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Juckepuck komm her! Therapeutisches Songwriting mit Kindern

Von Constanze Rüdenauer-Speck

Das Lied ist zentral in meiner musiktherapeutischen Arbeit mit chronisch kranken Kindern und Jugendlichen, vom klassischen Kinderlied, über Kindermantren bis zu ihren Lieblingsliedern, die sie zur Therapie mitbringen: So war es bei der 10-jährigen Hanna*, die unter einer Fütter-Essstörung (Sensorische Nahrungsverweigerung) litt. Der Song „Roar“ von Katy Perry stand ganz oben auf ihrem Zettel. Hanna konnte noch gar kein Englisch, es war die Musik, die in ihr starke Gefühle auslöste. Hanna und ich trommelten, während Katy Perry aus der Lautsprecherbox tönte:

„…you held me down, but I got up (hey!)
Already brushing off the dust
You hear my voice, your hear that sound
Like thunder, gonna shake the ground
You held me down, but I got up
Get ready ‘cause I had enough
I see it all, I see it now
I got the eye of the tiger, a fighter
Dancing through the fire
‘Cause I am a champion,
and you’re gonna hear me roar
Louder, louder than a lion…“

Danach war es möglich, trommelnd „Nein!“ sagen zu üben und die bisher leise, schüchterne Hanna erhob langsam ihre Stimme. Jetzt fasste sie den Entschluss, einen eigenen Song zu schreiben und es sollte um ihren Mut gehen, den sie beim Probieren neuer Speisen inzwischen gezeigt hatte und um ihren Wunsch, dass sie dies auch zuhause schafft. Ihr Essen sollte ab jetzt „bunt und einfach“ werden und sie formulierte weiter: „Ich bleib’ dran, bis ich’s kann, ich bin richtig, wie ich bin!“ Hanna schöpfte viel Motivation und Willensstärke aus ihrem Song. In zwei weiteren Stunden stellten wir ihren Song „Mut“ fertig und nahmen ihn auf. Hanna sang inzwischen kräftig ins Mikrofon hinein und war sichtlich stolz auf ihre CD-Aufnahme.
Ein gelungener eigener Song, der den Kindern etwas bedeutet, ihnen aus ihrer Seele spricht, vermag die emotionale Verarbeitung der Krankheit und damit die medizinische Behandlung sehr zu unterstützen. Die Kinder erleben sich hier vor allem als selbstwirksam.
Bei der gleichaltrigen Jana* stellte der eigene Song die Wende dar, mit dem sie eines Tages buchstäblich „aus der Haut fuhr“. Jana hatte schon mehrere Klinikaufenthalte hinter sich, ihre Neurodermitis mit einem maximalen Scoradwert von 103 machte sie zu einem der schwerst betroffenen Fälle unserer Klinik der letzten Jahre. Janas Stimmung war auf dem Nullpunkt und darunter litt auch die Beziehung zur Mutter. Das leidige Thema „Eincremen“ war solch ein Streitpunkt geworden, dass dies zur Entlastung der Mutter die Schwestern der Klinikambulanz übernahmen. Das Lied, das aus dieser Situation heraus entstand, brachte ihre Nöte und Wünsche zum Ausdruck und entlastete gleichzeitig Mutter und Tochter in ihrer Beziehung. Die Figur des „Juckepuck“, den Drachen, den sie rufen kann und der ihr den Juckreiz wegnimmt, gab es schon. In der Musiktherapie hatte sich Jana daran erinnert und sie machte ihn wieder lebendig. Auf meine Frage: „Und wenn der Juckreiz nun weg ist? Was machst du dann?“, brauchte Jana keine lange Überlegung und daraus entstand der Refrain: „… und dann juckt’s mich nicht mehr und ich kratz’ mich nicht mehr, und dann bin ich einfach froh! … Dann hab’ ich viel Zeit und spiele, das befreit!“ Gemeinsam mit der Mutter wurde musiziert, gesungen und gelacht. Nun konnte Jana sogar lustvoll singen: „Jetzt crem’ ich mich ein, da fühlt die Haut sich fein“. Jana war es sehr wichtig, dass das Lied in Notenschrift notiert festgehalten wurde, damit sie dies zuhause auch selbst am Klavier spielen konnte. Und: Sie wollte anderen Kindern, die wie sie an Neurodermitis erkrankt sind, dieses Lied schenken. So wurde der „Juckepuck“ in unserem Neurodermitis-Schulungsheft für Kinder abgedruckt (und nun auch für Sie in diesem Heft) und ist damit lebendig in unserem Klinikalltag. Dafür erhielt „Juckepuck“ von Jana auch eine Gestalt – ein grüner Drache mit scharfen Klauen.
Maren*, eine jugendliche Neurodermitis-Patientin, äußerte den Wunsch, in ihren Musiktherapiestunden auch einen Song zu schreiben. Etwas älter als Hanna fand sie recht deutliche Worte: „…Ich will schon gar nicht rausgehen, weil die Menschen mich anstarren … geh nicht schwimmen, geh nicht spielen, bin traurig und wütend … Ich will, dass du weggehst … Scheiß Neuro! … Ich wünschte, ich wach’ auf, es ist vorbei. Dann schreib’ ich ins Whats App Ich bin frei …“ Hannas Lied wurde eine Ballade, und als wir fertig waren, saß sie eine Weile tief bewegt neben mir am Piano.
Therapeutisches Songwriting ist nach meiner bisherigen Erfahrung gut möglich mit Kindern ab ca. 10 Jahren. Diese müssen kein Instrument spielen können, aber Sie selbst sollten ein Begleitinstrument wie Klavier oder Gitarre sicher beherrschen, sich in der Harmonielehre gut auskennen und die entstandene Musik auch leicht notieren können. Es ist wichtig, bereits mit dem Kind oder Jugendlichen in einer vertrauensvollen therapeutischen Beziehung zu sein. Wenn sie vor dem Songwriting gemeinsam improvisieren, sind Sie für den folgenden Gestaltungsprozess besser miteinander verbunden. Zunächst geht es um den Liedtext (Lyrics). Dazu stellen Sie Fragen und das Kind oder die Jugendliche notieren selbst auf einem Blatt die Antworten und alle Gedanken, die in diesem Zusammenhang kommen. Maren habe ich konkret gefragt: „Was bedeutet es für dich, Neurodermitis zu haben? Wie fühlst du dich damit? Woran hindert dich diese Krankheit? Wenn du morgen aufwachst und „es“ wäre weg – wer würde es zuerst merken? Was würdest du tun? Was möchtest du der Neurodermitis sagen?“ Maren füllte zwei DIN-A4-Seiten – Sie erhalten in der Regel genügend Material für Strophe (Verse) und Re­frain (Chorus). Es ist an der Stelle die Kunst, diesen Text, die Worte „vorauszuhören“, wie sie musikalisch klingen könnten und wie sie für dieses Kind richtig sind. Es soll nicht Ihr Song werden, sondern als Musiktherapeutin machen Sie Vorschläge zu Melodieführung, Harmoniefolge und Form/Stil, spielen und singen als Anregung immer wieder ein paar Takte vor. Die Kinder treffen meist zielsicher die Entscheidung: „Ja, das hört sich gut an!“ oder fragen „Hast du noch eine andere Idee?“ So entsteht im engen kreativen Austausch Takt für Takt der neue Song und die Kinder können ihn dadurch auch als ihren eigenen annehmen. Manchmal braucht es nur eine einfache Kadenz, die wiederholt wird – denken wir an Bob Dylan’s „Knockin On Heavens Door“, das genau aus diesem Grund in schulischen Bandprojekten den Song der ersten Wahl darstellt – ihn können die jungen, angehenden Musiker nach ein, zwei Stunden spielen. Zu solchen und ähnlichen Akkordfolgen kann man mit dem Kind auch mit der Stimme improvisieren, indem man es einlädt, seine gefundenen Lyrics mit unterschiedlichen Melodien frei und spielerisch auszuprobieren. Auf diese Weise fiel es dem eher befangenen 12-jährigen Finn* leichter, in eine kreative Phase zu kommen. Er entwickelte aus einer vorangegangenen Übung für Sprechtechnik „Anna saß nah am Abhang“ beim Improvisieren mit der Akkordfolge C-G-F-G eine wunderschöne Melodie und spann eine poetische Geschichte weiter: „Anna saß nah am Abhang. Sie wollte sie könnt’ fliegen, um nah bei ihm zu sein, denn seit er nicht mehr da war, da war sie so allein …“. Je nach Alter der Kinder bleibe ich musikalisch orientiert an der klassischen Struktur des Kinderliedes (siehe „Juckepuck“) oder nehme wie bei Janas Ballade mit einer Bridge ein Stilmittel hinzu, welches einen musikalischen Kontrapunkt darstellt, in diesem Fall für Marens Wünsche und Hoffnungen, frei zu sein eine aufsteigende Melodieführung in Dur statt Moll. Das fertige Lied wird in den verbleibenden Therapiestunden gesungen (und gefeiert!), vielleicht mit Percussioninstrumenten erweitert, im Ausdruck (Dynamik, Tempo) verfeinert. Bei den jüngeren Kindern beziehe ich spätestens jetzt die Begleitpersonen, meist ein Elternteil, mit ein, um gemeinsam eine Aufnahme zu machen, mit dem Handy oder auch dem H1-Recorder, sodass eine CD erstellt werden kann. Der „Juckepuck“ ist ein sehr beliebtes Lied geworden. Jana sah ihn als grünen Drachen. Alle Kinder, die sich nach ihr in der Musiktherapie näher damit beschäftigen, dürfen ihre eigenen Vorstellungen vom „Juckepuck“ haben: Sie bekommen ein Blatt mit 8 leeren Rahmen für eine Bildergeschichte. Sie malen hier ihre Geschichte und machen so irgendwie dieses Lied stückweit zu etwas eigenem: Leonies* Juckepuck ist eine Biene mit orangeroter Struwwelfrisur, die krabbelt über ihren Arm. Leonie sieht sich wieder Fußball spielen, schießt ein Tor und ruft glücklich: „Jipih!“
Die Lieder können Sie anhören auf der Homepage der Alpenklinik Santa Maria unter:
https://youtu.be/Wg0bhLjC5yQ

Heft 36 (2019) ist erschienen!

Wem gehört die Musiktherapie?

Die Warnungen vor neuerlicher Ausuferung von Musiktherapie in außer­klinische Bereiche nehmen ebenso zu wie die Buchveröffentlichungen und wissenschaftlichen Hausarbeiten zu eben diesen: Musiktherapie in der Schule, in den sozialen Berufen, in der Heilpädagogik, in der Altenpflege... Die nächste MuG wird keine 2–3 Schwerpunktthemen-AutorInnen zu schreiben bitten, sondern etliche AutorInnen aus den verschiedenen Bereichen – und deren Berührungspunkten bzw. -flächen.