Praxisvorstellung

sana via

Ein Name – ein Klang – eine Melodie – eine Lebensphilosophie – ein Institut

Von Marianne Wiltgen-Sanavia

 

Stellen Sie sich bitte kurz vor.

Ich bin 54, der Klang meines Mädchennamens verrät meine italie­nischen Vorfahren, ich bin Luxemburgerin, seit 33 Jahren verheiratet, Mutter von vier erwachsenen Kindern und stolze Großmutter von zwei Enkeltöchtern.


Welche Situation Ihres musiktherapeutischen Berufslebens lag vor der Eröffnung Ihrer ambulanten Praxis?

Eine ambulante Praxis war 1996 mein Einstieg in das musiktherapeutische Berufsleben. Die feste Anstellung an einem luxemburgischen Konservatorium erlaubte mir, die Praxis aufzubauen, ohne den Druck, davon leben zu müssen. Sich in diesem Bereich in Luxemburg selbstständig zu machen, war und ist immer noch Pionierarbeit. Den Beruf „MusiktherapeutIn“ gibt es noch nicht. Administrative Hürden gehören zu meinem Alltag, aber ich wollte es von Anfang an „richtig“ machen, mir nicht erlauben, „so ein bisschen rumzumachen, zu probieren“. Meine musiktherapeutische Arbeit bedurfte der Anerkennung. Das bedeutete natürlich erstmal einen persönlichen Identitätsprozess. „Ich bin Musiktherapeutin“, kam mir nicht leicht von den Lippen. Scheu, Angst vor meiner eigenen Courage, Selbstzweifel. Kann ich das schaffen?

 


Wie sind Sie zu dem Beruf der Musiktherapeutin gekommen?

Musik ist mein Lebenselixir, sie ist meine Kindheit, meine Jugend. Das Chorsingen brachte mich mit meinem Mann zusammen, Hausmusik, Familienorchester, -chor trägt unsere Familie. Diese Familienmusik, wie für mich interessante Musik sowieso, erklingt konsonant und dissonant, hat unglaublich viele Zwischentöne. Sie lässt Traditio­nen barock, klassisch, romantisch, und Aktualität modern, zeitgenössisch, jazzig hörbar werden. Diese Musik ist mein Boden, der mich nährt, auf dem ich gewachsen bin und noch immer wachse und auf dem viel ausgehalten werden kann.
Kurz nach meinem Abitur fiel mir ein kleines Büchlein über Musiktherapie von Juliette Alvin in die Hände. Ich war fasziniert. Medizin oder Musik hätte ich studieren wollen. Musiktherapie verbindet beides. Ich war damals schon sehr im Musikstudium involviert. Meine Suche nach Ausbildungsmöglichkeiten für Musiktherapie zu dem damaligen Zeitpunkt, Mitte der 70er Jahre, war nicht sehr erfolgreich, wenig vertrauenerweckend. Ich vertiefte mich erstmal in das Studium am Conservatoire de Musique in Metz. Ich schloss das Geigenstudium nebst musiktheoretischen Fächern 1979 ab. In Luxemburg absolvierte ich die Ausbildung zur Chorleiterin. Ich musizierte im Kammerorchester, kleine Tourneen, viele Konzerte in Frankreich, Luxemburg, Deutschland, ich lernte das Musikerleben kennen und – nicht wirklich lieben. Ich bekam einen erst noch bescheidenen Lehrauftrag am gleichen Konservatorium in Luxemburg, an dem auch ich groß geworden bin und unterrichtete ein paar Geigenschüler. Der Auftrag wurde erweitert, ich leitete den Schulchor und bildete Chorleiter aus. Mit der Geburt unserer vier Kinder wurde uns klar, unsere Priorität war die Familie. Ich gab das Kammerorchester auf und stellte fest, dass Geige unterrichten, ohne als Lehrerin Zeit zum Üben zu haben, nicht für mich stimmte. Ich kündigte den Instrumentallehrauftrag, behielt die Chorleitung und die Chorleiterschüler und beschloss, mich neu zu orientieren. Das Leben führte mich mit einer Lehrtherapeutin für Musiktherapie am FPI zusammen, und ich hatte gefunden, was mir den in mir immer noch schlummernden Plan, Musiktherapie zu studieren, verwirklichen half. Nach sieben Jahren berufsbegleitender Ausbildung erhielt ich die Graduierungsurkunde. Mit dem Abschluss der Behandlungsstufe und der Fertigstellung des Musikraums auf dem alten Heuboden des Bauernhofes, den wir renovierten, stand dem Einstieg in die neue Arbeitswelt nichts mehr im Wege, dachten wir.


Erzählen Sie bitte von den Rahmenbedingungen und der Konzep­tion ­Ihrer Praxis.

Eine musiktherapeutische Praxis, MusiktherapeutIn... das gibt es? In der Liste der gesetzlich geregelten Gesundheitsberufe ist die Berufsgruppe nicht zu finden. Mir schwante, was Pionierarbeit bedeutet. Es galt also zu erfinden, was noch nicht ist (in Luxemburg). Den Heilpraktiker kennt Luxemburg auch nicht. Therapie ist den Ärzten vorbehalten. Den Rahmen, den ich schließlich ohne mit dem Gesetz in Konflikt zu kommen, definieren konnte, war Prophylaxe, Rehabilitation, Förderung, Beratung, Begleitung. Ich wurde als musiktherapeutische Beraterin eingetragen. Diese formale Struktur half mir, mich selber ernst zu nehmen und diese neue Identität Schritt für Schritt zu integrieren.
Der Musikraum wird sehr schnell nicht nur Praxisraum, sondern Probe-, Versammlungs-, manchmal Aufnahmeraum, Konzert- und Festsaal. Die Familie erobert ihn, jeder auf seine Art. Die Vielfalt, die Synergien beleben die musiktherapeutische Praxis sehr. Der Geist und die Atmosphäre, die sich entwickeln, werden für jeden spürbar, der Raum wirkt an sich, ist Co-Therapeut. Die Instrumente zeugen von den musikalischen Aktivitäten der verschiedenen Mitglieder der Familie, der multikulturellen Neugier, der Experimentierfreudigkeit aller Benutzer des Raumes. Es gibt genügend Stauraum, um ihn entsprechend meiner Klienten einrichten zu können. So arbeite ich mit einer vielfältigen Klientel, entwicklungsgestörten, verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen, Erwachsenen, die neue Impulse für ihr persönliches Wachstum oder neue Wege in Lebenskrisen suchen. Die Mund zu Mund Propaganda läßt die Praxis sich füllen. Sich mit Musik helfen zu lassen, zu einem Ausdruck zu finden, der sprachlich noch nicht, nicht mehr oder für gewisse Dinge nicht möglich ist, spricht viele Menschen an.  Mit dem Erwachsenwerden meiner Kinder, wachse auch ich als Musiktherapeutin. Ich löse mich mehr und mehr aus dem musikpädagogischen Feld. Die Kinder ziehen erstmal aus, es entsteht neuer Raum in allen Hinsichten, zuviel an Platz, zuwenig an Input, das Konzept stimmt nicht mehr. Wir gründen das „sana via In­stitut“.
Zehn Jahre Praxis neben intensiver pädagogischer Tätigkeit: Potentiale haben sich entwickelt, Ressourcen sind verfügbar. Ich kündige die Lehraufträge, werde für zwei Jahre Bauleiter. Wir arbeiten ein integratives Wohn-, Arbeits-, Lebenskonzept aus. Der ehemalige Bauern­hof wird Wohnhof. In den alten Kuhställen entstehen fünf Wohnungen. Nachdem unsere Pferde wegen Allergie in den Außenbereich umgezogen sind, wird aus dem Pferdestall eine traumhafte Wohnung, in der mein Mann und ich alt werden möchten. Im alten Haus wird Wohngemeinschaft gelebt. Unsere Kinder, die noch nicht definitiv sesshaft sind, haben dort eine Bleibe und teilen mit Mietern, (z. Z. eine­ junge Familie mit zwei kleinen Kindern) Küche und Wohnzimmer. Die älteste Tochter nistet sich mit ihrer jungen Familie in einer der Wohnungen ein. Die zwei Enkelinnen sind eine Wonne. Zum Musikraum kommt ein zweiter Raum dazu, welcher als Arbeits-, Ess, Versammlungsraum nutzbar ist. Mein Mann, leidenschaftlicher Hobbykoch, leistet sich seine Traumküche mit Holzherd, „wie früher“, und bereitet seinen Ruhestand vor. Mauern sind eingerissen worden, viel Licht durchströmt die Räume. Wir möchten auch das Fenster Musiktherapie weiter öffnen. Musik erfüllt diesen Ort. Andere künstlerische Medien sollen noch stärker, ... ja, was ausdrücken? Auf der Suche nach einem Namen für ein Institut wird auf einmal mit dem Klang und der Melodie meines Mädchennamens, „Sanavia“, (im Doppelnamen immer getragen), dessen Bedeutung und fast Programm für uns hörbar. Sana via heißt „gesunder Weg“. Darauf war ich immer schon stolz. Eigentlich ist er uns ein Lebensmotiv, ein Leitfaden. Das ist es doch, was wir schaffen wollen. Einen Ort, Bedingungen, Angebote, Möglichkeiten, wo durch inspirierende Begegnungen, Beziehungen, Austausch, die Suche nach dem gesunden Weg ermöglicht, stimuliert, gefördert, gestaltet werden kann.


Was finden Menschen im sana via In­stitut? Nach welchem Konzept wird gearbeitet?

2009 wurde das sana via Institut eingeweiht. Ein integratives Konzept bettet die musiktherapeutische Praxis ein in Seminarangebote mit verschiedenen, sich ergänzenden Ansätzen, Gastdozenten und -therapeuten aus In- und Ausland. Interessante Menschen, die etwas zu sagen haben, laden wir zu Konferenzen und Gesprächsabenden ein, stellen eine intime Plattform bereit für junge Künstler und Kleinkunst-Performance. Unsere Hauskonzerte werden offener gestaltet. TeilnehmerInnen werden verwöhnt mit den Kochkünsten des Hausherrn. Die Islandpferde sind sehr beliebt bei Groß und Klein, die Hunde erfüllen ihre Aufgabe als Wächter und die Katzen halten den Bestand an Mäusen in Schach. In Schwebach, dem kleinen 60 Seelendorf in sehr ländlicher Gegend im Nordwesten Luxemburgs, ist der große Garten eine Selbstverständlichkeit. Der Schwimmteich und gemütliche Sitzecken laden in Pausen zum Verweilen ein. Hier kann und darf die Seele baumeln.
Grundideen sind Ganzheitlichkeit, Ressourcenorientierung, ein Menschenbild, das den Menschen „wie ein Bergwerk an Edelsteinen von unschätzbarem Wert“ und Erziehung im Sinne der „lifelong development approach“ „Entwicklung über die Lebensspanne“ (Hilarion Petzold, Integrative Therapie) sieht, um Menschen in ihrem Wachstum zu begleiten, damit sie bewusst, genährt, bereichert, ihren Platz finden und ihren Weg engagiert in der Gesellschaft gehen können. Die Gegebenheiten des Umfelds des Instituts, der Bewohner des „Wunnhaff“, der zahlreichen Gäste, naturnahe Umgebung, ländliches Flair, Internationalität und Multikulturalität der Besucher, aktualisieren eine Vielfalt an Lebenswelten.
Familie als Ressource, wie immer die individuelle Geschichte sein mag, wird vitalisiert in den Spuren der Familiengeschichte des Hauses, angefangen in der Mitte des 19. Jahrhunderts mit der ersten Generation von Bauern, die dieses Anwesen zu bewirtschaften begannen, bis zur gegenwärtigen Realität eines innovativen Wohnmodells, wo Individualität und Gemeinschaft keine Widersprüche sind. Die Bereitschaft der Eltern zu familientherapeutischen Sitzungen ist in meiner musiktherapeutischen Arbeit mit Kindern eine Bedingung, Seminare zu Familie und Elternschaft Teil des Programms. Der Wohnhof beherbergt zur Zeit drei Generationen, eine vierte Generation ist denkbar mit der Möglichkeit, Ur-Großeltern in den barrierefreien Parterre-Wohnungen aufzunehmen. Die beiden Enkelinnen sind die vierte Generation Frauen in der Familie. Mütter-Töchter-Beziehung, Gender­balance, Altersvorsorge, Generationen­vertrag, Mehrgenerationen­-Wohnmodelle zu thematisieren, ergibt sich von selbst. Was hat das alles noch mit Musik­therapie zu tun? Musik ist dem Institut Halt, Rahmen, Ressource, Schutz, Vehikel, Stimulus, Katalysator, bietet Projektionsfläche, Resonanz, ist Zeuge, wirkt soziokulturell und stiftet Integration. Musik ist heilsam, begleitet Wege zu einem gesunden Sein mit Klängen, Rhythmen, Melodien und Harmonien, zu einem ganzheitlichen Gesundsein im Denken, Fühlen und Handeln (inspiriert von einem Slide von Isabelle­ Frohne-Hagemann zu Therapeutische Funktionen der Musik).


Wie klingt die Musik, die Sie mit Klien­tInnen machen oder die Sie ­ihnen vorspielen?

Kinder, die zu mir kommen, lassen erklingen, wie sie sich die Welt aneignen, wie sie sich ins Leben hinein bewegen. Von leisen, zaghaften Tönen von Instrumenten, die kaum zum Klingen gebracht werden können, bis zum kraftvollen sich Ausleben, Auspowern und Dampfablassen an Schlagzeug, Trommeln oder dem alten Klavier. Erwachsene tasten sich an ein ihnen meist als Spieler unbekanntes Medium heran. Pentatonisch gestimmte Instrumente helfen oft Hürden, wie Angst vor falschen Tönen, überwinden. Erst klingt die Hemmung, die Angst, aber dann oft nach Erkennen der Möglichkeiten die Wut, die Trauer, die Lust und Freude an der Entdeckung von kreativem Potential und wiedergefundener Lebensfreude.
Mein Spiel ist erst unterstützend und begleitend, bis das Vertrauen da ist und ein Zuhörer ausgehalten werden kann. Wenn im Prozess das Explorieren von Beziehungsmodalitäten Thema wird, geht es trommelnd, auf diatonischen Instrumenten, singend um musikalische Auseinandersetzung. Zu Entspannung, Fantasiereisen erklingt das Monochord, Klangschalen, aber auch Musik, die auf meinem MP3-Spieler gesammelt und geordnet ist. Es ist auch schon passiert, dass ich einer KlientIn etwas auf der Geige vorgespielt habe, als Geschenk zum „Mit-nachhause-nehmen“.

 

Schildern Sie bitte eine typische Situation aus Ihrem Berufsalltag.

Der Gang in meinen Musikraum, meine Notizen unterm Arm, dann die Zeit, die ich mir vor jeder Therapiesitzung nehme, um mich einzustellen auf den Menschen, mit dem ich jetzt arbeiten werde. Ich lese die Notizen vom letzten Mal, lasse es in mir still werden, manchmal sind es auch einige Klänge, die mich zu mir finden lassen.


An welche besonders schwierige, ­lustige oder glückliche Situation ­können Sie sich erinnern?

Besonders schwierig empfinde ich Therapieabbrüche, so dass keine Abrundung des Prozesses möglich ist. Lustig war der Auftritt einer süßen Feldmaus, die als „Co-Therapeutin“ einer depressiven Frau zu einer erstaunlichen Lebendigkeit, hoher Motivationsfähigkeit und großem Engagement, was wie mit dieser Maus zu tun sei, verhalf. Das sind die überraschenden Effekte eines Therapieraumes in ländlichem Umfeld. Beglückend sind Erfahrungen wie die Beendigung einer Kindertherapie in einer letzten Sitzung mit der Mutter, in der, unter Anleitung des Sohnes, ein tolles musikalisches Miteinander der beiden entstand, und die Mutter ihre Rolle durch die Erkenntnis und das Erleben ihrer Fähigkeiten, mit ihrem Kind ja doch sehr gut kommunizieren zu können, wieder übernehmen konnte.
Wir wünschen uns für das Institut, dass es seinem Namen gerecht wird. Wir möchten gemeinsam mit Besuchern, Teilnehmern, Gästen den Blick schärfen für die Fülle an „Edelsteinen“ , die Menschen in sich bergen und die Fülle der Schöpfung, die uns anvertraut wurde. Wir hoffen, in einem guten Fluss zu bleiben, dass Dinge sich entwickeln können und dass Projekte, die nicht gelingen, uns als wichtige Lernsitua­tionen weiterbringen.

 

Die Autorin:

Marianne Wiltgen-Sanavia,
Integrative Musiktherapeutin,
Musikpädagogin, Geige, Chorleitung und Stimmbildung
sana via institut. info(at)sana-via.lu
www.sana-via.lu    
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