Schwerpunktthema II

Migration der Lieder

Von Imke McMurtrie, Madge Bray und Nana Mzhavanadze

 

Georgische polyphone Gesänge – ein kraftvolles Werkzeug für die westliche Musiktherapie

„Was die Georgier singen, ist wichtiger als alle Neuentdeckungen der modernen Musik. Es ist unvergleichlich und einfach. Ich habe nie etwas besseres gehört!“
(Igor Strawinsky)

Die Musikethnologinnen und Sängerinnen Madge Bray, Nana Mzhavanadze und Imke McMurtrie verbindet die Liebe und der Respekt für die georgischen polyphonen geistlichen und weltlichen Gesänge. Sie begegneten sich in Georgien beim Erforschen der Wirkung solcher Lieder auf Gruppen und Individuen.
Dieser Beitrag ist ein Exzerpt aus ihren Treffen, Gesprächen, akademischen Forschungsarbeiten und Niederschriften. Sie teilen die Überzeugung, dass georgisches polyphones Singen als ein wirkungsvolles physisches und psychisches Harmonisierungsmittel einen wichtigen Beitrag für die Musiktherapie, die Salutogenese, die Gesundheitsprävention und die persönliche Entwicklung von Menschen im Westen leisten kann. Eine Kultur, in der noch gesungen wird, verfügt über ein integrales Mittel zum Umgang mit kollektiven und individuellen psychischen Prozessen. Obwohl nicht so viele Georgier in Deutschland leben, sind doch ihre Lieder seit den siebziger Jahren bei uns immer bekannter geworden und finden aufgrund ihres ungewöhnlichen Harmoniespektrums zunehmende Wertschätzung.
Könnte es sein, dass diese Lieder uns etwas lehren wollen, so wie jede Immigration, so schwierig sie sich gestalten mag, neue Inspiration, Erfahrung und Werte in die Gastkultur transportiert? Könnte es sein, dass die Lieder einer anderen Ethnie uns das Herzstück ihrer Identität als kostbare Mitteilung schenken wollen? Könnte es sein, dass uns gerade in Deutschland, wo zwar vieles aufgedeckt, aber vieles noch nicht wirklich betrauert worden ist (was uns die Arbeiten zur transgenerationalen Weitergabe von Traumata zeigen), ein Volk, das sich nicht scheut, über Trauer und Reue zu singen, etwas Wertvolles zu zeigen hat? Am Beispiel der georgischen ethnischen Lieder möchten wir Austausch-, Unterstützungs- und Integrationsmöglichkeiten aufzeigen.

Imke:
„1997 nahm ich in Aberystwyth/Wales an einem Workshop des georgischen Männerchores Mtiebi teil, den der bekannte Sänger und Musikethnologe, Edisher Garakanidze (1957 bis 1998) leitete. Edisher hatte gerade begonnen, erstmals die georgischen Volkslieder aufzunehmen und aufzuschreiben. Bis dahin waren sie tatsächlich nur von Mund zu Mund weitergegeben worden.
Unter anderem lernten wir das berühmte Shen khar venakhi, ein Marienlied, dessen Melodie wahrscheinlich schon aus dem 3. Jahrhundert stammt (www.alazani.ge). Die Harmonien und die Art, dieses Lied zu singen, hatten eine so starke Wirkung auf mich, dass sie mein Leben als Sängerin vollkommen veränderten. Ich ahnte damals noch nicht, dass dieses Lied mich zu einer ganz anderen Art von Singen führen würde und mich meine westliche klassische Gesangsausbildung, die Hörerwartungen und den Anspruch auf Perfektion grundsätzlich überdenken lassen würde. Ich wurde an den Ursprung des Singens geführt, zu dem, wie Singen eigentlich immer gedacht war: Eine Art des menschlichen Zusammenseins, des Mitteilens, des Betens und des Feierns.
In meinen Seminaren in der Ausbildung für Musiktherapeutinnen versuche ich heute mithilfe von Atem- und Körperbewusstseinsübungen und einfachen georgischen Liedern eine Atmosphäre zu schaffen, in der die Teilnehmerinnen ihre Stimme in diesem Sinne erforschen können. Es geht nicht darum, richtig oder gut zu singen, es muss noch nicht einmal schön klingen, es geht darum, mit der ‘Stimme des Augenblicks’ zu singen. Diese authentische Stimme, wie immer brüchig oder unsicher sie klingen mag, bringt genau die Wahrhaftigkeit, um die es bei der Stimmarbeit im therapeutischen Kontext gehen sollte und von der aus sich eine wirklich ‘starke’ Stimme aufbauen kann.“

Madge:
„2004 begegnete ich dem bekannten Spezialisten für georgische Mehrstimmigkeit, Frank Kane. Der gebürtiger Amerikaner lebt als Sänger und Musikethnologe in Paris und arbeitet auf internationaler Ebene. Seit 1983 erforscht er mithilfe von georgischen mehrstimmigen Gesängen die Bedeutung der Vibra­tionskraft der Stimme für harmonie- und friedensstiftende Prozesse (www.georgische-lieder.de). Er öffnete mir die Tür zu diesem musikalischen Erbe und gab mir Einblick in die Bedeutung der menschlichen Stimme, insbesondere die Wirkung der Gesangsstimme auf die frühkindlichen Entwicklung (vibrational hearing). Kinder lernen Lieder, ohne sie zu lernen. Sie nehmen sie einfach in der Gemeinschaft auf, wie z. B. ihre Sprache. Auf selbstverständliche Weise lernen sie singend, Gefühle direkt und einfach auszudrücken. Im Singen können Gefühle als Teil des Menschseins verstanden werden. Singen kann helfen, den Schmerz in den Fluss des Lebens mit hinein zu nehmen, ohne ihn abzuspalten oder Teile von uns mundtot zu machen.
Nachdem ich lange mit Traumaüberlebenden gearbeitet hatte, war meine Frage: ‘Gibt es auf der Erde einen musikalischen Erfahrungsschatz, der die Basis legen könnte, Traumata musikalisch zu erlösen? Gibt es Lieder in der Welt, die die Dissonanz des menschlichen Schmerzes enthalten und es trotzdem schaffen, diesen in Harmonie zu überführen und ihn in die eigene Lebensgeschichte zu integrieren helfen?’“

Nana:
„Ich wurde mit dem Gesang geboren, denn ich komme aus einer langen Tradition von Sängern. Meine Urgroßeltern und die Großeltern väterlicherseits waren sehr gute Sänger. Der Spitzname meiner Großmutter war ‘Nachtigall von Gurien’. Mein Onkel hat das feinste musikalische Gehör, das mir je begegnet ist. Meine Großmutter mütterlicherseits sang und spielte die traditionellen Instrumente unseres Landes. Ich lernte singen, so wie andere laufen oder sprechen lernen. Niemand brachte es mir bei. Später erinnere ich endlose ‘Supras’ (traditionelle Feiern um einen großen Tisch zu Ehren der Gäste) in unserem Haus. Für mich war es vollkommen normal, dass alle zusammen sangen. Ich war also sehr erstaunt, als ich später entdeckte, dass es Menschen gab, die nicht sangen. Wir sangen zu jeder Gelegenheit, und wenn meine Schwester oder ich krank waren, kam die ganze Nachbarschaft, stellte sich um unser Bett und sang für unsere Genesung. Später erst, als ich dann am Konservatorium in Tbilisi unsere ethnischen Gesänge studierte, wurde mir klar, welch lebendigen Schatz mir meine Familie mitgegeben hatte. Tatsächlich rief einer meiner Lehrer, Edisher Garakanidze, immer mich zu Hilfe, wenn es um Lieder aus Gurien ging, weil sie so sehr Teil meines Lebens sind.’“
 
Imke:
„Als ich letztes Jahr in Georgien war, lernte ich von dem Frauen­ensemble Sathanao ein Wiegenlied aus Svanetien. Die Großmutter einer Sängerin hatte es am Sterbebett ihrer kleinen Tochter gesungen. Nach einer Weile fanden wir uns alle singend auf dem Boden sitzend wieder und waren eingetaucht in Erinnerungen an Abschiede, Verluste, Schmerzen. Es war ein Moment, in dem ‘schönes’ oder ‘perfektes’ Singen völlig unangebracht gewesen wäre und die Intimität des Augenblicks gestört hätte.
Musikethnologische Studien haben gezeigt, dass die Bedeutung von gemeinschaftlichem Singen weit über nationale Grenzen hinausreichen kann. Als seien wir, wenn wir in die traditionellen Gesänge anderer Kulturen eintauchen, mit einem uralten emotionalen Gedächtnis verbunden, das zur ganzen Menschheit gehört, auch wenn wir die Worte nicht genau verstehen. Im Gesang können wir uns mit den Themen, die alle Menschen angehen, verbinden: Geburt, Krankheit und Tod, Begegnung, Liebe, unerfüllte Liebe, Trennung, Kampf, Trauer, Reue, Arbeit, Auswanderung, Alter, Sehnsucht und Gebet – all diese Facetten des Lebens werden in den georgischen Liedern benannt, wertgeschätzt und durch eine harmonikale Struktur gehalten.“

Nana:
„Manche Menschen glauben, dass nicht nur unsere Heillieder, sondern alle georgischen Lieder wegen ihres speziellen harmonischen Aufbaus heilende Eigenschaften haben und als therapeutisches Mittel eingesetzt werden können. Wir Georgier würden es nicht ‘therapeutisches Singen’ nennen, denn es ist das Natürlichste der Welt, für jemanden zu singen, der krank oder unglücklich ist. Viele Menschen fühlen sich einsam und isoliert. Mit anderen zu singen, Teil eines musikalischen Akkords zu sein, gibt einem die Möglichkeit, sich als Part des Ganzen zu fühlen. Es ist ja bekannt, dass Musik ein kraftvolles Mittel ist, um sich psychischen und auch sozialen Problemen zu nähern, und ich glaube wirklich, dass besonders die Harmonien georgischer Lieder einen signifikanten Beitrag zu den Themen unserer Zeit leisten können.
Unser Problem in Georgien ist heute, dass in den Dörfern, in denen die alte Gesangstradition noch lebendig ist, die Jüngeren diese Art zu singen nicht mehr attraktiv oder ‘cool’ finden und diese Lieder nicht mehr lernen wollen. Zum Beispiel gibt es in Latali, einem Dorf im hohen Kaukasus, nur noch einige ältere ‘Songmaster’, die den Zari (Begräbnisritual) mit ihren Stimmen begleiten können, aber wenn sie einmal gestorben sind, gibt es niemanden mehr, der diese Tradition fortsetzen kann. Ich arbeite deshalb in den Dörfern in Svanetien, um den Jugendlichen den Wert dieser Traditionen bewusst zu machen. Durch unsere eigene Initiative und mit der Hilfe aus dem Westen haben wir jetzt die Möglichkeit, im leer stehenden Schulhaus in Lakhusti ein Zentrum zu betreiben, die ‘Union Libashi’, wo Einheimische und Gäste sich treffen können und zusammen traditionelle Gesänge, Tänze und das typische Kunsthandwerk der Gegend lernen können. Aber es ist auch ein Ort, wo man z. B. Englisch lernen kann oder wie man einen Computer benutzt. Wir versuchen, eine Brücke zu bauen zwischen der Tradition und der modernen Art zu kommunizieren, damit keine Polarisierung entsteht. Für dieses Projekt ist der Austausch mit dem Westen und seine Wertschätzung unserer Kultur lebenswichtig.“

Imke:
„Tatsächlich ist einer der besten Wege, diese Lieder am Leben zu erhalten, den jungen Georgiern zu vermitteln, dass sie im Besitz eines unglaublichen Schatzes sind, und ihnen unsere Bewunderung zu zeigen. Natürlich orientieren sie sich an westlichen Musikstilen und haben die Tendenz, ihre eigene Tradition zurückzuweisen. Doch gibt es in letzter Zeit eine Bewegung in georgischen Schulen und Nachmittagsaktivitäten (u. a. gefördert durch westliche Sponsoren wie z. B. das Goethe-Institut oder die Kulturabteilungen der Konsulate), die Kindern und Jugendlichen anbietet, ihre traditionellen Gesänge und Tänze zu lernen und aufzuführen, um Repräsentanten ihrer eigenen Kultur zu bleiben.“

Madge:
„2005 gab es in Japan eine Studie, in der man herausfand, dass beim Singen der georgischen mehrstimmigen Gesänge Frequenzen entstehen, die für das menschliche Ohr unhörbar sind, die aber durch die Haut und das Fasziensystem aufgenommen werden. Sie lösen neuro-chemische Reaktionen im Körper aus, die wesentlich zum Wohlgefühl des Menschen beitragen. Georgische Gesänge erklingen oft in natürlichen Quart- und Quint-Abständen. Diese Intervalle haben eine ausgleichende und aufrichtende Wirkung für den Energiehaushalt des Nervensystems und des Herzkreislaufsystems.
In Dzegvi (Kartli/Georgien) gründete der Sozialvisionär Gia Razmadze 1992 ein alternatives Waisenhaus für Straßenkinder. Die Supra (gemeinsames Essen und miteinander sprechen), die mehrstimmigen Lieder und das Leben in der Natur waren die Hauptfaktoren, die dabei halfen, das Vertrauen von missbrauchten und verlassenen Kindern wiederherzustellen.
Es waren ökonomisch harte Zeiten, und oft hatten die Kinder nur wenig zu essen. Unter solch widrigen Umständen begannen sie einfach zu singen. Eines der ersten Lieder war dann das Lied Lale aus Ratcha. Die Gefühlsqualität dieses Liedes ist von Verlorenheit und innerer Leere geprägt, die am Ende in die Freude an der Schönheit der Natur und die Anrufung des Schutzpatrons von Georgien mündet.
Ich hatte eine ähnliche Erfahrung in der Arbeit mit traumatisierten Kindern. Innerhalb der nicht-direktiven Sicherheit des Spielzimmers begann das Kind, Töne zu erzeugen, die ich ihm mit meiner Stimme spiegelte. Es gab zu Beginn ein Gewirr an dissonanter Mehrstimmigkeit, die zum Ende der Stunde meist in harmonische Klänge überging. Und während der Prozess sich Woche für Woche fortsetzte, konnten sich furchtgetriebene Verhaltensweisen auflösen, ein inneres Gleichgewicht wurde wieder sichtbar und Vertrauen, Harmonie und relativer Frieden stellten sich in der verwundeten Psyche des Kindes wieder ein. In der dissonanten Phase drückte das Kind sein Unwohlsein, seinen Schmerz und seine Isolation aus. In der Phase der Suche nach Harmonien begann es wieder auf die Welt und die anderen zu lauschen. Es begann über die Stimme wieder in Kontakt zu treten. Und in der Phase des Einklangs (unison) kehrte es dann zurück, um wieder Teil seiner Gemeinschaft zu sein.
Als ich in Georgien forschte und anfing, genauer hinzuhören, begriff ich, wie sehr der Aufbau dieser Lieder diesem therapeutischen Verlauf entsprach.“

Nana:
„Unsere Lieder beginnen meistens mit einem Ruf, der oft von der Mittelstimme ausgeht. Dieser Ruf birgt die Gefühlsqualität und die entsprechende Energie in sich, mit der das Lied für die jeweilige Situation gesungen werden soll. Damit wird das Wesen der musikalischen Antwort vorbereitet. Ist einmal der Ruf erklungen, antwortet verlässlich ein Klangteppich an Stimmen, um den Ruf zu bestätigen und musikalisch auszuschmücken. Während das Lied sich entspinnt, entstehen viele verschiedene Harmonien und rhythmische Muster, oft mit enormen Dissonanzen und Klängen, mit denen im vorgegebenen Rahmen auch improvisiert werden kann. Ohne Ausnahme kommen am Ende des Liedes alle Stimmen im Unison zusammen. Die vielen Reibungen, Dissonanzen und rhythmischen Verschiebungen lösen sich auf natürliche Weise. Harmonie wird wieder hergestellt, und alle Stimmen treffen sich auf einer zentralen Note.“

Madge:
„Der Ruf erklingt, die Antwort wird gegeben, das Thema wird erörtert und ergänzt, gemeinsam wird eine Lösung gefunden … ein verlässlicher Status quo.“

Imke:
„Ein weiterer Status quo ist das Respektieren von naturgegebenen Gesetzmäßigkeiten. Es bestimmt die Art, wie die Georgier mit sich selbst, ihrer Stimme und ihrem Atem umgehen. Der Körper unterliegt dem harmonischen Zusammenklang verschiedener Rhythmen: Atem-, Herz-, Liquor-, Bewegungsrhythmus etc. Er gehorcht der Schwerkraft und der Strebekraft der Erde. Jede Zelle unseres Körpers gehorcht diesen Kräften, andernfalls verliert sie ihre natürliche Harmonie und wird krank (dis-ease – un-leicht). Deshalb ist es so wichtig, beim Singen immer wieder den Körper mit einzubeziehen. Es hilft ihm, musikalische Schwingung auszusenden, zu empfangen und durchzuleiten, ohne den Klang zu blockieren, zu dämpfen oder zu verzerren. Auch die stimmliche Freiheit und Durchlässigkeit der Musiktherapeutin schafft ein Resonanzfeld, mit dem der Klient in Kontakt tritt, jenseits der Worte. Das (messbare!) Schwingungsfeld unserer Körper kann in der Dissonanz, in der Harmonie und im Einklang in Resonanz gehen.
Das georgische Volk lebt noch in ganz natürlicher Weise mit diesen Gesetzmäßigkeiten. Die Menschen dort stehen beim Singen mit beiden Beinen fest auf der Erde (Schwerkraft). Sie bestärken sich oft durch Körperkontakt (nahes Beieinanderstehen im Kreis, Umarmungen etc.) und sie hindern sich nicht durch Selbstzweifel, ihr Bestes für den Gesamtklang beizutragen (Aufrichtekraft/Strebekraft). Im Westen braucht es oft eine lange Zeit, unseren Stimmen diesen leichten, natürlichen Fluss zu erlauben und nicht Gefangene unserer Vorstellungen, Selbstkritik, Künstlichkeit und Druckorientiertheit zu bleiben.“

Madge:
„Man sagt oft, dass jede Stimme mit dem Eindruck aller Lebenserfahrungen schwingt, die die Sängerin je gemacht hat. Tatsächlich ist es die bewusste Verbindung der Sängerin zu diesem Schatz an eigenem Erlebten, die es ihr ermöglicht, sich den unausgesprochenen und unaussprechlichen Gefühlen der Zuhörer zu nähern und sie in einer sehr sublimen Art zu spiegeln. Das ist oft das Zeichen für einen großen Sänger: Klang und menschliche Harmonie bilden eine Einheit. Die Harmonisierung der Psyche geschieht unter anderem durch die Befreiung der natürlichen ‘Mitschwingfähigkeit’ (empathic resonance) des Körpers und der Stimme. Das ist das, was uns besonders die Sänger und Sängerinnen in den georgischen Dörfern immer wieder auf so berührende Art vermitteln.“

Imke:
„Diese zugewandten, im Leben stehenden Stimmen der Georgierinnen könnten für den Musiktherapeuten, für die Stimmtherapeutin und für die Stimmbildnerin eine Inspiration sein, ihren Ansatz zu überdenken: Gesucht wird nicht nach der perfekten Stimme, sondern nach der menschlichen Stimme. Einer Stimme, die fähig ist, sich so auszudrücken, dass sie wahrhaftig klingt, und die in Resonanz mit anderen Stimmen gehen kann. Im Gesang entsteht ein authentischer Klang durch Empathie (auch mit sich selbst) und durch den Mut, die eigene Kraft und seine Verletzlichkeit zu zeigen. Immer wenn ich mit Georgiern gesungen habe, war es für sie wichtig, mich als ihren Gast in den Gruppenklang zu integrieren, und sie scheuten ihre Tränen nicht, wenn ich einen ihrer Soloparts übernahm. Eine gegenseitige Verbeugung.“

Nana:
„Es berührt mich immer zutiefst, wenn ich bei meinen Seminaren die Wirkung von georgischen polyphonen Liedern auf Menschen im Westen sehe. Schon oft durfte ich erleben, wie sich beim Singen von unseren Liedern für die Teilnehmerinnen im Gesamtklang der Harmonien ihre Stimmen öffneten und sie einen Ausdruck fanden, der ihnen vorher unbekannt war. Wenn Menschen aus dem Westen unsere Lieder singen, spiegelt das uns Georgiern zurück, wie wichtig es ist, unser musikalisches Erbe zu pflegen und zu erhalten. Wenn wir Georgier unseren Mund öffnen, um zu singen, dann suchen unsere Augen und Ohren auch gleich nach anderen Stimmen, die dazu kommen könnten. Innerhalb unserer Musik hat die Einsamkeit und Isolation unserer modernen Welt keinen Raum. Durch diese geschätzte Lebensader lassen wir alles fließen, was uns wichtig ist: Die Weisheit unserer Vorfahren, den Herzschlag der Erde, das Geheimnis unserer Unsterblichkeit…“

Dieser Artikel ist eine gekürzte Fassung von „Lofzang op hemel en aarde“, Relief – Kunstzinnige Therapie, Jahrgang 13, Nr. 4, Zeist/NL, Oktober, 2012 (alle Rechte bei den Autorinnen)

 

Die Autorinnen:

Imke McMurtrie
ist Sängerin, Atem- und Stimmbildnerin, Musikethnologin und Autorin. Sie studierte Pädagogik, Musik und Theater an der Universität in München und Berlin. Sie ist Dozentin für Atem- und Stimmbildung im Fachbereich Musiktherapie an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg und an der European Academy of Healing Arts, unterrichtet in privater Praxis in Hamburg und Lüneburg und gibt internationale Fortbildungsseminare für Atem- und Stimmbildung und georgische polyphone Lieder.

Madge Bray
ist Sängerin, Sozialunternehmerin (social entrepreneur) und Therapeutin. Sie stammt aus einer traditionellen schottischen Sängerfamilie. Sie begann ihre berufliche Laufbahn als Pionierin der therapeutischen Arbeit über Kindesmissbrauch auf internationaler Ebene. In der georgischen Polyphonie fand sie ein uraltes Harmonisierungsmittel von weltweiter Bedeutung. Gemeinsam mit Nana gründete sie das Projekt Braveheart Georgia (www.braveheartgeorgia.org) und ist heute dessen Mentorin. Madge lebt in Edinburgh und in Tiflis/Georgien.

Nana Mzhavanadze
wurde in eine Familie traditioneller “Songmaster” in der Region Gurien in West-Georgien geboren. Sie lernte ihr musikalisches Handwerk “auf dem Schoß ihrer Großeltern”.
Sie studierte am Staatlichen Konservatorium in Tiflis, wo sie sich auf traditionelle georgische Musik spezialisierte, aber auch auf die Wiederbelebung der georgischen geistlichen Gesänge, die unter der Sowjetherrschaft nicht öffentlich gesungen werden durften. Heute ist sie Projektmanagerin von Braveheart Georgia
(www.braveheartgeorgia.org).