Musiktherapeutischer Klinikspaziergang

Das Therapiezentrum Burgau (TZB)

Von Ellen Hölscher und Maret Jochheim

Ein Familienvater ist mit seinem Auto unterwegs und wird dabei zufällig Zeuge eines Verkehrsunfalls, bei dem die junge Fahrerin eines Motorrollers schwerst kopfverletzt geborgen wird. Was im ersten Moment keiner ahnt: Dieser Vater ist der Augsburger Unternehmer Max Schuster – und die junge Frau ist seine eigene Tochter. Was 1987 so tragisch beginnt und zur Folge eine lange Suche nach geeigneten Therapiemöglichkeiten hat, führt 1989 schließlich zur feierlichen Eröffnung der 1. Station für Frührehabilitation mit 20 Betten im neu gegründeten Therapiezentrum Burgau.
Heute ist das TZB als unabhängige, gemeinnützige GmbH eine Spezialklinik für neurologische Früh­rehabilitation der Phasen B und C mit 108 Betten und nahezu 420 Mitarbeitern. Als hauptsächlich behandelte Krankheitsbilder sind zu nennen: Schädel-Hirn-Traumata, Schlaganfälle, hypoxische Hirnschädigungen sowie durch schwere intensivpflichtige Erkrankungen ausgelöste neurologische Komplikationen.

Alle diese Erkrankungen können zur Folge haben, dass es bei den Betroffenen zu Ausfällen und Beeinträchtigungen vieler Fähigkeiten und Funktionen wie Sinneswahrnehmungen, Mimik, Gestik, Sprechen, Essen, Gehen, Greifen u.a. kommt. Neben den Standardverfahren der modernen Neurorehabilitation liegt ein besonderer Schwerpunkt der Behandlung in einem vernetzten Therapieansatz nach dem Affolter-Modell, dem Bobath-Konzept und der Facio-orale-Trakt-Therapie, F.O.T.T., bei dem die Gesamtheit der Funktionsstörungen und nicht ein einzelnes Symptom den Ansatzpunkt aller therapeutischer Maßnahmen bildet.
Zudem liegt ein Schwerpunkt des Hauses in einem komplexen Behandlungskonzept bezüglich Prophylaxe und Behandlung von Spastik und Kontrakturen.
Möglich wird diese umfangreiche Behandlung durch die interdisziplinäre Zusammenarbeit von Physiotherapeuten, Ergotherapeuten, Sprachtherapeuten, Musiktherapeuten, Psychologen, Rehapädagogen, Recreationstherapeuten, Ärzten, Pflegepersonal, Sozialdienst und einer Hand in Hand mit den Mitarbeitern einhergehenden Verwaltung.
Enge interdisziplinäre Teamarbeit bedeutet oft auch räumliche Nähe, so dass jeder der fünf Stationsebenen eine Ebene im Therapietrakt zugeordnet ist, auf der jeweils die wichtigsten Therapieformen angesiedelt sind. Eine Mehrzweckhalle bietet Möglichkeiten für Sport und Spiel sowie für verschiedene Veranstaltungen für Patienten und Personal. Die Eingangshalle lädt zum Verweilen bei einer Tasse Kaffee ein oder von dort aus über die Terrasse zu einem Aufenthalt im Innenhof mit kleiner Parkanlage und einem auch zu therapeutischen Zwecken genutzten Spielplatz.
Neben regelmäßig wechselnden Ausstellungen von Künstlern oder auch Werken von Patienten finden in der Eingangshalle vier Mal im Jahr Konzerte besonders begabter junger Musiker für Patienten, Angehörige, Mitarbeiter und Besucher der Klinik im Rahmen der Yehudi Menuhin – Stiftung „Live Music now“ statt.
Damit die Qualität der Arbeit immer auf dem neuesten Stand bleibt, unterhält das TZB ein eigenes Schulungszentrum, in dem vielfältige Kurse und Seminare in den wichtigsten therapeutischen Konzepten für interne und externe Teilnehmer und auch für Angehörige abgehalten werden. Zudem werden die Angehörigen je nach Wunsch von Pflege und Therapie angeleitet und in den Behandlungsablauf integriert, denn die Patienten brauchen neben der umfangreichen Behandlung auch ihre Anwesenheit und Nähe auf dem Weg zur Gesundung.
So steht der gesamte Mensch mit seiner gewachsenen Biographie im Mittelpunkt der Bemühungen um Körper, Seele und Geist.


Musiktherapie im TZB

Im TZB arbeiten zwei Musiktherapeutinnen, beide mit einer Ausbildung in Integrativer und in Neurologischer Musiktherapie. Für die Arbeit in Einzel- und Gruppenstunden stehen uns zwei helle, gut ausgestattete Musiktherapieräume zur Verfügung. Oft arbeiten wir jedoch auch am Bett eines Patienten, wenn er noch mittels Monitor überwacht werden muss oder Sauerstoff braucht und nicht in einen Rollstuhl mobilisiert werden kann.
So unterschiedlich wie die Probleme der Patienten im TZB sind, so vielfältig sind auch die Aufgabenfelder, Anwendungsmöglichkeiten und Inhalte in der Musiktherapie. Sie umfassen sowohl funktionale wie auch psychotherapeutische Aspekte auf der Grundlage einer stabilen Beziehung.
Die meisten Patienten kommen direkt von der Intensivstation zu uns, haben oft tage- oder gar wochenlang darum gerungen, einen Weg zurück ins Leben zu finden und sind manchmal noch wie in einer Zwischenwelt, zwischen Leben und Tod gefangen. Aufgabe der Musiktherapie ist es da Wege zu suchen, wie eine Verbindung, eine Brücke entstehen kann zwischen der inneren Welt des Patienten und der gemeinsam erlebten, miteinander geteilten Realität. In der Begegnung über Klang und Rhythmus kann so ein gemeinsam gestalteter Er-Lebens-Raum entstehen, in dem Kommunikation möglich wird, die nicht auf Sprache angewiesen ist.
Oft sind es minimale Bewegungen, die von außen betrachtet vielleicht sogar sinnlos erscheinen mögen, die es dem Patienten ermöglichen zu erleben, dass es ihm trotz seiner Sprachlosigkeit und bei aller Abhängigkeit von Hilfestellung im alltäglichen (Krankenhaus-) Leben doch möglich ist, einen Ausdruck seiner Selbst zu finden und sich so seinem sozialen Umfeld mitzuteilen.
Nach und nach kann so die oft überwältigend erlebte Angst vor dieser verwirrenden Situation in ein Vertrauen auf das Da-Sein übergehen und Schritt für Schritt der Weg in ein neues Leben gegangen werden, das trotz einer oft bleibenden schweren Behinderung nicht auf die Erfahrung von Glück und Zufriedenheit verzichten muss.
Neben dieser psychotherapeutischen Begleitung der PatientInnen in ihrer Krankheitsverarbeitung bietet die Neurologische Musiktherapie in enger Zusammenarbeit mit anderen Berufsgruppen eine Reihe von funktionellen Übungs- und Trainingsmöglichkeiten an, in denen Rhythmus, Klang, Melodie sowie die Bewegungsabläufe beim Spiel verschiedener Instrumente genutzt werden, um die Motorik anzuregen, zu strukturieren und zu stärken, kognitive Einschränkungen wie z.B. das Gedächtnis und die Sprache zu trainieren und Entspannung zu fördern. In interdisziplinären Gruppen wird dabei nicht nur an dem Wiedererlangen verlorener Fähigkeiten gearbeitet. Es ist immer wieder sehr bewegend, zu erleben, wie die PatientInnen sich in ihrem schweren Schicksal gegenseitig unterstützen und auf ihrem Weg ermutigen können.


Fallbeispiel 1
Herr Z. liegt im Bett mit angespanntem Körper, er ist sehr unruhig und knirscht mit den Zähnen. Sein Blick ist leer und zugleich suchend hin und her gehend. Hypoxische Hirnschädigung nach Reanimation bei Herz-Kreislauf-Stillstand lautet die Diagnose.
Ich setze mich neben ihn ans Bett und nehme Kontakt zu ihm auf über seine Atmung, über seinen Atemrhythmus, indem ich synchron zu seinem Atemrhythmus atmend mitschwinge. Meine Atmung wird sogleich enger, ein Gefühl von Angst kommt in mir auf. Wo bin ich? Was geschieht mit mir? Ich spüre seine Unruhe, seine mögliche Suche nach Halt, seine Art Verlorensein in der Welt. So ergreife ich seine Hand, drücke sie sanft zu seiner Ausatmung und fange in seinem Atemrhythmus an zu tönen, an zu singen. Seine Augen werden ruhiger, sein Blick geht in meine Richtung. Ich spüre, da entsteht Kontakt zwischen uns. Nach einer Weile nehme ich eine Rahmentrommel hinzu und spiele im Herzrhythmus dazu, wobei der Rhythmus nicht nur hörbar wird, sondern die Resonanz der Trommel sich auch auf sein Bett und darüber auf seinen Körper überträgt und so für ihn auch spürbar wird. Augenblicklich lässt das Zähneknirschen ganz nach und seine Atmung wird tiefer. Auch in mir stellt sich nun in der Gegenübertragung das Gefühl von Weite und zugleich von Dasein in etwas Größerem, Tragendem ein. Eine friedliche Atmosphäre breitet sich aus und wird auch äußerlich sichtbar an der leibhaftigen Entspannung seines ganzen Körpers.


Fallbeispiel 2
Frank L., 18 Jahre, hatte ein schweres Schädel-Hirn-Trauma und lag lange Zeit im Koma, später im Wachkoma. Jetzt zeigt er in seinem linken Arm zunehmend ungerichtete Bewegungen, die ich musikalisch nutzen will. Ich stelle ihm die Chimes so hin, dass er sie durch seine Bewegungen unwillkürlich zum Klingen bringt. Am Klavier improvisierend versuche ich, seine so entstehenden klanglichen Äußerungen in einen sinnvollen musikalischen Zusammenhang zu stellen. Seine Bewegungen werden zusehends gerichteter, bis er schließlich seine Hand ganz öffnet und das Holz, an dem die Metallstäbe befestigt sind, ergreift.
Eine Woche später wird er von drei Cousins besucht, die nun betroffen und ratlos um den Rollstuhl des Patienten stehen. Ich lade sie ein, ihren Cousin in die Musiktherapie zu begleiten. Der hohe Aufforderungscharakter der Instrumente verfehlt nicht seine Wirkung und schon bald hat sich jeder ein Instrument ausgesucht. Wir setzen uns in einen Kreis und jeder stellt sich mit seinem Klang, seinem Instrument vor. Als die Reihe an Frank kommt, beginnt er sofort, aus eigener Initiative die Chimes zu spielen, und in der darauf folgenden freien Improvisation gelingt es Frank, mit seinem Instrument eigene musikalische Akzente zu setzen. Unser gemeinsames Spiel vertreibt alle Befangenheit und Unsicherheit im Umgang miteinander. Die Kinder haben etwas Sinn- und Lustvolles zusammen mit ihrem großen Cousin unternommen, obwohl er ihnen so fremd geworden war.


Fallbeispiel 3
Frau A. kommt das erste Mal zu mir in die Musiktherapie. Sie hatte einen Schlaganfall, der sie mitten aus dem Urlaub gerissen hat. Sie kann es kaum fassen, was ihr passiert ist. „Warum gerade ich? Wo ich doch schon so viel hinter mir habe!“ Nun sitzt sie mir gegenüber im Rollstuhl, traurig, den Oberkörper leicht nach vorne gebeugt, die linke Seite kann sie nicht bewegen. Verzweiflung und Resignation kommen mir entgegen. Obwohl sie früher jeden Tag Klavier gespielt hat, mag sie nun nicht mehr selber ein Instrument spielen. Aber sie kann es sich gut vorstellen, dass ich für sie ein Instrument spiele. Ich hole eine große Kantele und lege sozusagen ganz beiläufig auch ihr eine kleine Kantele auf ihren Rollstuhltisch. Noch ehe ich zu spielen beginne, ertastet ihre rechte Hand die Saiten und fast wie von alleine beginnen die Finger Klänge aus dem Instrument zu locken. Es entsteht ein zartes Spiel, in das ich vorsichtig einsteige und das sich nun eine Weile wie von alleine fortsetzt. Frau A. ist ganz versunken in ihr Spiel. Am Ende hebt sie ihren Kopf und schaut mich an. Ihre Augen strahlen, zum ersten Mal entdecke ich ein Lächeln auf ihrem Gesicht. In dieser Stunde war es nicht nur bedeutsam, dass sie erleben konnte, dass eine ihr wichtige Lebensquelle nicht verloren, sondern nur zugeschüttet war und nun wieder frei ist. „Das Wichtige an der Musiktherapiestunde war, dass ich wieder aktiv werden konnte“. Wieder ins Handeln kommen, in ein selbstbestimmtes Handeln kommen, wieder hörbar werden, das war das Heilsame in dieser Stunde.


Fallbeispiel 4
Herr R., 81 Jahre, hat sich nach einem Schlaganfall wieder gut erholt. Beim Gehen fühlt er sich jedoch unsicher, denn das linke Bein scheint noch träge zu sein und hinkt immer etwas hinterher, so dass er zur Sicherheit einen Stock benutzt.
Mit Hilfe der Physiotherapeutin trainiert er, gleichmäßiger und sicherer zu gehen. In dieser Stunde unterstütze ich das Training auch rhythmisch-musikalisch, indem ich mein Spiel auf der Trommel und der Gitarre genau an das Tempo des Patienten anpasse, jedoch in einem gleichmäßigen Metrum, nicht in dem hinkenden Rhythmus des Patienten. Schon nach wenigen Augenblicken zeigt sich, dass der Gang von Herrn R. federnder, lockerer und sicherer wird, sich die Gangsymmetrie verbessert, und nach einigen weiteren Minuten kann er seinen Stock an die Seite stellen. Auf die Frage, ob es für ihn einen Unterschied mache, das Laufen mit oder ohne Musik zu trainieren, meint Herr R: „Die Musik belebt die Seele. Dann geht die Seele ins Gehirn und dann geht das Laufen leichter.“

 

Die Autoren:

Ellen Hölscher
geb. 1961, Ausbildung zur Integrativen Musik- und Gestaltpsychotherapeutin am FPI, HPG Psychotherapie, Ausbildung Neurologische Musiktherapie, NMT bei M.Thaut, Weiterbildung „Palliative Care“ an der Akademie für Palliativmedizin, Palliativpflege und Hospizarbeit, Stiftung Juliusspital Würzburg. Seit 1999 als Musiktherapeutin im Therapiezentrum Burgau tätig.

Maret Jochheim
geb. 1956, Staatl. gepr. Musikpädagogin, Ausbildung zur Integrativen Musiktherapeutin am FPI, Weiterbildung in Musik-, Körper-, Trancetherapie bei W. Strobel, Weiterbildung in Neurologischer Musiktherapie bei M. Thaut, Psychotherapie (HP). Seit 1997 Musiktherapeutin im Therapiezentrum Burgau.