Editorial

Vom Augenblick zum Hörblick

Bitte – einen Augenblick! Unterbrechen Sie bitte Ihr Lesen dieser Zeilen und fragen Sie sich: Was höre ich gerade?
Und: Wie höre ich es? Im Vordergrund? Im Hintergrund?
Die kleine Zeit, die Sie eben um einen Augen-Blick gebeten wurden, führte zu einem Hör-Blick. Unserem
Hören, Ihrem Hören ist diese Ausgabe im Schwerpunktthema gewidmet.

 

Nehmen wir eine Vogelperspektive ein. Genauer: eine „Vogelauditive“. Dann seien wir am besten eine Taube. Die können neben Fledermäusen am besten hören. Auf der Erde sind besondere Hörer die Delfine und Elefanten…
Wie hört „es“ sich da oben auf dem Dachfirst oder Baumast?
Soundscape ist eine Hörkultur und damit Hörbewusstheit, die der kanadische Komponist und Pionier R. Murray Schafer seit den 1960er Jahren entwickelte. Soundscape untersucht die Prägung und Gestaltung der akustischen Räume oder Klanglandschaften von Orten, Städten, Biotopen. Heutzutage bis hinein in Hochschulen, Wohnräume, Gebäude, Klinik-Stationen, Patientenzimmer, Rüstungsindustriezentren. Wie klingen sie?
Wie klingt der Raum, in dem ich bin? Wie wirkt das Hören in mir? Wie klinge ich in mir? Allein. Oder wie klingt die Gegenwart meines Gegenübers. Oder in einer meiner sozialen Gruppen?
Zwischen Schädigung und Heilsamkeit weitet sich das Spektrum der Höreinwirkungen auf uns. Jeden einzeln, individuell.
Unsere gedachte Taube auf dem Dach hört in dieser Zeit aus einem geöffneten Fenster die Musik von Mutter-Kind-Stimmen, sie hört felsenharte Musik (rock = Felsen) auf Massenfestivals. Sie hört tranceinduzierende, manchmal gar transzendierende Musik in Konzert und Musiktherapie. Sie hört die Klänge der aktuellen Kriege – all das, was die Gegensätze unserer Welt vereinigt.
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Dem Schwerpunktthema „Vom Sinn des Hörens“ nähern wir uns in dieser Ausgabe durch zwei Wissenschaftlerinnen – aus ihrer sehr persönlichen „auralen“ (auris, lat. das Ohr) Wahrnehmung heraus. Der Beitrag unserer MuG-Mitherausgeberin Petra Jürgens erlaubt auch Teilhabe an ihrer schweren Krebserkrankungserfahrung – und dem sich verändernden Hören. Mit der Erfahrung der Musiktherapeutin und Hochschullehrerin ummantelt.
Wieder anders und nicht weniger auf persönlicher wie therapeutischer Erfahrung aufbauend der Beitrag von Waltraut Barnowski-Geiser.
Dem Hören einen Denkrahmen und logotherapeutischen Sinn gebend, schreibt der Psychiater und an einem Musiktherapie-Institut lehrende Jörg Zimmermann, indem er in die Logotherapie und existenzanalytische Psychotherapie von Viktor E. Frankl einführt – um den Sinn des Hörens in der Musik und Musiktherapie zu bedenken – und anzuwenden.
Hören – das Themenband zieht sich expressis verbis durch weitere Beiträge (von der Rubrik „Patienten-Interview“ angefangen bis zu der Rubrik der „Singenden Krankenhäuser“, die den Zusammenhang zwischen hörbaren Stimmen und Menschen mit chronischem Tinnitus gestaltet).
„Eigentlich“, im Eigentlichen, können wir niemals zu Musik und Therapie und ihren Psychologien etwas schreiben oder herausgeben oder lesen, was nicht mit unserem Hören als Reaktion auf Hörbares zusammenhängt.
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Die weiteren neuen Beiträge in den vertrauten Formaten unserer Rubriken mögen Ihre Neugier wecken oder erweitern, mit unserer Hörwelt, Ihrer Hörwelt beschäftigt zu sein.
Redaktionell entsteht jede MuG 8 km in Nachbarschaft von einem der größten europäischen Manövergebiete in Munster/Lüneburger Heide und dem Sitz des Rüstungskonzern Rheinmetall in Unterlüß.
Wir hören das Einschießen der Rohre von Leopard-Panzern, die uns das Hörbare unserer zitternden Fenster lehren. Wir hören die Hubschrauber über unserem Dorf, in denen ukrainische Piloten trainiert werden. Meistens allerdings nur einen Tag in der Woche.
Es gibt Mitmenschen, die in dieser Hörwelt 24 Stunden leben.
Und das zugehörige Gegenteil: Wir hören anders als je zuvor die Vogelwelt in dieser unerwartet vorfrühlingshaften Zeit. In unserem Teich badete vorhin eine Taube…

Ihr Hans-Helmut Decker-Voigt für den Herausgeberkreis (s. Impressum S. 46)