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Kleine Hilfen mit Atem, Bewegung und Stimme

Von Sabine Rittner

Vom Lied der Seele
Eine Sufi-Geschichte
„Als Gott nach seinem Bilde eine Gestalt aus Ton geschaffen hatte, bat er die Seele, sie möge da hineingehen. Die Seele jedoch weigerte sich, gefangen zu werden, denn es ist ihr Wesen, frei herumzufliegen und nicht begrenzt oder an irgendeinen Raum gebunden zu sein. So verspürte die Seele nicht die geringste Lust, den Körper zu bewohnen. Da bat Gott die Engel, ihre Musik erklingen zu lassen und zu singen. Als die Engel sangen und spielten, hörte die Seele dem Lied zu. Durch diese Klänge bezaubert und weil sie die Musik mit allen Sinnen noch stärker erleben wollte, war sie bereit, den Körper zu beseelen. Einige Leute sagen, die Seele sei in den Körper hineingegangen, weil sie dieses Lied hörte; in Wahrheit aber ist die Seele selbst das Lied.“
Heute lade ich Sie ein zu einer atmenden, tönenden Reise zum momentanen „Lied Ihrer Seele“, das zwischen Himmel und Erde erklingen möchte. Auf dieser Reise werden Sie Ihren Körper so einstimmen, dass er dem im jetzigen Augenblick stimmigen Lied wieder Raum zu geben vermag, es hörbar werden lässt und sich darin schließlich zum Wohle aller verströmt.
1. Einstimmung (etwa 5 Minuten). Finden Sie einen Ort, an dem Sie mindestens 45 Minuten ungestört sind und sich wohl fühlen. Ein Stuhl oder ein Hocker sollte bereitstehen für Sie.
Im Stehen lockern Sie Ihren Körper mit einem sanften Schütteln, indem Sie die Fersen leicht vom Boden abheben und wippen, ohne auf den Boden aufzustoßen. Die Knie sind dabei gelöst, Bauch, Po und Brust wippen mit, die Schultern und Arme schlackern, der Unterkiefer lockert sich und fällt hinab, der Nacken öffnet sich. Lassen Sie dazu spielerisch Nonsense-Laute entstehen, locker von unten her schüttelnd „erzählen“ Sie sich irgendein Kauderwelsch. Wenn der ganze Körper gelockert, gelöst ist und der Kopf frei von logischen Gedanken, dann setzen Sie sich entspannt aufrecht auf den Stuhl oder Hocker. Achten Sie darauf, dass der Rücken gerade ist und der Scheitelpunkt am Hinterkopf den höchsten Punkt Ihres Körpers darstellt. Die Beine stehen hüftbreit, die Füße befinden sich unter Ihren Knien und Sie sitzen am vorderen Rand der Sitzfläche. Wichtig: Während der gesamten folgenden Sequenz lassen Sie spontan entstehende Bewegungen zu. Erlauben Sie Ihrem Körper, sich sanft mitzubewegen, wann immer er das möchte. Ob und wann sich Ihre Augen schließen oder wieder öffnen mögen, überlassen Sie ebenfalls Ihrem jeweiligen Bedürfnis.
2. a) (etwa 5 Minuten). Spüren Sie nach unten hin zum Boden über den unmittelbaren Kontakt des Beckens, der Beine, der Füße. Nehmen Sie Ihren Atem wahr. Wenn der nächste Aus­atem ausströmt, machen Sie diesen mit einem seufzenden, weichen „hhuuu“ hörbar. Lenken Sie das Geräusch mit Hilfe Ihrer Vorstellungskraft hinab in das Becken. Jeder neue Ausatem sickert durch den Beckenboden in den Boden hinab, immer tiefer in die Erde hinunter. Er bietet Ihnen dabei an, etwas mitzunehmen, etwas hinabströmen, etwas hineinsickern zu lassen in die Erde. Indem Sie sich diesen aufnehmenden, mütterlichen, empfangenden, gewährenden, schützenden, bedingungslos annehmenden Aspekt der Erde vergegenwärtigen, lassen Sie zu, dass das Atemgeräusch sich in ein Tönen bis tief hinab in die Erde wandelt. Es ist möglich, dass Ihnen dabei ein Seufzen entströmt oder dass die Töne oben beginnen möchten und bis tief hinunter durch Ihr Becken und Ihre Füße in die Erde gleiten. Erlauben Sie ihrem Körper, sich beim Tönen und Singen spontan in sanften Bewegungen auszudrücken, wenn er das möchte. Wenn es ein Bild, einen Gedanken, ein Gefühl dazu gibt, was es ist, dass Sie dem tönenden Ausatem mitgeben, so dass es die Erde aufnehmen kann, dann lassen Sie dies geschehen. Stellen Sie sich vor, dass das, was Sie ausatmend loslassen, in der Erde verwandelt wird, dass es wieder fruchtbar und zu gutem Nährboden wird.
2. b) (etwa 5 Minuten). Machen Sie sich nun bewusst, dass die Erde Ihnen auch etwas entgegensetzt, dass sie Ihnen Halt gibt, Festigkeit anbietet, konkret wahrnehmbaren Kontakt. Stemmen Sie dazu Ihre Füße fest gegen den Boden und nehmen Sie den Kontakt Ihrer Sitzbeinhöcker mit dem Stuhl wahr. Indem Sie sich diesen aufsteigenden, kraftspendenden, haltgebenden, Sicherheit vermittelnden, strukturierenden Aspekt der Erde vergegenwärtigen, lassen Sie zu, dass das Tönen sich wandelt, dass Ihrem Körper vielleicht ganz andere, neue Klänge und Geräusche entspringen wollen. Vielleicht sind es kraftvollere, lautere, wildere Töne, mit denen Sie experimentieren, sich auch zumuten mögen. Erlauben Sie ihrem Körper, sich beim Tönen und Singen spontan in Bewegungen auszudrücken, wenn er das möchte. Sollte dazu ein Bild auftauchen, ein Gedanke, ein Gefühl für das, womit Sie sich der Erde zumuten, ihren Halt, ihre Festigkeit genießen, dann lassen Sie dies geschehen.
3. a) (etwa 5 Minuten Minuten) Wenden Sie Ihre Aufmerksamkeit nun dem Einatem zu, der als nächstes in Sie einströmt. Lassen Sie diesen Ein­atem mit Hilfe Ihrer Vorstellungskraft im Innern Ihres Körpers aufsteigen bis zur Schädeldecke … und darüber hinaus bis weit in den Himmel hinein. Dabei erlauben Sie den Armen und Händen, sich mit hinauf zu bewegen, sich zu öffnen, zu dehnen.
3. b) (etwa 5 Minuten). Indem Sie sich den weiten, inspirierenden, hellen, unendlichen Möglichkeitsraum des Himmels vergegenwärtigen, lassen Sie zu, dass Sie inspiriert werden, dass das Tönen sich wandelt, dass Ihrem Körper vielleicht andere, neue Töne, Geräusche, Gesänge entspringen wollen. Erlauben Sie ihrem Körper, sich beim Tönen und Singen spontan in Bewegungen auszudrücken, wenn er das möchte.
In der englischen Sprache gibt es die eindrückliche Unterscheidung zwischen „sky“ – dem physikalischen Himmel, und „heaven“, dem paradiesischen Himmel der Möglichkeiten. Während Sie dem, was Sie spüren, tönend, singend Ausdruck verleihen, lauschen Sie, wie Ihr Körper die Resonanz auf folgende Fragen hörbar macht:
Was inspiriert mich? Was möchte sich Neues verkörpern? Was für ein „Ein-Fall“ kommt Ihnen dazu von oben, den Sie in sich aufnehmen mögen, so dass er sich mit Hilfe Ihres atmenden, tönenden, singenden Körpers auszudrücken vermag? Wenn dazu beim Singen Bilder auftauchen, Visionen, Gedanken, Gefühle für das, was Sie an kreativer Veränderung in ihr Leben einladen möchten, dann lassen Sie dies geschehen.
4. a) (etwa 3 Minuten). Richten Sie nun Ihre Aufmerksamkeit auf Ihren Herzraum. Atmen Sie in den weiten Raum Ihres Herzens hinein und nehmen Sie die Umkehrpunkte Ihres Atmens wahr, die Pausen, das Dazwischen. Lassen Sie sich in diese kurzen Stillemomente, die zwischen dem Einatem und dem Ausatem, zwischen dem Ausatem und dem Einatem entstehen, hineinfallen. Halten Sie dabei nicht die Luft an, lassen Sie vielmehr den Hals offen und sinken Sie für kurze Momente in das Dazwischen, in das Nichtwissen, in die Stille hinein, ganz mühelos, ohne sich anzustrengen.
4. b) (etwa 10 Minuten). Aus diesem staunenden Offensein heraus lauschen Sie neugierig auf das, was aus dem Nichtwissen heraus jetzt tönend entstehen möchte. Es erklingt ein lauschender, staunender Gesang aus der Weite Ihres Herzens jenseits von Wollen und Machen.
Erlauben Sie, dass Ihre „Seele selbst das Lied“ ist, das in diesem Moment geboren werden möchte, verleihen Sie ihr klanglich Flügel …
Indem Sie sich den unendlich weiten Raum Ihres Herzens vergegenwärtigen, lassen Sie zu, dass Sie innerlich berührt werden von den Vibrationen, dass Gefühle auftauchen, dass das Tönen sich ständig wandelt, dass Ihrem Körper immer neue, sowohl vertraute als auch unbekannte Töne, Geräusche, Gesänge entspringen wollen. Geben Sie den Bewegungen nach, die entstehen, vielleicht möchte sich ein Tanz herausbilden, vielleicht möchte der gesamte Körper sich darin mit einschwingen und Sie stehen auf, um dem noch mehr Raum zu geben. Während Sie Ihrer Seele tönend, singend, tanzend Ihren Körper leihen, um sich auszudrücken, erlauben Sie, dass der Gesang aus Ihrem Herzen die Resonanz auf folgende Fragen hörbar macht:
Kann ich mich selbst bedingungslos lieben so, wie ich von der Schöpfung gemeint bin? Kann ich mich aus dieser unermesslichen Quelle schöpfend verströmen in Empathie, in Mitgefühl – ohne zu Leiden, ohne mich zu verlieren? Was möchte durch mich zum Wohle aller in die Welt kommen? Worin möchte ich mich verschenken, was ist mein Beitrag? Wie möchte sich mein heilsamer Seelengesang in dieser Welt in Taten manifestieren? Wie möchte mein Seelengesang mit Hilfe meines Körpers sinnerfüllt wirksam werden?
5. Nachspüren in Stille (etwa 5 Minuten). Wenn der Gesang von alleine verklingt, lauschen Sie ihm nach, wie er in den unhörbaren Raum hinein weiterschwingt und zu seiner Quelle in der Stille zurückkehrt. Ruhen Sie eine Weile in der Fülle der Leere, die sich danach entfaltet. Erst wenn es wirklich genug ist, räkeln Sie sich genüsslich, strecken, dehnen, bewegen Sie sich und kehren Sie mit allen Sinnen ganz zurück in die wache Präsenz.

Methodische Hinweise für MusiktherapeutInnen und SinggruppenleiterInnen
Diese „Reise zum Lied Ihrer Seele“ lässt sich besonders gut in Gemeinschaft mit anderen Singfreudigen erleben, da die Gruppe die Wirkungen des Tönens und Singens intensiviert, belebt und zusätzlich einen bergenden, schützende Klangraum erschafft. Wenn Sie diese Übung im Kontext einer Gruppe anleiten möchten, so empfehle ich, keine begleitende Musik zu spielen und Suchprozesse, Phasen des Nichtwissens, Momente der Irritation nicht zu übertönen mit eigener, animierender Singaktivität. Lediglich in der Phase 4.b) könnten evtl. leise, fließende, monochrome Klänge z. B. eines Monochords oder einer Klangsäule gespielt werden, ohne jedoch die sich entfaltenden Gesänge zu dominieren oder zu „zwangsharmonisieren“. Ein geschützter Raum für größtmögliche experimentierfreudige Ausdrucksvielfalt sollte gewährleistet sein. Nach einer angemessenen Zeit des Nachruhens, die unbedingt erforderlich ist für die Speicherung der Erfahrung im Körpergedächtnis (Embodiment), halte ich im Gruppenkontext das mitteilende Nachgespräch für unabdingbar.

Anmerkungen und Literaturtipps
–    Detaillierte methodische Hinweise für MusiktherapeutInnen, SingleiterInnen und MultiplikatorInnen finden sich in: Sabine Rittner (2017). Singen und Trance – Die Stimme als Medium zur Induktion veränderter Wachbewusstseinszustände im Kontext von Singgruppen. In: E. Wünneberg (Hg.): Singen als heilsame Kraft – Das Potenzial des Singens für das Gesundheitssystem. Verlag: Singende Krankenhäuser e.V.
–    Die Sufi-Geschichte „Die Seele selbst ist das Lied“ habe ich während meines 30 Jahre währenden Kontaktes mit dem 2017 verstorbenen Sufi-Meister und Musiktherapeuten Dr. Oruç Güvenç oft erzählt bekommen und lieben gelernt. Es handelt sich um mündliche Überlieferung aus der Tradition des Sufismus, ihre ursprüngliche Quelle ist nicht auszumachen.
–    Oruç Güvenç, Andrea A. Güvenç (2009). Heilende Musik aus dem Orient. Vom traditionellen Wissen der Schamanen und Sufis zur praktischen Anwendung altorientalischer Musiktherapie (mit CD). Irisiana Verlag.
–    Seminarangebote speziell zu den Themen dieses Artikels finden Sie auf der Webseite der Autorin (www.SabineRittner.de).