Musiktherapeutischer Klinikspaziergang
Musiktherapie am Landesbildungszentrum für Blinde in Hannover
Tabea Zimmermann
Wenn ich gefragt werde, was mir am meisten am Berufsfeld der Musiktherapie gefällt, antworte ich: die Vielfältigkeit. Es gibt so viele verschiedene Arbeitsfelder, so viele Möglichkeiten, die das Medium der Musik im therapeutischen Kontext bietet, und kein Tag ist wie der andere. Eines dieser Arbeitsfelder ist das Landesbildungszentrum für Blinde (LBZB) in Hannover. Dort habe ich, als Teil meines Masterstudiums der Musiktherapie, mein erstes musiktherapeutisches Praktikum absolviert und bin für mein abschließendes Praktikum, welches über zwei Monate ging und die eigenständige Anleitung von 60 Therapiestunden einschloss, zurückgekehrt. Auf den folgenden Seiten möchte ich Sie gerne dorthin mitnehmen und Ihnen einen kleinen Einblick in die musiktherapeutische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen mit Sehbeeinträchtigung und teilweise mehrfacher Behinderung geben.
Vorstellung des LBZBs
Das LBZB hat den landesweiten Auftrag für die Bildung, Ausbildung und die berufliche Rehabilitation von blinden und hochgradig sehbehinderten Menschen in Niedersachsen zu sorgen. Es ist eng vernetzt mit den vier Landesbildungszentren für Hörgeschädigte (LBZH) in Niedersachsen. Zu den Bildungszentren gehören sowohl Schulen, teilweise mit Berufsbildung, als auch Wohnangebote. Ziel ist die Unterstützung von Menschen mit Seh- oder Hörbeeinträchtigung und deren Familien ab dem Tag der Geburt auf dem Weg zu einem möglichst qualifizierten Bildungsabschluss. Darunter fallen beispielsweise Diagnostik, Beratung, Förderung, Bildung, Erziehung, Ausbildung und Rehabilitation von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. Das Team des LBZB ist multiprofessionell qualifiziert und ermöglicht so den Menschen mit Sehbeeinträchtigung eine umfassende und individuelle Förderung mit dem Ziel der gesellschaftlichen, inklusiven Teilhabe1.
Musiktherapie im LBZB
Die Musiktherapie im LBZB wird im Einzelsetting angeboten. In Zusammenarbeit mit dem Multidisziplinären Team der Einrichtung sowie im Austausch mit den Eltern werden Klient:innen gefunden, für die Musiktherapie sinnvoll erscheint. Die wöchentlich stattfindende Therapie ist ressourcenorientiert und sehr individuell, da sich die Klientel der Einrichtung, aufgrund von zusätzlichen Behinderungen neben der Sehbeeinträchtigung, auf sehr unterschiedlichen Entwicklungsstufen befindet. Je nach Klient:in variieren daher die Ziele. So liegt bei vielen der Fokus auf der Suche nach alternativen Kommunikationsmöglichkeiten, beispielsweise im Instrumentalspiel, mit der Stimme oder dem Körper als nonverbale Kommunikationsmittel, gerade für die Klient:innen, die sich (noch) nicht mit verbaler Sprache ausdrücken. In Bezug auf Menschen mit schwerer Behinderung, zu denen viele der Klient:innen in der Musiktherapie zählen, nennt der Sonderpädagoge Prof. Dr. Fröhlich2 die Störung der Kommunikation als die eigentliche Behinderung, weshalb das Finden alternativer Kommunikationsmöglichkeiten eines der wichtigsten Ziele ist. Fröhlich betont dabei, dass eine Kommunikationsstörung nicht allein einer Person zugeschrieben werden kann, da alle an der Kommunikation beteiligten Menschen, ob mit oder ohne Behinderung, von ihrem Nicht-Gelingen betroffen sind. Eine Kommunikationsstörung ist demnach etwas, was beide Kommunikationspartner:innen behindert2. In der Therapie steht die Beziehung zwischen Klient:in und Therapeut:in im Vordergrund, da diese die Basis für die therapeutische Arbeit darstellt. Der Musiktherapieraum lädt durch zahlreiche Musikinstrumente zum Mitspielen ein. So können im gemeinsamen Musizieren Spielfreude und Selbstvertrauen erlebt und Handlungsräume kreativ und spielerisch erweitert werden. Ein weiterer wichtiger Punkt ist das Erleben von Selbstwirksamkeit und Urheberschaft, indem sich Klient:innen als Urheber:innen der eigenen Klänge erfahren. Urheberschaft erleben blinde Kinder nur eingeschränkt, da sie in Interaktionen oft kaum bemerken können, ob Geräusche aus der Umwelt oder Äußerungen von Menschen als Reaktionen auf ihr Verhalten geschehen, oder unabhängig davon auftreten3. Gerade für Menschen, bei denen zu der Sehbeeinträchtigung noch weitere Behinderungen hinzukommen, ist das Erleben von Selbstwirksamkeit eine wichtige Erfahrung, die in vielen Bereichen nur eingeschränkt möglich ist4. In der Musik können außerdem Gefühle nonverbal zum Ausdruck gebracht werden. Dies kann sowohl im eigenen Spielen geschehen als auch im hörbar machen der Gefühle in der Musik, welche die Therapeutin für die Klient:innen spielt5. Mit Klient:innen, die weniger stark beeinträchtigt sind, wird viel mit der jeweils eigenen Lieblingsmusikrichtung gearbeitet. Wünsche nach bestimmten Liedern werden dabei als Ich-Botschaften gesehen, welche das ausdrücken, was die Klient:innen bewegt. So können sie Anhaltspunkte für Gespräche bieten sowie die Findung und Stärkung der eigenen Person unterstützen. Hier können beispielsweise psychische Folgen von Blindheit bearbeitet werden3. Insgesamt geht es bei der Musiktherapie im LBZB darum, sich individuell auf die Themen und Bedürfnisse der Klient:innen einzulassen, die ebenso vielfältig sind wie die Klient:innen selbst.
Fallbeispiel aus der Musiktherapie am LBZB (anonymisiert)
Leo (8 Jahre) hat einen Förderbedarf in den Bereichen Sehen, geistige Entwicklung und Sprache. Er ist mit Blindheit (er ist vollblind) und einer kombinierten Entwicklungsstörung diagnostiziert. Er zeigt Züge des Autismusspektrums und es liegt eine Echolalie vor (das Wiederholen von Wörtern oder Sätzen, die andere gesagt haben, statt beispielsweise einer Antwort auf eine Frage). Bisher ist keine wechselseitige Kommunikation möglich, er wiederholt eher echolalisch Wörter und Sätze. Sein passiver Wortschatz ist gut, der aktive bisher noch eingeschränkt. Der Musiktherapeutin wurde außerdem berichtet, dass Leo in der Schule kaum spricht (was sich auch in der Musiktherapie so zeigt), zu Hause würde er jedoch viel sprechen. Es entsteht die Vermutung, dass Leo einen entspannten und für ihn sicheren Raum braucht, um sich verbal zu äußern. Auf Vorschlag der Klassenlehrerin und Wunsch der Eltern wird er in die Musiktherapie aufgenommen.
In den Wochen, in denen ich die Therapie mit Leo übernehme, nehme ich die Ziele „Förderung von Kontakt- und Interaktionsfähigkeit“ sowie „Selbst- und Fremdwahrnehmung“ in den Fokus.
Erste Therapiestunden
Zu Beginn der Therapie ist Leo viel am Klavier. Einen großen Raum nimmt die Instrumentalimprovisation ein. Da mir berichtet wird, dass er sich zurückzieht, wenn jemand zu ihm an das Klavier kommt, nehme ich ein anderes Instrument (die Gitarre) und lasse ihm so Raum, öffne jedoch gleichzeitig die Möglichkeit für musikalischen Kontakt. Ich spiele auf der Gitarre die Töne, die Leo am Klavier spielt, nach. Als ich diese auch stimmlich aufnehme und zwei Töne nachsumme, summt er diese ebenfalls. Nach einiger Zeit fällt mir auf, dass Leo nicht nur Impulse gibt, sondern diese auch aufnimmt. Es entstehen musikalische Dialoge, bei denen wir abwechselnd spielen oder singen. Zwischendurch hört er konzentriert zu und ist dann ausgelassen und lacht, wenn meine Antworten kommen. Es ist hier eine Art der Kommunikation möglich, die nicht auf die verbale Ebene angewiesen ist und somit eine niedrigere Hemmschwelle für Leo zu haben scheint. An dieser Stelle möchte ich eine Therapiestunde im Detail beschreiben, um einen Einblick in die Arbeit und die Wirkweise der Musiktherapie zu geben.
Ausgewählte Therapiestunde
Es ist die dritte Therapiestunde, die Leo und ich gemeinsam haben. Leo geht, wie in der letzten Stunde, zu Beginn zum Klavier. Da er eine Hand zur Orientierung braucht, gebe ich ihm diese, lasse ihn jedoch entscheiden, wo er hingeht. Da er den Musiktherapieraum bereits seit einigen Monaten kennt, ist dies möglich. Sobald er angekommen ist, setzt er sich auf den Hocker und beginnt zu spielen. Nachdem ich ein Begrüßungslied gesungen habe (bei dem er einige Zeilen mitsingt), nehme ich Elemente seines Spiels mit der Gitarre auf. Zunächst scheint er noch sehr für sich zu spielen, mit der Zeit wirkt es jedoch so, als würde er meine Reaktion abwarten. Nach einiger Zeit legt er sich auf den Klavierhocker und ich gehe dazu über, ruhige Akkorde auf der Gitarre zu spielen, um mich seiner Stimmung anzupassen. Nachdem ich eine Weile zu der Gitarre singend improvisiert habe, beginnt Leo ebenfalls zu singen. Zunächst nimmt er die Terz aus den letzten beiden Stunden auf, die ich in die Improvisation mit einfließen lassen habe. Dann fängt er an, laut und mit Elan zu singen, was ich in mein Gitarrenspiel und meinen Gesang aufnehme. Es folgt eine Improvisation zu zweit, bei der Leo schließlich seine hohe Stimmlage entdeckt und viel Freude daran zu haben scheint, hohe Töne zu singen und ebenfalls hohe Töne von mir zurückzubekommen. Das geht einige Minuten hin und her, während er freudig lacht. Nachdem die Improvisation ein Ende gefunden hat und es eine kurze Pause gibt, sagt er: „Der Leo macht immer…“, beendet den Satz jedoch nicht. Ich frage „Leo macht immer?“ Seine Antwort: „Leo macht immer“ und er singt daraufhin wieder hoch. Ich sage: „Tabea macht immer“ und singe tief. Das wechselt sich ein paar Mal ab, dabei gehe ich dazu über, auf der Gitarre zu spielen. Dann sagt Leo: „Der Tabea macht immer“ [sic] und wartet. Ich spiele auf den unteren Saiten eine chromatische Leiter von hoch nach tief. Dies wiederholen wir, während Leo den Satz mal schnell am Stück, mal in Silben getrennt sagt, worauf ich rhythmisch bei meinem Spiel eingehe. Dann fl üstert er den Satz einige Male und ich spiele jedes Mal leise die Leiter von hoch nach tief. Schließlich sagt er: „Leo macht immer“ und spielt ebenfalls eine chromatische Leiter auf dem Klavier (mit einigen fehlenden Tönen dazwischen). Etwas später lässt sich Leo auf den Boden sinken. Daraufhin sage ich: „Du kannst dich natürlich auch auf den Boden setzen.“ Und als er sich über den Teppich in meine Richtung schiebt, sage ich: „Kommst du zu mir auf den Boden?“, was er bejaht. Ich weise ihn darauf hin, dass hier die Gitarre liegt und er erforscht diese ein wenig, indem er sie abtastet und die Saiten anspielt. Auch hier entsteht ein kurzes Wechselspiel zwischen uns, bevor er wieder an das Klavier geht und für die letzten fünf Minuten dort spielt. Bei der Verabschiedung wiederholt er nicht wie sonst üblich im Sinne seiner Echolalie meine Verabschiedung: „Tschüß Leo“ sondern antwortet selbst mit „Tschüß!“.
Heute wird sehr deutlich, wie Leo Impulse von mir aufnimmt und darauf antwortet, sodass Interaktion stattfindet: Ich reagiere auf ihn und er auf mich. Insbesondere im Aufnehmen von „Leo/Tabea macht immer“ und der chromatischen Leiter auf dem Klavier kann dies beobachtet werden. Heute begegneten wir uns nicht nur auf der musikalischen Ebene, sondern benannten das jeweilige Gegenüber auch. Gleichzeitig gibt Leo in der Interaktion auch selbst vermehrt neue Impulse, auch auf sprachlicher Ebene (z.B. „Leo macht immer“). Als Leo mit diesem Satz beginnt, nutze ich die Möglichkeit, um mich als sein Gegenüber ebenfalls zu benennen. Neben der musikalischen und verbalen Ebene findet heute außerdem eine Annäherung im Raum statt, als Leo sich auf den Boden setzt und in meine Richtung rutscht. Auf musikalischer Ebene zeigt sich diese Annäherung auch, als er das Instrument ausprobiert, das ich bisher gespielt habe, die Gitarre. Ich habe den Eindruck, dass Leo mehr Vertrauen zu mir aufbaut und dementsprechend auch neben der musikalischen Ebene auf anderen Ebenen Kontakt aufbaut. Ich erinnere mich dabei an die erste Stunde, in der er am Klavier saß und ich bewusst nur über die musikalische Ebene Kontakt angeboten habe, sodass er über die letzten Stunden hinweg stets selbst entscheiden konnte, wie nah und auf welcher Ebene eine Annäherung und ein Beziehungsaufbau stattfand, während ich mich als offenes Gegenüber bereit für den Aufbau einer therapeutischen Beziehung gezeigt habe. Da die therapeutische Beziehung ein wichtiger Wirkfaktor in der Musiktherapie ist, ist diese Entwicklung sehr wertvoll6.
Der Fokus auf dem Dialog und dem Wahrnehmen des Gegenübers aus dieser Stunde schien sich in der Verabschiedung widerzuspiegeln, als ich auf mein übliches „Tschüß Leo“ nicht eine Wiederholung, sondern eine Antwort erhielt: „Tschüß“.
Therapiestunden der darauffolgenden Wochen
In den folgenden Therapiestunden findet sowohl sprachlich als auch in Leos Verhalten in der Musiktherapie eine deutliche Entwicklung statt. So spricht er z.B. den ersten eigenständigen Satz in der Musiktherapie: Als Reaktion auf eine Improvisation auf der Djembe sagt er: „Das war aber laut“. In der darauffolgenden Therapieeinheit findet der erste wechselseitige Dialog auf verbaler Ebene statt. Leo fragt dabei nach den Metallstäben, die er innerhalb der Cajon ertastet hat: „Was ist das?“ „Das sind Metallstäbe, die lassen die Cajon ein bisschen scheppern“, antworte ich. „In der Mitte“, sagt Leo und ich bestätige: „Ja genau, in der Mitte der Trommel“. Leo wirkt außerdem mit jeder Stunde freier und mutiger im Vergleich zu den ersten Musiktherapiestunden, in denen ich ihn kennengelernt habe. Er bewegt sich zu neuen Stellen im Musiktherapieraum, stellt aus sich heraus Fragen und probiert ohne Aufforderung ein neues Instrument (das Monochord) aus, das er durch sein Erkunden des Raumes entdeckt hat.
Kleine Ausblicke in andere Therapien (anonymisiert)
Das Fallbeispiel von Leo hat einen Ausschnitt aus einem Therapieverlauf eines Kindes am LBZB in der Musiktherapie gezeigt. Hätte ich ein anderes gewählt, wäre der Blick auf andere Entwicklungsverläufe und musiktherapeutische Arbeitsweisen gefallen. Das Fallbeispiel hätte auch von einem vierzehnjährigen Mädchen handeln können, das mit Hilfe der Methodik des therapeutischen Songwritings Themen wie das Leben mit Sehbeeinträchtigung, ihre Wut, oder ihre Liebe zu ihrer Familie in der Musiktherapie bearbeitet. Es hätte beschrieben werden können, wie ein schwer mehrfachbehinderter Junge große Freude zeigt, wenn er mit der wenigen Bewegung, die ihm mit einem seiner Arme möglich ist, die Gitarre zum Klingen bringen kann. Genau das, die Vielfältigkeit der Möglichkeiten des Mediums Musik, ist eine der großen Stärken der Musiktherapie.
Tabea Zimmermann
Musiktherapeutin (MA) und staatlich anerkannte Heilpädagogin (BA). Musiktherapeutisch tätig im Cochlear Implant Centrum Wilhelm Hirte und auf der Kinderstation der Medizinischen Hochschule Hannover.
1 LBZB – Landesbildungszentrum für Blinde (LBZB) (o.J.). Wir über uns. [Online] abgerufen am 13.12.2024, von: https://www.lbzb. niedersachsen.de/startseite/wir_uber_uns/
2 Fröhlich, A. (2010). Communico – Communico (lat.): Gemeinsam machen, mitteilen, teilnehmen lassen. In: Maier-Michalitsch, N.J., Grunick, G. Hrsg. (2010). Leben pur – Kommunikation bei Menschen mit schweren und mehrfachen Behinderungen. (S. 12–24). Düsseldorf: Verlag Selbstbestimmtes Leben.
3 Wrogemann-Becker, H. (2021). Sehbehinderung – Blindheit. In: Decker-Voigt, H.-H., Weymann, E. Hrsg. (2021). Lexikon Musiktherapie. (S. 565–568). 3. Vollständig überarbeitete und erweiterte Aufl age. Göttingen: Hogrefe Verlag.
4 Reimer, S. (2016). Affektregulation in der Musiktherapie mit Menschen mit schwerster Mehrfachbehinderung. Wiesbaden: Dr. Ludwig Reichert Verlag.
5 Meyer, H. (2009). Gefühle sind nicht behindert: Musiktherapie und musikbasierte Kommunikation mit schwer mehrfach behinderten Menschen. Lambertus-Verlag, ProQuest Ebook Central, https://ebookcentral.proquest.com/lib/thhfriedensau/detail.action?docID=5476310.
6 Lutz Hochreutener, S. (2021). Praxeologie. In: Decker-Voigt, H., Weymann, E. Hrsg. (2021). Lexikon Musiktherapie. (S. 498–504). 3. Vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage. Göttingen: Hogrefe Verag.