Psychiatrie und Psychotherapie und versucht dabei musiktherapeutische und existenzanalytische Aspekte zu integrieren.

Logos und Existenz
Der Begriff „Logos“ hat in der Bezeichnung „Logotherapie“ die Bedeutung von „Sinn“ und „Geist“ als Ziel
und Bedingung gelingenden Lebens. Die anthropologische und philosophische Grundlage bzw. Ergänzung
der Logotherapie nennt Frankl auch „Existenzanalyse“, er entlehnt den hier verwendeten Existenzbegriff der zeitgenössischen (Existenz)Philosophie und meint damit die Seinsweise, die der Mensch auf Grund seiner Freiheit verwirklichen oder auch verfehlen kann. Mögliche Existenz kann also ergriffen oder versäumt werden, sie ist somit für Frankl (in Anlehnung an Jaspers) nicht faktisch, sondern fakultativ, nicht gegeben, sondern aufgegeben. Sie stellt die lebenslang zu erfüllende Aufgabe der Selbstwerdung, die nicht mit der üblichen Vorstellung von „Selbstverwirklichung“ identisch ist. Bei der Selbstverwirklichung geht es nach verbreiteter Auffassung eher um die möglichst umfassende Befriedigung eigener Interessen und Bedürfnisse. Das „Werden zu sich selbst“ (Thomas Rentsch) im existenzanalytischen Sinne ist dagegen immer auch ein Transzendieren hin auf Andere und Anderes. Existenzanalyse ist somit nicht als Analyse der Existenz, vielmehr als Analyse auf Existenz hin zu verstehen, sie dient der Existenzverwirklichung im Sinne von Selbstwerdung und Selbsttranszendenz. Kurz: Das Ich wächst am Du und an seinen Aufgaben und Erlebnissen.
Frankl hatte seine sinnorientierte Psychotherapiemethode, die er auch „Ärztliche Seelsorge“ nannte, bereits in den 1920er und 30er Jahren entwickelt und fühlte sich in seiner Grundauffassung, dass das Leben unter allen Umständen einen Sinn haben kann, durch die von ihm erlebten Grenzsituationen (er hatte als von den Nationalsozialisten verfolgter Jude mehrere Konzentrationslager überlebt) nicht verunsichert, sondern im Gegenteil bestätigt. Die Logotherapie als „Dritte Wiener Schule der Psychotherapie“ wurde von ihm in bewusster Abgrenzung zur Psychoanalyse konzipiert, die den Menschen aus Frankls Sicht auf seinen psychophysischen, also objektivierbaren und empirisch erfassbaren Aspekt verkürze. Er ergänzt das „Psychophysikum“ um die geistige, beziehungsweise existenzielle Dimension, die die biologischen, soziologischen und psychologischen Bedingungen nicht leugnet, aber ermöglicht, dazu eine selbstgewählte Haltung einzunehmen und danach zu handeln.
Für Frankl ist der Mensch nicht nur von hedonistischer Getriebenheit und neurobiologischer Determination
abhängig, sondern als grundsätzliche freie Person für sich und seine Handlungen verantwortlich.
Selbstverständlich kann diese Freiheit durch äußere und innere Bedingungen, wie z.B. durch schwere psychiatrische Erkrankungen beeinträchtig werden. Freud hatte sich ja eingehend mit der Bedeutung der zum Teil unbewussten Triebe und dem aus Triebkonflikten resultierenden pathogenen Potential befasst, Frankl fügt der Triebpsychologie die existenzielle Dimension hinzu: Der Mensch hat Leib und Seele, aber er ist Geist.
Nicht nur frustrierte und verdrängte Triebbedürfnisse können in dieser Sicht zu psychischen Störungen und Neurosen führen, sondern auch das frustrierte oder unbewusst gewordene Sinnbedürfnis. Der Mensch ist nicht primär ein Wesen, das nach Lust- und Triebbefriedigung strebt, sondern wesentlich auf Sinn ausgerichtet. Wenn diese Sinnerfüllung aus inneren oder äußeren Gründen nicht mehr möglich erscheint, gerät er in ein „existenzielles Vakuum“, das zu Überdruss und dem Gefühl des nicht gelingenden Lebens, klinisch aber auch zur „noogenen Neurose“ führen kann. Die noogene Neurose ist für Frankl ein Störungsbild, das nicht aus einem Triebkonflikt, sondern aus einem geistigen Konflikt (nous = Geist) stammt. Klinisch können nach aktueller Nomenklatur psychische Störungen wie Depressionen, „Burnout“, narzisstische Störungen, Süchte und andere neurotische Störungen resultieren.

Wert und Sinn
Die Therapie besteht nun darin, dem Klienten oder der Patientin bei der Sinnfindung zu helfen. Sinn meint hier weder „Bedeutung“ noch „Zweck“, sondern „Lebens- oder Daseinssinn“, der zwar individuell ist, nicht aber von subjektiver Beliebigkeit abhängt. Er besteht vielmehr in der Verwirklichung von Werten, die Frankl in Anlehnung an den philosophischen Phänomenologen Max Scheler in gewisser Hinsicht als objektiv vorhanden betrachtet. Die Sinnfindung erfolgt durch Werteverwirklichung, daher bezeichnet Frankl Werte auch als „Sinn-Universalien“, die Scheler auch hierarchisiert hat. Werte sind grundlegende Orientierungsmaßstäbe, die darauf verweisen, wie man zur Erhaltung, Entfaltung und Erfüllung seines Lebens gelangen kann (vgl. Wolfram Kurz).
Sie sind damit Sinnmöglichkeiten, die sich auf die „conditio humana“ als solche beziehen und daher überindividuell gültig sind. Frankl beruft sich bei seiner Konzeption der Werte auf das sein Menschenbild prägende ethische und phänomenologische Hauptwerk von Max Scheler „Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik“ (1916), mit dem der Autor den Kantischen Formalismus durch eine materiale, also qualitativ fundierte Wertethik zu überwinden versucht. Werte besitzen im Bereich des Geistig-Emotionalen eine ihnen gemäße Objektivität, sie können aber nicht durch sinnliche Wahrnehmung oder Vernunft erfasst werden wie empirische Objekte. Die dazu erforderliche Fähigkeit wird intentionales Fühlen genannt. Es richtet sich nicht auf subjektive, aus dem psychischen oder physischen Bereich stammende Zuständlichkeiten, sondern in einem Akt der „Selbsttranszendenz“ auf geistige Gegenstände, also auf Werte. Auch das geistige Fühlen hat mit Scheler und Frankl eine Evidenz, eine spezifische „Logik“, die er mit einem Begriff von Blaise Pascal als „Logique du coer“ bezeichnet. Eine solche „Logik des Herzens“ ist nicht (natur)wissenschaftlich im engeren Sinne, aber dennoch rational in ihrem eigenen Geltungsbereich. Scheler unterscheidet also zwischen intentionalen (geistigen) und zuständlichen (aus dem somatischen und psychischen Bereich stammenden) Gefühlen, Frankl übernimmt diese Differenzierung und erkennt als Instanz für die Fähigkeit zum Wahrnehmen oder „Erspüren“ von Werten das Gewissen. Die von Max Scheler vollzogene Hierarchisierung der Werte übernimmt Frankl in dieser Form nicht. Scheler unterscheidet im Wesentlichen vier Wertebenen, unten stehen die Werte des sinnlichen Fühlens (Lust und Schmerz), darüber die Werte des vitalen Fühlens (Gesundheit und Krankheit), überragt von den Werten des geistigen Fühlens und des Heiligen.

Der Königsweg zum Sinn
Frankl unterteilt die Werte als Sinnverwirklichungsmöglichkeiten in drei Kategorien: „Schöpferische Werte“, „Erlebniswerte“ und „Einstellungswerte“.
Letztere sind Gegenstand der ärztlichen Seelsorge im engeren Sinne, sie zielen auf die innere Haltung des „homo patiens“ bei unabänderlichem Leid und schicksalsbedingter Unfähigkeit zu Kreativität und Genuss.
Bei den schöpferischen Werten geht es darum, kreativ und mit Schaffenskraft seine gewählten und vom Leben gestellten Aufgaben zu erfüllen. Den Prototypen des die aktiven und kreativen Werte erfolgreich umsetzenden Erfolgsmenschen nennt er den „homo faber“. Aber auch bei künstlerischen und musikalischen Aktivitäten werden schöpferische Werte verwirklicht, die Musiktherapie kann durch deren Vermittlung im praktischen Vollzug verlorene Sinnerlebnismöglichkeiten erneut erfahrbar machen. Dies kann beglückend sein, obwohl beispielsweise in der Depression die Glücksmöglichkeiten durch die Krankheit deutlich begrenzt sind. Auch dies ist eine der Grundannahmen der Logotherapie: Glück und die damit verbundenen Gefühle sollten nicht direkt intendiert werden, der Mensch soll einen Grund zum Glücklichsein anstreben, somit muss das therapeutische Musizieren nicht von Anfang an „Spaß“ machen, was ja häufig nicht der Fall ist, sondern kann zum Zweck der Wertverwirklichung eingesetzt werden. Die so gewonnene Sinnerfahrung wird häufig als ein (zunächst durchaus diskretes) Glückserlebnis wahrgenommen und kann damit antidepressiv wirken. Das direkt intendierte Glücksstreben, wie es beispielweise bei allen Süchten besteht, ist aus existenzanalytischer Sicht weder zielführend noch erfüllend und sollte durch das Streben nach Sinn ersetzt werden. Die damit einhergehende Stimmungsaufhellung ist, so betrachtet, ein erwünschter, aber nicht direkt intendierter Nebeneffekt.
Ein zweiter Königsweg zum Sinn besteht im Erfahren der von Frankl sogenannten „Erlebniswerte“. Der „homo amans“ nimmt die Welt mit ihren Schönheiten in sich auf und gibt sich liebend der Natur, der Kunst und der Musik hin. Karlfried Graf Dürckheim spricht in diesem Zusammenhang von „Seinserfahrungen“ (vgl. Zimmermann 2016), Hartmut Rosa von „vertikaler Resonanz“. Gemeint ist das resonante Angesprochenwerden durch musikalische Erlebnisse als Wertverwirklichung.
Dazu gehört auch die Realisierung von sozialen Werten, bis hin zu Liebe und Hingabe an andere Menschen, ein wichtiger Aspekt der Franklschen „Selbsttranszendenz“ als der Fähigkeit, der Selbstbefangenheit zu entkommen. Diese Form der Dereflexion kann auch mit Musik verwirklicht werden, sie ermöglicht die Hinwendung an einen geistigen Gegenstand außerhalb seiner selbst und verhindert so die grüblerische Fixierung auf den problematischen oder kranken Bereich. Logotherapeutische Musiktherapie kann dem Patienten dazu verhelfen, „über den Dingen“ und „über sich selbst“ zu stehen. Durch die Hinwendung zur musikalischen Welt kann der durch Erlebniswerte vermittelte Sinn plötzlich aufleuchten. Die logotherapeutisch interpretierte Aufgabe der Musiktherapeutin könnte in diesem Zusammenhang darin bestehen, den Wert des musikalischen Erlebens intentional spürbar zu machen. Viele unserer Patientinnen und Patienten leiden bei unterschiedlichen Diagnosen am existenziellen Vakuum, insbesondere Suchtpatienten und Depressive klagen oft, das Leben sei sinnlos geworden. Durch ernsthaftes und hingebungsvolles musikalisches Erleben kann auch diese Sinnmöglichkeit bewusst werden, selbst wenn auf Grund des Störungsbildes die Umsetzung schöpferischer Werte nicht mehr gut gelingen kann oder die Motivation dazu nicht mehr vorhanden ist. Die Sinnerfahrung durch Erlebniswerte erfordert Wertfühligkeit, Öffnung für die intensive Wahrnehmung der Gegenwart und eine gewisse Musikalität, also Empfänglichkeit für musikalischen Sinn, die aber auch gefördert werden kann.
Manche Patienten leugnen aber ihre vielleicht verschüttete Musikalität, hier können einfache, zum Teil selbst geschaffene Klangerlebnisse z.B. im Rahmen der Klangschalentherapie hilfreich sein.
Frankl belegt die Möglichkeit, dass auch Sinn in bloßem Erleben erfüllt werden kann in seinem berühmten Gedankenexperiment, bei dem ein musikalischer Mensch im Konzertsaal seine Lieblingssymphonie erlebt und er die Empfindung reinster Schönheit genießt. Die Frage, ob das Leben dieses Musikliebhabers einen Sinn habe, erübrigt sich in diesem Fall. Bereits „an der Größe eines Augenblicks lässt sich die Größe eines Lebens messen … und ein einziger Augenblick kann rückwirkend dem ganzen Leben Sinn geben.“ (Frankl 2005, S. 92). Der Erlebniswert wird musikalisch direkt vermittelt, ohne dass es einer verbalen Deutung bedürfte, die Gewissheit, dass das Leben einen Sinn hat, wenn man von der Musik ergriffen wird und sich berühren lässt, entsteht unmittelbar im Innenraum der Seele. Bei psychisch kranken Menschen ist die Unverfügbarkeit über das musikalische Sinnerleben sowieso schon ausgeprägter, daher sollte die praktische Vermittlung musikalischer Erlebniswerte z.B. durch die Einübung einer achtsamen Grundhaltung gefördert werden. Wichtig ist ebenso das „Reframing“ des therapeutischen Musikerlebens: Es geht hier nicht nur um eine oberflächliche Verbesserung der Befindlichkeit durch das Hervorrufen angenehmer zuständlicher Leibgefühle, sondern um eine potentiell heilsam wirkende musikalische Sinnerfahrung. Auch die verschiedenen Methoden der rezeptiven Musiktherapie, wie z.B. die „Musiktherapeutische Tiefenentspannung (MTE)“ nach Decker-Voigt können die Empfänglichkeit für musikalisches Sinnerleben ermöglichen oder fördern. Das wurde auf dem erwähnten Kongress der GLEP von den Autoren Hans-Helmut Decker-Voigt und Eric Pfeifer theoretisch erläutert und praktisch gezeigt. Die MTE könnte auch ein Mittel zur Erleichterung der Wertimagination sein.

Musik zwischen Immanenz und Transzendenz
Die Logotherapie nach Frankl ist zwar eine wissenschaftlich und philosophisch begründete, empirisch bewährte Psychotherapie und (ärztliche) Seelsorgemethode, die ihren Platz zunächst in der säkularen und immanenten Welt hat, Frankl hat aber andererseits Wert darauf gelegt, die „Tür zur Transzendenz“ offen zu halten und ggf. auch therapeutisch zu nutzen. So hat er in seiner philosophischen Dissertation („Der unbewusste Gott“) die Rolle der ins Unbewusste verdrängten Religiosität für die Entstehung der noogenen Neurosen untersucht. Daher kann sich auch in diesem Zusammenhang die Frage stellen, ob Musik ein rein immanentes, unter Umständen sogar neurobiologisch erklärbares Phänomen ist oder ob die Musik zudem ein Träger transzendenter Erfahrung sein kann, wie es nicht nur der Komponist Peter Michael Hamel interpretiert. Transzendenz kann als der Erfahrungsbereich verstanden werden, der die Überschreitung der Grenzen des sinnlich Erfahrbaren, Diesseitigen und Empirischen ermöglicht. Sie manifestiert sich durch Bilder und Symbole mit nicht verbalisierbarem, aber erfahrbarem Gehalt.
Auch in archaischen Kulturen diente die Musik der Versenkung und der Ekstase und dem Wahrnehmen des „Übersinnlichen“. Warum die Musik die „Transparenz für Transzendenz“ (Dürckheim) ermöglichen kann, ist deshalb schwer zu sagen, weil sie zum Bereich des Unsagbaren, aber nicht zwangsläufig Unwirklichen gehört. Musik vermittelt zwar Sinn und wird häufig mit der kommunikativen Funktion der Sprache verglichen, sie ist aber an keine immanente Referenz gebunden und daher leichter in der Lage, das ganz Andere, Transzendente zu erschließen. Musik kann so zur „Sprache des Unaussprechlichen“ (vgl. Vladimir Jankélévitch) werden.
Die immanenten Aspekte von Musik und Religion können wissenschaftlich beschrieben und erforscht werden, ihr eigentliches Wesen, ihre Essenz entzieht sich aber der wissenschaftlichen Erklärbarkeit. So kann man die psychologische und physikalische Wirkung von Musik erklären und beschreiben, ihr phänomenaler und spiritueller Gehalt erschließt sich dadurch jedoch nicht.
Radikal diesseitig und „profan“ nähert sich die Neurobiologie dem Phänomen Musik, die ja heutzutage so etwas wie eine „Leitwissenschaft“ geworden ist, diesen Status kann man ihr aber angesichts der insgesamt eher dürftigen Ergebnisse bei der Beantwortung der Frage nach dem Wesen der Musik durchaus auch absprechen.
Entsprechend dem Motto von Emil Staiger („Wir wollen begreifen, was uns ergreift“) wird der Ort der Wirkung der Musik ins Gehirn verlagert und dort ähnlich beschrieben, wie die Wirkung anderer erfreulicher Erlebnisse und Aktivitäten wie Schokoladeessen, Geldausgeben, Blickkontakt mit attraktiven Personen, Konsum von Drogen, Alkohol, Zigaretten und Sex. Allein die phänomenologische Analyse dieser angenehmen, aber durchaus verschiedenen Bewusstseinsinhalte zeigt, dass die hirnphysiologische Aufklärung der Wirkung von Musik sehr oberflächlich und begrenzt bleiben muss.
Karl Jaspers hätte in diesem Zusammenhang wohl von „Wissenschaftsaberglauben“ gesprochen. Er sieht das Wesen der Musik im Rahmen seiner Metaphysik dagegen als „Chiffre der Transzendenz“, sie bringe die Transzendenz zum Sprechen. „Die Musik berührt gleichsam den Kern der Existenz, wenn sie deren universelle Daseinsform zu ihrer Wirklichkeit macht. Nichts schiebt sich als Gegenstand zwischen sie und das Selbstsein.“ (Jaspers, 1973, S. 197).
Musik erhellt die Existenz und macht auch das belastete (Er)Leben wertvoll.

Literatur
Decker-Voigt, H.-H. und Pfeifer, E. (2021): Musiktherapeutische Tiefenentspannung (MTE). In: Decker-Voigt, H.-H. und Weymann, E. (Hrsg.), Lexikon Musiktherapie. Göttingen, Hogrefe. Überarbeitete, erweiterte Neuausgabe.
Decker-Voigt, H.-H. (Herbst 2024): Musiktherapeutische Tiefenentspannung/Hypnotherapy. Ein Praxishandbuch. München: Reinhardt.
Frankl V. E. (2005): Ärztliche Seelsorge. Grundlagen der Logotherapie und Existenzanalyse. Wien: Deuticke.
Jankélévitch, V. (2021): Die Musik und das Unaussprechliche. Berlin: Suhrkamp.
Jaspers, K. (1973): Philosophie III: Metaphysik. Berlin, Heidelberg, New York: Springer.
Scheler, M. (1980): Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik. Bern und München: Francke.
Zimmermann, J. (2019): Die „Doppelnatur“ des Menschen und ihre Bedeutung für die Existenzanalytische und Künstlerische Psychotherapie. In: Pfeifer, E.: [unter ständiger Mitwirkung von H.-H. Decker-Voigt] (Hg.): Natur in Psychotherapie und Künstlerischer Therapie. Theoretische, methodische und praktische Grundlagen (Band 2, S. 11 – 22). Gießen: Psychosozial-Verlag.

Die ausführliche Literaturliste ist beim Autor erhältlich.

Jörg Zimmermann
Prof. Dr., Direktor der Klinik für Gerontopsychiatrie und Psychotherapie der Karl-Jaspers-Klinik Bad Zwischenahn, Vorsitzender der Gesellschaft für Logotherapie und Existenzanalytische Psychotherapie,
Dozent am Institut für Musiktherapie der Hochschule für Musik und Theater Hamburg.