Zum Mitmachen
Kleine Hilfen mit Atem, Bewegung und Stimme
Sabine Rittner
„Der Mensch wird am Du zum Ich.“ Stimmsolo mit Resonanzantwort aus der Gruppe
Mit dem Titelzitat von Martin Buber (1923) möchte ich Sie einladen zu einem von mir bereits Anfang der 80er Jahren entwickelten Stimmimprovisationsprozess, der mich seither in meiner Seminar- und Therapiegruppenarbeit begleitet. Es handelt sich um einen ausführlichen, ritualisierten stimmlichen Spiegelungsprozess, der die Gemeinschaft als Resonanzraum nutzt. Dazu sollten mindestens fünf Personen oder mehr anwesend sein. Die maximale Anzahl beträgt etwa zwölf Personen, alles darüber hinaus würde den Prozess zu langwierig und anstrengend machen.
Sollte keine Gruppe zur Verfügung stehen, so lassen sich die ersten Schritte der tönenden Stimmungserkundung bis zum Stichwort „Gruppenresonanz“ gut alleine ausführen, auch wenn dann auf die Resonanzantwort der Gemeinschaft leider verzichtet werden muss. Die Reflexionsfragen können in diesem Fall für sich selbst schreibend beantwortet werden.
Was Sie benötigen
– Einen sicheren, gut geschützten Raum,
– die eigene Stimme,
– eine wohlklingende, mittelgroße Klangschale.
Die Teilnehmer:innen sitzen im Kreis, auf Stühlen oder Sitzkissen. Die Dauer der Sequenz ist abhängig von der Gruppengröße: pro Person sollten mindestens 8–10 Minuten Zeit zur Verfügung gestellt werden + ganz am Ende eine Zeit in Stille fürs Notizenmachen + erst danach Zeit für verbales Einzelfeedback + Zeit für die Nachbesprechung in der Gruppe. Für eine Gruppe von beispielsweise 5 Teilnehmer:innen würde ich nicht weniger als 75 Minuten veranschlagen.
Eingangsfrage
Gelegentlich fordere ich am Beginn dazu auf, sich kurz zu überlegen, was man als Teilnehmende:r in einer verbalen Befindlichkeitsrunde jetzt eigentlich mitteilen würde – ohne dies jedoch auszusprechen. Dann gebe ich folgende Frage in den Raum: „Was ist JETZT – wie bin ich jetzt da – was möchte in diesem Augenblick gehört werden?“ Ich erläutere, dass das, was sich stimmlich gleich entfalten wird, nicht planbar oder gar innerlich vorab komponierbar ist. Es darf spannend sein, sich überraschen zu lassen von dem, was aus der Tiefe des Augenblicks heraus geboren werden und seine Stimme erheben will.
Demo
Bei dieser Stimimprovisations-Sequenz fange ich als Leiterin ausnahmsweise an, gebe als Protagonistin ein ausführliches Klangbeispiel, um den Ablauf zu veranschaulichen, den Rahmen abzustecken und den Möglichkeitsraum für die freie, sehr behutsam sich entfaltende, improvisatorische Stimmäußerung „ohne Netz und doppelten Boden“ zu öffnen. In mein eigenes, absolut authentisches Erkunden und Entfalten des beispielhaften Stimm-Prozesses gebe ich mitten hinein verbal und nonverbal wenige, kurze Erläuterungen zum Ablauf.
Wichtig ist, folgendes Erkennungszeichen für das Einsetzen der stimmlichen Resonanz der Gruppe zu verabreden: Sobald die Solo-singende Person eine von ihr gefundene Tonfolge deutlich erkennbar mehrfach wiederholt, setzt die Gruppe mit ein, greift auf, schwingt sich ein auf den Rhythmus, wiederholt und erweitert dann nach und nach behutsam die angebotene Melodie, reichert sie an, ohne ihre Stimmung, ihre besondere Qualität, ihren Charakter zu sehr zu verändern.
Nachfolgend möchte ich Sie jetzt ansprechen, als wären Sie die erste Teilnehmerin/der erste Teilnehmer der Gruppe, die/der mit ihrem/seinen Stimmbeitrag beginnt.
Ablauf
– Solo:
Schlagen Sie die Klangschale, die vor Ihnen steht, an. Damit „öffnen Sie den Vorhang“ für Ihren ganz eigenen Raum des stimm-klanglichen Erkundens und Entdeckens.
– Im Verklingen beginnen Sie damit, Ihren Ausatem hörbar zu machen und mit ihm alle Geräusche emporsteigen lassen, die jetzt entstehen möchten: Seufzen, Hauchen, Stöhnen, Ächzen, Säuseln, auch stimmlose Konsonanten…
Falls ihre Arme, Schultern, Kopf… sich dabei leicht mitbewegen möchten, lassen Sie es zu.
– Diese Atemgeräusche gehen allmählich über in leises Tönen, in eine explorierende Vokalisation auf angenehmer Tonhöhe, es entstehen Klänge mit stimmhaften Konsonanten und Vokalen. Öffnen Sie dabei den Mund, lassen Sie die Zunge und den Unterkiefer sich mitbewegen.
– Lauschen Sie staunend, neugierig, was da emporsteigt, was gehört werden möchte. Nach und nach entdecken Ihre Klänge einen weiten Tonraum – von tief unten im Körper bis weit hinauf.
– Aus all dem bis jetzt Gehörten und Gespürten kristallisiert sich allmählich eine Tonfolge heraus, eine kleine Melodie, und Sie pflücken diese staunend – wie eine Blüte auf einer Frühlingswiese –, indem Sie sie aufgreifen und wiederholen. Mögen es nur drei wiederkehrende Töne sein oder eine Vielfalt an Tönen. Aus dem Augenblick geboren schält sich immer deutlicher Ihre Melodie heraus, ihr ganz eigenes, kleines Lied. Manchmal mögen sich auch Laute oder Worte zu der Melodie dazugesellen, lassen Sie sich überraschen. Ganz von alleine hat sich auch ein passender Rhythmus gefunden. Wiederholen Sie Ihre Melodie einige Male, singen Sie sie nach und nach deutlicher, kraftvoller.
– Gruppenresonanz:
Dies ist nun das zuvor verabredete Erkennungszeichen für die Gruppe, die von Ihnen angebotene Melodie behutsam aufzugreifen, sie mitzutönen, sich von ihr ergreifen zu lassen. Die Gruppe wird versuchen, Ihre Melodie in Ihrer ganz eigenen Stimmung und Ausdrucksweise zu wiederholen, um sie dann nach einer Weile mehr und mehr auszubauen, zu erweitern, zu vergrößern. Vielleicht werden weitere Stimmen hinzugefügt, vielleicht Variationen mit eingebaut, die jedoch der Stimmung Ihres Liedes immer noch gerecht zu werden versuchen. Spüren Sie, ob Sie weiterhin mittönen möchten oder ob sie aufhören zu singen, um dieses Resonanzgeschenk der Gruppe lauschend und staunend noch intensiver aufnehmen zu können. Wie weit können Sie diese Klangantwort an sich heranlassen, sich von ihr berühren lassen: bis in Ihren Außenraum, bis an Ihre Kleidung, bis unter die Haut oder bis tief in Ihren Herzraum hinein?
Trauen Sie sich, dieses Geschenk wirklich anzunehmen?
– Nachklang:
Erst wenn es angekommen ist, wenn Sie wirklich „gesättigt“ sind, wenn es genug ist, erst dann geben Sie die Klangschale anschlagend das Zeichen, so dass der Gesang verklingt und der „Vorhang sich wieder schließt“. Genießen Sie den Nachklang und warten Sie einen Moment ab, bevor Sie die Klangschale an die nächste Person weitergeben. In diesem Übergang lassen Sie sich Zeit, nachzuspüren.
Reflexionsfragen
– 1. Was hat mir meine Stimm-Improvisation „erzählt“, was habe ich über mich erfahren? Habe ich etwas Neues entdeckt, vielleicht sogar etwas Überraschendes preisgegeben?
– 2. Konnte ich den Resonanzgesang der Gruppe lauschend „nehmen“, mich von ihm berühren lassen? Fühle ich mich gehört, gemeint, verstanden von der Gruppe? Konnte ich den Resonanzgesang bis tief in meinen Herzraum hinein schwingen, mich von ihm „nähren“ lassen?
Oder bin ich beim geschäftigen Machen geblieben, habe mich abgelenkt, alt bekannte Melodiepatterns abgerufen? Habe ich mich verschlossen, weil es mir vielleicht zu viel Exponierung war, zu nah wurde?
– 3. Was hätte ich in einer verbalen Befindlichkeitsrunde über mich berichten wollen? Und was hat sich von mir stattdessen nonverbal gezeigt und stimm-klanglich mitgeteilt?
„Der Mensch wird am Du zum Ich.“
(Martin Buber, 1923)
Methodische Hinweise für Musiktherapeut:innen
– Es handelt sich um eine sehr intensive Intervention, die auf der fachlichen Basis von viel Stimmimprovisationserfahrung und therapeutischer Sorgfalt begleitet werden sollte.
– Diese Sequenz beinhaltet verschiedene Tiefungsebenen und ist im therapeutischen Setting entsprechend unterschiedlich einsetzbar: von musikalisch-spielerisch übend, zur erlebniszentrierten Ebene des Verbundenheitsgefühls in der Gemeinschaft bis hin zur konfliktzentrierten Ebene mit dem Evozieren von Erfahrungen des Mangels oder auch des Nachgenährt-Werdens bei fehlender früher Spiegelung in sicherer Bindung.
– Mit ihr lässt sich in ein- und demselben Gruppensetting auf verschiedenen Ebenen gleichzeitig arbeiten. Von einem Teilnehmer mag der Ablauf vielleicht als eine nette, spielerische, musikalische Nachahm-Übung erlebt werden, während es für eine andere Teilnehmerin tiefste, schmerzhafte, mangelnde Spiegelungs- und Bindungserfahrungen an die Oberfläche spült und – ohne verbalisiert werden zu müssen – im stimmlichen Resonanzprozess sogleich heilsam wandelt.
– Als Anleitende:r empfehle ich, nicht ständig reinzusprechen in das Geschehen, sondern mittönend mit der eigenen Stimme und Präsenz den Raum zu halten und durchaus auch mitzugestalten.
Folgende Ausnahmen gibt es allerdings:
– Falls ein:e Teilnehmer:in meint, ganz schnell „etwas abliefern“, eine bekannte Melodiefloskel reproduzieren zu müssen, erlaube ich ihr/ihm, sich nochmals Zeit zu lassen, zu lauschen, zu erspüren, was darunter wirklich gehört werden möchte.
– Wenn ich während des Prozesses höre, dass sich die improvisierten Stimm-Gesänge von einer zur nächsten Person floskelhaft wiederholen, wenn sich die Beiträge „festrasten“ in Patterns oder Maschen, auch dann greife ich behutsam ein und fordere auf, sich nochmals Zeit zu nehmen, um das ganz Eigene zu erspüren, zu erlauschen und sich ausdrücken zu lassen.
– Ebenso interveniere ich, wenn die Gruppe übereifrig nach allerersten klingenden „Gehversuchen“ der Person, die an der Reihe ist, ungeduldig vorschnell mittönt. In solch einem Fall bremse ich den Eifer und fordere auf, sich in Geduld zu üben und dem Suchprozess der tönenden Person noch mehr Raum zu geben.
– Es ist sowohl möglich, dass die Solo-Person nach dem Einsetzen des Gruppengesanges weiterhin mitsingt, als auch, dass sie ihren Gesang beendet, um lauschend besser aufnehmen zu können, was zurückschwingt, was ihr klanglich gespiegelt wird von der Gruppe.
– Es lässt sich feststellen, dass die Solo-Sänger:innen nach der ersten Aufregung recht schnell mit geschlossenen Augen in innerliche Stimm-Trance-Suchprozesse eintauchen. Die auf das vereinbarte Zeichen hin einsetzende Gruppe lenkt diese Wahrnehmungsveränderungen wieder in den Raum hinein, in den Kontakt, manchmal hin zu einer stimminduzierten Gruppentrance, bei der gemeinsam die Zeit vergessen wird.
– Es gibt Runden, in denen viele Tränen des Angerührtseins und des Schmerzes fließen und andere wiederum in der ansteckende Freude, Heiterkeit und Beschwingtheit sich breit machen.
– Ich empfehle, die Klangschale reihum im Kreis weiterzugeben. Wichtig ist dabei, dass das Weitergeben der Klangschale möglich ist, wenn man sich noch nicht bereit fühlt für diese (nur am Beginn) etwas aufregende Exponierung.
– Es ist aber auch möglich, Zeichen der Bereitschaft abzuwarten, dass jemand anderes aus der Gruppe weitermachen möchte und dazu die Klangschale aktiv zu sich holt. Ich bevorzuge die erste Variante. Eine Wahlmöglichkeit kann den ausgiebigen Prozess, der von allen Beteiligten viel Konzentration erfordert, manchmal unnötig zäh werden lassen und in die Länge ziehen.
– Für die Arbeit im Freien in der Natur ist dieser intensive Selbsterfahrungs-Stimmprozess definitiv nicht geeignet. Es braucht dafür einen geschützten, sicheren, möglichst vertrauten Raum und einen ausgiebigen Zeitraum.
– Wundern Sie sich nicht, wenn die Teilnehmenden am Ende dieser intensiven Stimm-Resonanz-Sequenz sehr berührt, in der Tiefe genährt, vielleicht aufgewühlt, aber auch wohlig erschöpft sind. Es empfiehlt sich, im Anschluss eine Pause in Stille zu lassen.
„Welche Bedingungen müssen erfüllt sein, damit wir in Therapien lernen können – als Patient oder Patientin ebenso wie als Therapeut oder Therapeutin? Wir benötigen zuvorderst reale und gefühlte Sicherheit. Dies ist, wie uns die Bindungstheorie lehrt, die Voraussetzung dafür, dass wir explorieren und lernen können. Emergente Prozesse entstehen on the edge of chaos (Galatzer-Levy), wenn wir, mit der nötigen Sicherheit im Rücken, Altes aufgeben und Neues wagen wollen. Wie entscheidend wichtig hierbei die spontane, implizite Begegnung zwischen Patientinnen, Patienten und Therapeutinnen und Therapeuten ist, verdeutlicht Eckhart Neumann (…). Dabei lässt er keinen Zweifel daran, dass diese Begegnungen vor allem unwillkürliche resonant-korporale, also »Leib-Begegnungen« sind (…).“ (aus dem Vorwort von M. Naumann-Lenzen zu E. Neumann, 2023).
Literaturtipps
Rittner, Sabine (2021). Vokale Musiktherapie. In Decker-Voigt et al. (Hrsg.): Lexikon Musiktherapie. Göttingen: Hogrefe.
Rittner, Sabine (2008). Der Wirkfaktor Stimme in der Psychotherapie / in der Musiktherapie. In Musiktherapeutische Umschau, Themenheft „Die Stimme im therapeutischen Dialog“, Bd. 29, 3/2008, S. 201–220. Göttingen: Vandenhoeck & Rupprecht.
Buber, Martin (1923). Ich und Du. Ditzingen: Reclam.
Neumann, Eckhart (2023). Resonanz und spontane Entwicklung in der Psychotherapie. Gießen: Psychosozial-Verlag.
Sabine Rittner
ist Musikpsychotherapeutin, Atem- und Stimmtherapeutin, approbierte Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin, Psychotherapeutin (HP), Hypnotherapeutin, IFS- und Traumatherapeutin mit Spezialisierung in der Arbeit mit veränderten Bewusstseinszuständen und körperorientierter Therapie. Sie war 30 Jahre lang tätig am Institut für Medizinische Psychologie der Universitätsklinik Heidelberg (Lehre, Psychotherapie, Bewusstseins- und Musiktherapieforschung). Sie arbeitet weiterhin in eigener Praxis (Therapie, Supervision, Coaching, Lehrtherapien), leitet Seminare, bildet aus, hält Vorträge und tritt international in Kunst-Performances auf. Umfangreiche Forschung und Publikationen zu den Themenkomplexen Bewusstseinsforschung – Klang – Trance – Stimme – Musiktherapie – Depression.
Weitere Informationen: www.Sabine-Rittner.de