Schwerpunktthema II

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Musiktherapie in der Musikschule

Von Regina Steiner-Hurtado

Du trägst dein Ego
Wie eine Rüstung
Bleiern, kalt und schwer.
Aber Kind!
Deine Rüstung wird dir zum Gefängnis!
Tagsüber schreist du blutige
Schlachtparolen in die Welt hinaus.
Nachts widerhallt dein Schluchzen
An deinen eigenen Kerkerwänden.
Komm!
Lass los, lass fallen, lass gehen.
Mach dich frei
Von Blei und Schwerem.
Melodien tröpfeln durch Ritzen deines
Kerkers.
Nähre dich. Trinke den Nektar.
So viel und so lange,
bis deine Rüstung abfällt.
Und plötzlich
stehst du da.
Ohne Panzerkleid,
schutzlos wie ein Neugeborenes.
Ich bette dich auf warmen Klang,
decke dich mit weichen Melodien zu.
Bis du geworden warst.
Dein Frühling kam am Piano.
R.St.

Timo, 12-jährig und sogenannt „verhaltensauffällig“, wurde auf Empfehlung der Klassenlehrperson für die Musiktherapie angemeldet. In der Schule warf er mit Stühlen um sich, bedrohte seine Mitschüler und auch sein alleinerziehender Vater stieß an seine Grenzen. Seine Mutter kannte er kaum, sie hatte nach seiner Geburt auf das Sorgerecht verzichtet und lebte vom Vater getrennt. Es bestand loser Kontakt über Facebook.
In den ersten Musiktherapiestunden veranstaltet Timo eine regelrechte Ein-Mann-Show. Ich werde auf den Bürostuhl verbannt und er verharrt, für mich nicht sichtbar, hinter dem großen Gong. Kurz darauf vernehme ich einen wuterfüllten, frauenfeindlichen Wortschwall. Timo schreit die übelsten Beschimpfungen gegen den Gong. Unverhofft schlägt er mit flacher Hand, bald auch mit Schlägel und anderen harten Gegenständen auf den Gong ein und verleiht so seiner Wut noch heftigeren Ausdruck.
Ich fühle mich seiner Musik schutzlos ausgeliefert. Sein Hass gegen das Weibliche erschreckt mich, besonders auch, weil er für mich hinter dem Gong unsichtbar ist und die Attacke überraschend kommt. Durch die latente akustische Gefahr, die im Raum schwebt, steigert sich meine Anspannung. In der Nachbearbeitung der Stunde wird mir auf der Metaebene schnell klar, dass sich Timo in seinem unsteten Umfeld ähnlich schutzlos und ausgeliefert fühlen muss. Seine Mutter, die er so schmerzlich vermisst, existiert zwar, ist jedoch nicht anwesend und dementsprechend kein Gegenüber für ihn. All seine angestauten Emotionen finden keinen Weg zu ihr. Der Ruf nach ihr erreicht sie nicht, prallt ab und staut sich in Timo selbst an bis ins Unerträgliche, genau wie ich es beim Gong auf akustischer Ebene erlebe. Timo kann seine Gefühle nirgends platzieren. Er bleibt alleine, überschwemmt von seiner eigenen Wut und Traurigkeit. Seine abgrundtiefe Einsamkeit und Verzweiflung werden nun sicht- und hörbar. Die Wut ist Ausdruck davon, dass er nie gehört wurde.
In der darauffolgenden Stunde versuche ich ihm aufzuzeigen, dass ich seine Not erkenne und dass sie bei mir ankommt. Ich kommentiere sein Tun und benenne seine Wut, gebe seiner Einsamkeit und Trauer einen Namen.
Behutsam rolle ich mit meinem Bürostuhl im Zimmer umher, um Blickkontakt zu schaffen. Die Atmosphäre ist aufs Äußerste angespannt. Ich kommentiere meine Gefühle, indem ich erwähne, dass mich der gewaltige Nachhall des Gongs überschwemmt und mich die unerwarteten Schläge furchtbar erschrecken und das Leben für mich unangenehm und schwer machen. Timo hört genau hin. Mir scheint, als sei er erstaunt, dass ich trotzdem dableibe und ihm die Schlägel nicht aus der Hand nehme oder seine Worte verurteile.
Bald darauf nimmt er seine Beschimpfungen wieder auf, jedoch ist nicht mehr die gleiche Intensität spürbar. Als ob ihn gerade dies verunsichern würde, wählt er nun noch üblere Schimpfwörter. Aber auch diese wirken irgendwann leer und deplatziert.
Wir stehen an einem Wendepunkt. Sein bisheriges Verhaltensmuster funktioniert nicht mehr. Gemeinsam betreten wir Neuland.
Ich wage es, unterstützt vom Nachhall des Gonges, Wortfetzen seiner Ausbrüche aufzunehmen und singend zu wiederholen. Dabei begleite ich mich am Schlagzeug. „Hau ab ab ab …. Duu, ja duu… Hau ab ab ab ab…“ Timo akzeptiert meine Einwürfe und beginnt unbestimmte Laute gegen den Gong zu singen. Mal laut, mal leiser, kreischend, brummend, röhrend, schrill. Mehrere Stunden lang wiederholen wir diese Improvisationen und werden immer variantenreicher und verspielter dabei. Die Worte verlieren nach und nach ihre inhaltliche Brisanz. Vielmehr geht es darum, den seit langer Zeit angestauten Gefühlen hinter der Wut Ausdruck zu verleihen. Anfänglich gefährlich klingende, bedrohliche Schreie und Drohgebärden verwandeln sich nun in ein Lamentieren, später in ein Jammern und Wehklagen. Die unverhofften Schläge auf den Gong bleiben aber noch lange und treffen mich immer wieder unvorbereitet. Ich ertappe mich, wie ich lauschend verharre, oft die Schultern leicht angespannt, da ich doch immer wieder befürchte, ein gewaltiger Gongschlag könnte mich überraschen.
Dann wird Timo still. Misstrauen kommt mir entgegen. Ich setze mich ans Klavier und beginne zu improvisieren. Er nimmt es an und hockt sich mit angezogenen Beinen in den Schaukelstuhl. Ich spüre seine große Verletzlichkeit und versuche behutsam, ihn musikalisch und atmosphärisch aufzufangen. Wochenlang spricht er wenig. Dieser Stille lassen wir viel Raum. Meine Fürspiel erweitere ich Schritt für Schritt mit Akkordeon, Ocean Drum, Gesang und später noch mit der Klangwiege.
Nach mehreren Wochen steht Timo unerwartet auf und setzt sich ans Klavier. Intuitiv erhebe ich mich und will musikalisch Boden geben, halte mich aber zurück und bemerke noch rechtzeitig, dass er mich nicht braucht. Zum ersten Mal vernehme ich musikalisch denjenigen Timo, der mir bisher hinter seiner Wut und der Trauer verborgen blieb. Seine Musik ist echt, ureigen und akustischer Ausdruck seines zaghaften Ichs, das vertrauensvoll zu wachsen beginnt und welches es von nun an zu stärken und zu nähren gilt.
Nach eineinhalb Jahren beendeten wir die Musiktherapie. Timo ist auf gutem Weg, Zuhause und in der Schule hat sich die Situation deutlich verbessert. Die Kontaktlosigkeit zu seiner Mutter ist nicht mehr in gleichem Maße belastend. Timo richtet den Blick nach vorne und befasst sich bereits mit seinen Berufswünschen.

Musiktherapie im Fächerkatalog der Musikschule
Musikalische Bildung ist vielseitig. Die Bedürfnisse der Gesellschaft sind es ebenso. Musikschulen sind Bildungseinrichtungen, die zum Ziel haben, Kindern und Jugendlichen auf freiwilliger Basis musikalische Bildung zu vermitteln. Dabei ist eine intensive Zusammenarbeit mit den verschiedenen Bildungsinstitutionen, insbesondere mit der Volksschule, unerlässlich.
In den Visionen des VMS (Verband Musikschulen Schweiz) wird als wichtiges Ziel beschrieben, allen Kindern und Jugendlichen einen Zugang zur musikalischen Bildung zu ermöglichen, unabhängig von ihrem soziokulturellen Hintergrund und ihren individuellen Lernvoraussetzungen. Die Realität zeigt jedoch ein anderes Bild. Oft können mit dem Angebot der Musikschulen nicht alle Zielgruppen gleichermaßen erreicht werden.
Wie weiter, wenn ein Kind kognitiv oder aufgrund seines Verhaltens an seine Grenzen stößt, in seiner Entwicklung verzögert oder durch eine Lebenskrise blockiert ist? Was tun, wenn die Instrumentallehrer ratlos oder gar überfordert sind und das Unterrichten erschwert wird?
Musiktherapie kann eine sinnvolle Ergänzung zum Instrumentalangebot einer Musikschule sein, weil sie in einem pädagogisch geprägten Berufsfeld für die psychosoziale Gesundheit von Kindern und Jugendlichen eine wichtige Rolle übernimmt und die Instrumentallehrer auch in einem gewissen Maße entlasten kann.
Die Stadt Zug übernahm mit der Einbindung der Musiktherapie in die Musikschule schweizweit eine Pionierrolle. Bereits 1989 wurde Musiktherapie an der Musikschule Zug eingeführt. „Musik für alle“ war das Motto. Jedem Kind soll die Möglichkeit geboten werden, seinen Fähigkeiten entsprechend einen Zugang zu Musik zu bekommen.
Anfänglich gab es in Zug noch keinen festen Therapieraum und die damalige Musiktherapeutin startete mit einer Lektion pro Woche für Kinder mit einer geistigen Behinderung. Seither wurde das Angebot kontinuierlich ausgebaut. Musiktherapie existiert heute als eigenständiges Fach an der Musikschule Zug so wie auch an der Heilpädagogischen Schule in Zug. Es steht ein großes Therapiezimmer mit breitem Instrumentarium zur Verfügung. Somit könnten auch Menschen mit einer Behinderung, einer Entwicklungsstörung oder sonstigen Beeinträchtigungen ein Teil der Musikschule sein, indem es ihnen ermöglicht wird, sich in wertefreier Zone mit musikalischen Mitteln auszudrücken.
Dazu auch Mario Venuti, aktueller Leiter der Musikschule Zug: „Die Musikschule Zug hat vor 31 Jahren die Musiktherapie in den Fächerkatalog aufgenommen. Vielen Menschen konnte in dieser Zeitpanne geholfen werden. Die Musiktherapie ist an der Musikschule Zug eine Erfolgsgeschichte, ein Ort, wo ohne Leistungsdruck durch Musik eine hohe Wirkung erreicht wurde.“
Die Musikschule Zug kooperiert heute über die Musiktherapie erfolgreich mit der Heilpädagogischen Schule wie auch mit dem Schulpsychologischen Dienst, der Schulsozialarbeit und anderen umliegenden Institutionen.

Wer bist du
Hinter der Bühne deiner Gedanken
Wer bist du
Unter dem Berg deiner Gefühle
Wer bist du
Jenseits von Worten und Diagnosen
Wer bist du
Gerade jetzt?
Was ich sehe im Außen
Ist Spiegel von dir drin
Wo liegt der Weg nach Innen
Versteckt liegt da der Sinn.
Im Sein bist du verborgen
In jedes Herzens Grund
Hinter unseren Sorgen
Goldig, klar und rund.
R.St.

Ohne ein Wort der Begrüßung kommt Sandy ins Zimmer, setzt sich auf den Teppich und beginnt sofort, Steel­drum zu spielen. Sandy ist 17 Jahre alt und Autistin. Außer ein paar Wortfetzen spricht sie wenig. Sie führt oft für Außenstehende unverständliche Selbstgespräche mit starrem und abwesendem Blick und lächelt dabei in sich hinein. Sie scheint imaginäre Gesprächspartner zu haben. Ihre Bewegungen sind roboterhaft, ihre Sprache gepresst, ihr Körpertonus hoch und ihre Hände feuchtgeschwitzt. Im Alltag ist Sandy isoliert, der Kontakt zu Mitschülern kommt nicht zustande. „Sie lebt in einer anderen Welt“, sagen die Lehrpersonen. Als ob es mehrere Welten gäbe, die sich überlagern, aber nicht berühren. Ich vermute, Sandy leidet unter dieser Einsamkeit. Jeder Mensch – zumindest jeder heranwachsende Mensch – will in einem gewissen Maße erkannt werden und sich als Teil des Ganzen fühlen. Es ist ein gefährlicher Trugschluss zu denken, Autisten wären ja sowieso gerne alleine.
Sandy sitzt mit gebeugtem Rücken an der Steeldrum und spielt vor sich hin. Ich setze mich an die Djembe und beginne leise, Sandy zu begleiten. Ihr Blick wandert sofort zu mir und bleibt auf meinen Händen haften. Eine Weile spielen wir so gemeinsam weiter. Dann beginne ich kurze, rhythmische Motive einzuwerfen. Sofort reagiert Sandy und gibt meine Motive korrekt und rhythmisch sauber zurück, wie eine Art akustisches Copy-paste-Geschehen. Ich bin mir bewusst, dass dieses musikalische Hin und Her für Sandy bereits eine große Errungenschaft ist. Ich möchte jedoch mehr, ich möchte Sandys Kern treffen, sie selbst erkennen – wer ist sie hinter der Fassade einer jugendlichen Autistin? Und wie geht es ihr eigentlich? Wie fühlt sie gerade jetzt?
Ich singe ein kurzes Motiv in den Raum. Sandy scheint es erst nicht wahrzunehmen. Ihr Blick ist abgewandt, noch immer spielen wir in fast schwebendem Tempo gemeinsam auf Steeldrum und Djembe. Dann, mit einer Verzögerung von vielleicht 30 Sekunden, kommt ihre stimmliche Antwort. Es ist ein gehauchter Laut, dabei blickt sie mir direkt in die Augen. Ihr Blick berührt mich sehr. Es ist kein kalter oder kontrollierender Blick, sie ist eindeutig in Beziehung. Sie ist da, jetzt habe ich diejenige Sandy vor mir, die ich suchte. Wieder singe ich eine kurze Sequenz. Sie antwortet in einer Art Wolfsgeheul. Die Steeldrum und das Djembe hören auf. Wir heulen uns zu und blicken uns in die Augen. Sandy ist jetzt stimmlich, körperlich und affektiv ganz in Beziehung.
Plötzlich spüre ich, dass es nun genug ist. Ich lasse meinen Gesang leiser werden und verstumme. Sandy ist bereits aufgestanden und hat sich von mir abgewandt auf den Schaukelstuhl gesetzt. Sie braucht eine kurze Pause.

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Indikation und Zuweisung
Wer sind die Menschen, die Musiktherapie an einer öffentlichen Musikschule wählen? Menschen jeden Alters besuchen die Musiktherapie. Kinder ab cirka vier Jahren bis hin ins Erwachsenenalter. Spezifische Indikationen sind beispielsweise körperliche oder kognitive Entwicklungsrückstände, erschwerte sprachliche Kommunikation, Bindungsstörungen, emotionale Belastungen und Traumata, Verhaltensauffälligkeiten, Schulverweigerung oder Ausdrucksnot.
Durch die enge Zusammenarbeit mit der Heilpädagogischen Schule Zug besuchen viele Schüler der HPS die Musiktherapie. Der Schulpsychologische Dienst und ebenso Logopädinnen, Physiotherapeutinnen, Ergotherapeutinnen oder Klassenlehrpersonen geben Empfehlungen für Musiktherapie.
Inzwischen gibt es auch viele sensibilisierte Instrumentallehrpersonen, die spüren, dass sich hinter schwierigem Verhalten ihrer Schüler manchmal ein tiefer liegendes Leiden verbirgt oder dass ein dringendes Bedürfnis nach freiem Ausdruck besteht. Die Instrumentallehrpersonen empfehlen ihren Schülern in solchen Fällen, die Musiktherapie ergänzend zu besuchen.
Vereinzelt besuchen auch Kinder die Musiktherapie, die keine alarmierenden Defizite aufweisen, jedoch fasziniert sind von der Instrumentenvielfalt und den Ausdrucksmöglichkeiten der Musiktherapie. Diese Kinder haben oft ein großes Bedürfnis, ihre Kreativität auszuleben. Sie kosten das breite Instrumentarium mit großer Freude aus und befriedigen dabei ihre Neugierde und ihren Entdeckerdrang.
Das zweckfreie Musizieren öffnet diesen Kindern Räume für ihre eigene Spielfreude und Entfaltung. Meistens kristallisiert sich in der Musiktherapie heraus, welches Instrument sie besonders anspricht. Oft wechseln solche Kinder dann nach spätestens einem Jahr zum Instrumentalunterricht.

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Vernetzung und Öffentlichkeitsarbeit
Trotz der breiten Unterstützung von Seiten der Musikschulleitung und des Lehrerkollegiums ist es immer wieder wichtig, die Türen zu öffnen und zu zeigen, was Musiktherapie ist und wer davon profitieren könnte.
Innerhalb der Musikschule geschieht dies durch Fachvorträge mit Fallberichten für Instrumentallehrpersonen. Dabei entsteht ein für beide Seiten sehr anregender Austausch. Ein Lehrer war so berührt von der Musik als therapeutisches Medium, dass er meinte: „Bei dir entstehen echte Emotionen. Eigentlich ist es genau das, was ich im Instrumentalunterricht versuche – Musik und Emotionen zusammenzubringen. Aber als Pädagoge ist es so schwierig, dorthin zu kommen!“ Manche Fragen zeugen auch von einer noch immer vorherrschenden Unklarheit, wann eine Musiktherapie indiziert sein könnte: „Sie ist so unrhythmisch und nimmt immer wieder die falschen Griffe, kannst du da was machen in der Therapie?“. Wieder andere schätzen es, wenn sie mir von ihren „schwierigen“ Schülern erzählen können und man miteinander über eine Lösung nachdenkt.
Außerhalb der Musikschule treffe ich mich sporadisch mit diversen Therapeutinnen, Schulsozialarbeitern, Schulpsychologen oder Klassenlehrpersonen für einen Austausch. In der Regel stößt die Musiktherapie auf großes Interesse. Damit jedoch eine tragfähige Beziehung entstehen und erhalten bleiben kann, muss man dieser Beziehung Sorge tragen und sie pflegen. Es ist eine Errungenschaft, wenn andere Therapeuten oder Psychologen erspüren, wem das Medium Musik besonders dienlich sein könnte und es dadurch zu einer Überweisung kommt.

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Innere Haltung
Es macht mir große Freude, einem solch breiten Klientel begegnen zu dürfen und immer wieder neue Welten zu betreten. Als Musiktherapeutin darf ich an anderen Welten und an sich überlagernden Realitäten teilhaben. Das Eintauchen in das Erleben und Fühlen von einem Menschen ist etwas ganz Besonderes. Welcher Vielfalt man da begegnet. Wie kreativ und originell sind doch Menschen – insbesondere Kinder – in ihrem Ausdruck, wenn sie in einem sicheren und wertefreien Raum ihrer Spontaneität und Intuition freien Lauf lassen können. Wie farbig und einzigartig ist doch jedes Menschenleben!
Für erwachsene Klienten braucht es manchmal Mut, verhärtete Verhaltensmuster und lange gepflegte Werthaltungen fallen zu lassen, um sich dem inneren Fluss und ihrer Intuition hingeben zu können. Ich bin begeistert und manchmal gerührt von diesem Potential, dass jeder Mensch in sich verborgen trägt.
Ein Arbeitstag ist für mich wie eine Reise, von der ich am Ende des Tages beeindruckt, erfüllt oder auch mal mitgenommen nach Hause zurückkehre. In der persönlichen Verarbeitung entstehen nebst dem ordentlichen Protokollieren und Reflektieren manchmal auch Gedichte wie jene von oben, auch Melodien, Harmoniefolgen, Liedzeilen oder Zeichnungen. Diese persönliche Verarbeitung hilft mir beim Ordnen von Therapieinhalten wie auch beim Assoziieren und Einkreisen von relevanten Themen.
Um die Fülle eines Arbeitstages aufnehmen zu können, ist es eine große Herausforderung, sich selbst immer wieder leer zu machen für das Innenleben der Klienten. Ich übe mich darin, meine Gedanken ruhig werden zu lassen und meine allfälligen Sorgen zur Seite zu stellen. Es ist wichtig, dem Klienten absolut unvoreingenommen und offen zu begegnen, wach und präsent zu sein. Nur so kann ich wirklich einem Menschen beistehen und für ihn da sein. Diese geordnete und offene innere Haltung erachte ich als eine Tugend, die ich als Therapeutin mitbringen und trotzdem immer wieder üben muss. So gesehen ist die Arbeit als Musiktherapeutin auch eine Art Lebensschule.

Die Autorin:

Regina Steiner-Hurtado
MAS klin. Musiktherapeutin SFMT, Lehrerin, freischaffende Musikerin.
Tätig als Musiktherapeutin, seit 2011 an der Musikschule Zug und seit 2012 an der Heilpädagogischen Schule Zug. www.reginasteiner.ch
www.musikschulezug.ch

Literatur:
Anderes, R. (2014). Musiktherapie an der Musikschule. Projektarbeit Master of Advanced Studies Klinische Musiktherapie. Zürcher Hochschule der Künste.
Lutz Hochreutener, S. (2009). Spiel – Musik – Therapie. Methoden der Musiktherapie mit Kindern und Jugendlichen. Göttingen: Hogrefe.
VMS Verband Musikschulen Schweiz (2006). Musik Unterrichten. Leitbild Berufsprofil. Instrumentalpädagogin und Instrumentalpädagoge, Vokalpädagogin und Vokalpädagoge. Broschüre.