Editorial

Kunstwerk Kind und Apparat Schule

Diese MuG thematisiert, was vor 30 Jahren noch unvereinbar schien: Schule und Therapie. Was hüben nicht klappte, wurde drüben behandelt und nur zu oft nagte dieses Spannungsfeld am „Kunstwerk Kind“. Manchmal schädigte oder gar zerstörte diese eiserne Spaltung zwischen „Apparat Schule“ und der Therapie des „Kunstwerks Kind“ eben das Kunstwerk selbst.
Die neue Paarung, Schule und (Musik-) Therapie, wird mit den eben im Titel genutzten Begriffen von Waltraud Barnowski-Geiser aus der forscherischen Praxis, von Hans Ulrich Schmidt und Tonius Timmermann aus der praxeologischen Forschung beschrieben und von Mark Daniel Eberhard sowie Erika Menebröker veranschaulicht, veran-hör-licht.
Wir sind politisch und (musik-) therapeutisch spät dran mit dieser Paarung Schule – Künstlerische Therapien. Umso rasanter holen wir (wieder einmal) Versäumtes nach und die Gegenwart lässt auf Zukunft hoffen.

 

Ein Rückblick in die 50er:

War das schulpflichtige Kind behindert, wurde es von den sich rasch spezialisierenden „Hilfsschulen“ oder heilpädagogischen Institutionen aufgefangen, wobei die Spezialisierung der Hilfsschulen und den nachfolgenden Sonderschulen (V für Verhaltensstörungen, G für geistige Behinderung, L für Lernbehinderungen usw.usf.) Ausdruck der damaligen Auffassung war, man könne spezielle Schwächen, Insuffizienzen, Defizite des Kindes mit Spezialmethodik reparieren. Ganzheitlichere Konzepte waren fast nur in privaten Institutionen (z.B. denen der Anthroposophie) anzutreffen.
War das schulpflichtige Kind nicht behindert, sondern „nur langzeiterkrankt“ (Formel des hannoverschen Kultusministeriums 1952), z.B. durch Epidemien wie Polio oder TBC in der Nachkriegszeit – dann wurde das Kind vom Schulsystem ausgegrenzt und es war privates Abenteuer der Familie, wie man das Kind durchziehen konnte. (In meinem und zahllosen anderen Fällen wurde das Kind von Familienangehörigen unterrichtet, falls finanzierbar von Privatlehrern. In den Groß-kliniken wie Anna-Stift Hannover oder UKE-Eppendorf gab es für dort langzeitliegende Kinder nichts an Unterricht. In Sanatorien wurde aleatorisch Unterricht angeboten durch pensionierte Lehrkräfte, die sich an der Kondition der Kinder zu orientieren hatten.
Wir (Kinder von damals) waren in der Persönlichkeitsentwicklung und (Schul-) Bildung nur zu retten durch außergewöhnliche Resilienzen um uns herum. Ohne diese kippten behinderte wie „nur erkrankte“ Kinder aus den wenigen Schienen, die das allgemeine Schulwesen bot.
Wäre ein Kind heute „nur langzeitkrank“ – dann erhielte es an seinem Bett sowohl staatlich garantierten und finanzierten Einzelunterricht durch die von der Schule dafür abgeordneten Lehrkräfte – und bei einigem kleinen Glück eine musiktherapeutische Krankheitsbegleitung hin zur Genesung.


Klein, aber fein: heutige „Schul-Musiktherapie“

Heute haben wir kleine, aber feine und vor allem wachsende „blühende Landschaften“, in denen Musiktherapie in die Schule wächst, eine Schul-Musiktherapie: Während die künstlerischen Fächer, allen voran Musik, in den allgemeinbildenden Schulen schwinden (gegen aber auch alle Forschungsergebnisse, die hochsignifikant musikalisch-künstlerisches Tun als Förderung der Persönlichkeit und der Förderung der Begabungen mit intelligiblen Anforderungen beweist), beginnt der Einzug der therapeutischen Angebote in die allgemeinbildenden Schulen.
Der Staat Massachusetts/USA begann Mitte der 60er Jahre mit der Etablierung von meist künstlerischen Therapieangeboten in allgemeinbildenden Schulen. Der Kunsttherapeut Shaun McNiff und der Musiktherapeut Paolo J. Knill etablierten weitere modellhafte Projekte, die rasch Kinder kriegten. In Deutschland etablierten immerhin schon 1974 Hermann Rauhe und Johannes Th. Eschen den ersten Zusatzstudiengang Musiktherapie, welcher künftigen Sonderpädagogen speziell musikpsychotherapeutische Kompetenz vermitteln sollte. Ein Versuch zusammen mit der Erziehungswissenschaft der Uni und dem Hamburger Lehrerprüfungsamt, der bis heute weiter entwickelt wurde, wenn auch (noch) nicht den Rang eines eigenständigen Bachelor- oder Masterstudienganges erhaltend.
Das war mutig, weil die beginnende Musiktherapie-Entwicklung – wie jede Entwicklung, an der Menschen beteiligt sind – die üblichen Merkmale einer profilneurotischen Abgrenzung zeigte: Man (hier: Musiktherapie) war und wurde klinisch, psychotherapeutisiert, mediziniert – entwickelte sich also weg vom Normalen und das Normale war die Schule.
Private Musiktherapie-Ausbildungen wie die in Musiksoziotherapie und die Initiative von dem künstlerischen Therapeutenpaar Ulrich Baer und Gabriele Frick-Baer oder von Waltraud Barnowski-Geiser wandten sich (fünfzehn Jahre nach dem o.g. Studiengang an der Hamburger Musikhochschule) der Musiktherapie in der Schule früh zu. Im akademischen Bereich der Musiktherapie sind es heute Praxisforschungen von unserer Kollegin Rosemarie Tüpker (s. Hochschulnachrichten S. 42) u.a., die die Musiktherapie aus dem zwischenzeitlich nun eroberten klinisch-stationären Bereich herausheben und der Schule öffnen. Öffnen über die Schule für die Kinder, die von immer weniger Elternhäusern und anderen Sozialisierungsinstanzen nötigste Resilienzen in den Rucksack ihrer Seele mitkriegen. Resilienzen, die bekanntlich mehr von außen an das Kind gelangen, das mit inneren Ressourcenbildungen darauf reagiert.
Der Schule, die als berufsvorbereitender Höchstleistungsanforderer elementare Förderungen der Persönlichkeit vernachlässigen muss, es jedenfalls tut. Die moderne Schule, die sich bei ihren an sich bewundernswerten Inclusionsversuchen immerhin behilft, indem sie den betroffenen Schülern einen Zivildienstleistenden (heute einen Berufsfreiwilligen-Jährling) hilfreich an die Seite im Unterricht stellt. Diese Schule öffnet sich jetzt Therapien – und naheliegenderweise bei Kindern und Jugendlichen sind dies Therapien, die mit Spiel zu tun haben und der immensen Bedeutung des intermediären Raums (Winnicott) folgen, der hoffentlich mit viel Spielen mit den Medien Musik, Tanz, Bild usw. gefüllt die Sensorien entwickelt, verfeinert und so, und nur so, Interaktionsanlagen zu Kommunikationsbegabungen werden lässt.

 

Die Geige des Lehrers = Gesang als Unterrichtsobligat

Früher, ganz ganz früher, spielten sie Geige und Flöte und sangen in den Dorfschulen noch selbst vor und mit den Kindern, weit weg von Therapiezielen: Schul-Lehrer. Sie wurden nicht nur in der Provinz meist gleichzeitig ausgebildet als Kantoren für die Kirchengemeinden, weil das Gehalt als Lehrer sie nicht ernährt hätte. Schade nur, dass mit dem zwangsweisen morgendlichen „Absingen“ von Chorälen oder manch traumatisierendem Schulmusikunterricht damals etwas in der Pädagogenausbildung der PHs flöten ging, was in den psychotherapeutisch abgesicherten musiktherapeutischen Konzepten für die Schule von heute große Chance für kleine und große Kinder und die Kinder in uns ist.
Musik als Hilfe beim Spracherwerb, bei Sprachstörungen (Tüpker), Musik als Hilfe beim Training der Konzentrations- und Fokussierungskräfte des Kindes und Jugendlichen zugunsten des Unterrichts (das sind Ziele, die die chinesische Politik mit Musiktherapie-Projekten derzeit intensiv zu verbinden hofft), Musiktherapie bei den weiterhin nur schwammig diagnostizierten „Verhaltensstörungen“, bei Ritalin-Kindern, bei Kindern aus alkoholisierten Elternhäusern – die Bandbreite von Musiktherapie in und für die Schule erfasst das ganze jammervolle Spektrum häufig vereinsamender, weil übermäßig frühindividualisierter Kinder von heute.
Entwicklungen wie „Klasse! Wir singen“ analog zu der der „Singenden Krankenhäuser“ und die Aktivitäten weiterer „Community Music Therapy (CMT)“ sind nicht mit gezielten Musiktherapie-Konzepten zu verwechseln, aber sie können sich gegenseitig fördern helfen – ausgehend und wieder zentrierend die Schülerin, den Schüler, die Persönlichkeit in ihnen.
Ansonsten interessiert Sie, liebe Leserin, lieber Leser, hoffentlich die Vertrautheit unserer Rubriken mit brandneuen Inhalten zum Thema Mensch und Musik unter therapeutischen Aspekten.

Ihr
Hans-Helmut Decker-Voigt

(für den Herausgeberkreis)