Musiktherapeutischer Klinikspaziergang

Schön Klinik Vogtareuth

Von Herbert Walter

Klinik für Rehabilitationsmedizin (international department) und Klinik für Neuropädiatrie, Epilepsiezentrum für Kinder und Jugendliche

Klinik für Rehabilitationsmedizin (international department) und Klinik für Neuropädiatrie, Epilepsiezentrum für Kinder und Jugendliche. Die Schön Klinik Vogtareuth ist eine international anerkannte Fachklinik mit 400 Betten, zehn primär chirurgischen Fachkliniken, einem angeschlossenen Rehabilitationszentrum sowie einem interdisziplinären Rückenzentrum ...

Das Krankenhaus liegt ca. 60 km südöstlich von München, auf halbem Weg zwischen Rosenheim und Wasserburg, eingebettet in die reizvolle Landschaft des Chiemgaus.
An der Klinik für Neuropädiatrie gibt es seit 17 Jahren Musiktherapie. Zwei Musiktherapeutinnen (Claudia Cortes, Mia Unterharnscheidt) bieten Einzel­ und Gruppentherapie für den neuropädiatrischen Akut­ als auch Rehabilitationsbereich an.
Um der stetig wachsenden Zahl an erwachsenen ausländischen Patien­ten (Golfstaaten, Russland) ein Musiktherapieangebot zu ermöglichen, wurde ich im Oktober 2004 vom Chefarzt der Klinik für Rehabilitationsmedizin Dr. med. Bernhard Völker an die Klinik geholt. Zur selben Zeit begann auch meine musiktherapeutische Arbeit in der Früh­rehabilitation an der Intensivstation. Die häufigsten Indikationen für Musiktherapie sind dort Störungen des Bewusstseins, Antriebsstörung, Sprachstörung, Sensomotorische Störung und Spannungszustände.
Zusätzlich arbeite ich an der Klinik für Neuropädiatrie mit Patienten aus dem orientalischen Kulturraum. Einmal jährlich gestalten wir dort eine gemeinsame Fortbildung für Ärzte und Therapeuten. Da ich auf verschiedenen Stationen arbeite, habe ich keinen eigenen Raum und wandere mit meinem Instrumentarium von der Klinik für Neurorehabilitation (Erwachsene) zur Klinik für Intensivmedizin und der Klinik für Neuropädiatrie (Kinder). Die Therapien finden meist in Einzel­, manchmal in Gruppentherapie (maximal 4 Personen) statt – zweimal wöchentlich 30 bis 50 Minuten. Mein Instrumentarium umfasst einerseits orien­talische Instrumente wie die Oud (arabische Laute), die Ney (orientalische Bambusflöte), verschiedene Rahmentrommeln und Percussion­instrumente und andererseits westliche Instrumente wie die Gitarre, Sansula (Kalimba) und Körpermonochord. So findet der Patient in der Musiktherapie Anknüpfungspunkte im Vertrauten und in der Faszina­tion des Neuen und Unbekannten.
Alle rhythmischen, klanglichen oder multisensorischen Angebote dienen der Beziehungsgestaltung, um darüber Entspannung, Kontakt, Kommunikation, Erleben und Gestalten von Gefühlen zur Krankheitsverarbeitung zu ermöglichen. Als „orientalischer“ Musiktherapeut geschieht Beziehungsgestaltung zu Menschen aus einem anderen Kulturkreis.

Ich biete die Musiktherapie in aktiver und rezeptiver Form an. In der aktiven Musiktherapie arbeite ich mit verschiedenen Formen von Spielen (Imitations­, Dirigier­, Reaktionsspiele aus der Kindermusiktherapie), Bewegungs­ und Tanz­elementen, begleitet von Live­Musik und der freien musikalischen Improvisation. Diese hat keine festgelegte Struktur und entwickelt sich aus dem Moment heraus.
In der aktiven Musiktherapie steht die Improvisation im Mittelpunkt.

 

Ein gesungenes Glaubensbekenntnis

Herr D., ein junger Mann aus den Golfstaaten, ist nach einem schweren Verkehrsunfall mit einer massiven Frontalhirnschädigung zur Rehabilitation an der Schön Klinik Vogta­reuth. Die Distanzlosigkeit, Enthemmtheit und fehlende Impulskontrolle von Herrn D. ist für das gesamte Team eine große Herausforderung. In der wöchentlich stattfindenden Teamsitzung wird gemeinsam mit Ärzten, Physiotherapeuten, Logopäden, Ergo­ und Musiktherapeuten ein Behandlungsziel erarbeitet. Mit dem Ziel „Impulskontrolle“ und „emotionale Entlastung“ wird Musiktherapie verordnet.
Als Herr D. den Raum betritt, leuchten seine Augen. Er spricht wenig Englisch. Seine Muttersprache ist Arabisch. Er begrüßt mich und betrachtet aufmerksam die verschiedenen Instrumente, benennt sie, nimmt sich schließlich verschiedene Trommeln und baut sie um sich auf wie ein kleines Schlagzeug. Ich gebe ihm die Trommelschlägel und er beginnt zu trommeln. Als ich ihn frage, ob ich ihn begleiten darf, ruft er bestimmt: „guitar, guitar“. Zu seinem Rhythmus spiele ich Akkorde und summe eine Melodie. Als ich den Text „la illah illallah“ (Glaubensbekenntnis der Muslime) zu dieser Melodie singe, schaut er hinter seinen Trommeln verunsichert auf und beginnt schließlich laut mitzusingen. Er trommelt und singt, ich spiele und singe – gemeinsam werden wir immer lauter. Die 30­minütige Therapiesitzung besteht aus diesem einen Lied – gesungen voller Inbrunst und ohne Pause. Unsere Blicke begegnen sich immer wieder. Das Leuchten in seinen Augen wird stärker. Wenn ich ihn jedoch direkt anschaue, fragt er mich verunsichert: „good“? Ich antworte: „Very good“ und er setzt das Lied in fortissimo fort. Er kommt während der zwei Monate seines Aufenthalts zweimal wöchentlich zur Musik­therapie und genießt es immer wieder zu singen und zu trommeln. Das Angebot, auf dem Monochord oder der Gitarre selbst zu spielen, lehnt er strikt ab. Seine Frage: „good??“ wird immer seltener.

In diesem Therapieverlauf mit Herrn D. zeigen sich für mich Aspekte, die im Kontakt mit orientalischen Patienten immer wiederkehren (in ihrer Ausprägung natürlich durch die verschiedenen Krankheitsbilder sehr unterschiedlich):

  1. Der Schwerpunkt liegt im Rhythmus und im stimmlichen Ausdruck. In der Improvisation und in den therapeutischen Spielen arbeite ich stark mit dem rhythmischen Aspekt von Musik. Das kommt den Menschen aus dem Orient in ihrer Kulturprägung sehr entgegen. Sie können dadurch im therapeutischen Prozess an alte Erfahrungen anknüpfen und oft komplexe rhythmische Strukturen imitieren oder initiieren.
  2. Die Saiteninstrumente wollen sie zwar hören, bleiben selbst jedoch oft bei den Trommeln und Percussioninstrumenten.
  3. Das Neue und Unbekannte reizt: Die Patienten wollen oft die Gitarre anstatt der arabischen Laute hören.
  4. Das Miteinbeziehen von religiösen Texten (Gottesnamen, Gebetsformeln) rührt emotional sehr an, trifft jedoch auf die Ambivalenz, ob es denn erlaubt ist, Musik und Religion zu verbinden. (In der islamischen Welt gibt es sowohl Wertschätzung als auch Verbot von religiösen Gesängen.)

Eine andere Besonderheit im Kontakt mit orientalischen Patienten ist, dass sie sich viel stärker als Menschen aus dem hiesigen Kulturkreis über Gemeinschaft (Familie) und weniger als Einzelindividuen definieren. Sie werden von Vater und/oder Mutter, nahen Verwandten oder Freunden zur Therapie begleitet. Diese kommen dann zur Musiktherapie mit, helfen beim Übersetzen oder spielen mit.

 

Ein arabisches Kinderlied

M. ist 12 Jahre alt und kommt mit seinem Vater zur Musiktherapie. Er sitzt seit einem Treppensturz, der eine Gehirnblutung auslöste, im Rollstuhl und kann zu diesem Zeitpunkt nur seine linke Hand und den Kopf bewegen. Er kann noch nicht sprechen, ist aber sehr wach, versteht sehr genau, was ich sage und gibt mir dies durch Kopfnicken zu verstehen. Von seiner Mutter weiß ich, dass er ein bestimmtes arabisches Lied sehr gerne mag. Als er in den Raum kommt, betrachtet er die Instrumente und deutet auf die Oud. Ich nehme das Ins­trument zu mir und lege ihm das längliche Plektrum, mit der die Oud angezupft wird, in die linke Hand. Er streicht mit dem Plektrum über die Saiten und erzeugt damit einen regelmäßigen Beat. Ich greife mit meiner linken Hand Akkorde und singe ein arabisches Lied. M. gibt mit seinem Durchstreichen das Tempo an. Ich sage ihm, dass er der Dirigent des Liedes ist. M. spielt mit der Form, wird manchmal schneller, dann macht er wieder bewusst eine kleine Pause. Er genießt es zu sehen und zu hören, dass er durch die Bewegungen seiner linken Hand das Geschehen bestimmt. Als das Lied zu Ende ist, lacht er. Wir spielen einige Strophen dieses Liedes. In späteren Sitzungen nehmen wir den Text des Liedes, um Sprechen und Tönen zu üben. Dann begleiten wir den Gesang wieder mit der Oud und M. darf immer wieder erleben, wie es sich anfühlt, die Musik durch die Bewegung der linken Hand „im Griff“ zu haben.
Während der gesamten Zeit steht sein Vater neben ihm und freut sich am Geschehen.

In der rezeptiven orientalischen Musiktherapie bringe ich dem Patienten in angenehmer Atmosphäre eine Abfolge von komponierten bzw. improvisierten Melodien zu Gehör. Im Sinne des regulationsmedizinischen Ansatzes versuche ich, einen bestimmten körperlichen bzw. emotionalen Zustand mit einem ausgleichenden musikalischen Impuls zu begleiten. Musikalisch gestalte ich dies mit Stimme, Oud (arabische Laute) und Ney (Bambusflöte). Das orientalische Tonartensystem (Makamsystem) mit seinen differenzierten emotionalen und körperlichen Zuordnungen hilft mir bei der klanglichen Umsetzung.
Gemeinsam mit den Neuropsychologen und dem Dolmetscher haben wir einen Entspannungstext in arabischer Sprache auf CD aufgenommen. Diesen Text spiele ich immer zu Beginn einer rezeptiven Musiktherapiesitzung.

 

Mit meinen Söhnen im Rosengarten

Herr J. hat nach einer Kleinhirnschädigung neben anderen Beschwerden einen erhöhten Körpertonus. Seine Muttersprache ist Arabisch. Er spricht ein wenig Englisch. Ich bitte ihn sich hinzulegen und spiele ihm den Entspannungstext auf CD vor. Ich lade ihn dann ein, die Augen zu schließen und sich seinen Lieblingsort gemeinsam mit seinen liebsten Menschen vorzustellen. Dann beginne ich mit Oud und Ney zu improvisieren. Sein Atem wird tiefer. Der Gesichtsausdruck entspannt sich. Nach 25 Minuten beende ich die Sitzung. Herr J. bleibt noch einige Zeit mit geschlossenen Augen liegen. Als er die Augen öffnet, glänzen sie. Er schaut mich traurig an. Als ich ihn frage, wo er auf seiner Reise war, sagt er: „With my sons – in a rosegarden.“ Herr J. findet in der Musiktherapie Zugang zu seiner Trauer und seiner Sehnsucht, wieder mit seinen „Liebsten“ zusammen zu sein.

Ich möchte den Patienten mit den orientalischen Instrumenten und dem orientalischen Tonsystem und Therapiesystem nicht als „einer von ihnen“ begegnen – was für eine Anmaßung und Unwahrheit wäre dies. Vielmehr möchte ich durch die Kulturunterschiede hindurch, wenn dies vom Patienten gewünscht wird, mit östlicher und westlicher Musik Brücken schlagen und Möglichkeiten der kreativen heilsamen Begegnung und Beziehungsgestaltung initiieren. In diesem Sinn erfährt das Angebot der Orientalischen Musiktherapie bei den Patienten und im Ärzte­ und Therapeutenteam eine sehr positive Resonanz.
H. W. Longfellow sagte einmal: „Musik ist die gemeinsame Sprache der Menschheit.“ Die schönsten Momente in der Musiktherapie sind, wenn Patient und Therapeut die Wahrheit dieses Satzes über alle Kulturunterschiede hinweg erleben können.

 

Der Autor:

Mag. Herbert Walter
geb. 1968, Studium Konzertfach Gitarre und Instrumental­ /Gesangspädagogik an der Hochschule für Musik Wien. 1992–1993 Auslandsstipendium nach Istanbul und Musiktherapiepraktikum an der Cherapaschaklinik Istanbul. 1993–1997 Studium an der Schule für altorientalische Musiktherapie – Waldviertel /Österreich. Seit 2003 im Lehrkörper des Instituts für Ethnomusiktherapie. Seit 2004 Musiktherapeut an der Schön Klinik Vogtareuth. Seit 2009 im Lehrkörper des Bachelorstudiengangs für Musiktherapie an der IMC­Fachhochschule Krems. Außerdem tätig als Musikpädagoge.