Musiktherapeutischer Klinikspaziergang

Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie (Märkische Kliniken – Klinikum Lüdenscheid)

Von Patrick Walraf

Nähert man sich dem Klinikum Lüdenscheid über die Zufahrtstrasse, fällt der moderne, vierstöckige, grün getäfelte Hauptbau zuerst auf. Dieser beherbergt fast alle somatischen Abteilungen. Das Klinikum Lüdenscheid ist als größtes Krankenhaus Südwestfalens für die Gesundheitsversorgung mehrerer Städte, Lüdenscheid, Brügge, Halver, Kierspe und der ländlichen Gebiete im Märkischen Kreis entlang der Autobahn A 45, der so genannten „Sauerlandlinie“, zuständig. 28 Fachabteilungen befinden sich in dem Klinikkomplex.
Links neben dem Hauptbau befinden sich die zweigeschossigen Gebäuderiegel, in denen die Verwaltung sowie die so genannten „Psych-Fächer“ Allgemeinpsychiatrie, Kinder- und Jugendpsychiatrie und Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie angesiedelt sind. Diesen Gebäuden ist die frühere militärische Nutzung noch anzusehen, natürlich wurden sie renoviert und saniert und bieten in ihrem Innenraum ein modernes Ambiente. Die umliegenden Parkplätze sind von einem beeindruckenden Bestand an alten Bäumen gesäumt, der, nach den meist schneereichen sauerländischen Wintern, im Frühjahr durch üppiges Grün das Auge erfreut.
Die Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie befindet sich neben anderen kleineren somatischen Abteilungen in zwei der vorgenannten Gebäuderiegel, in Haus 2 die Station mit 23 Betten sowie einige Arztzimmer nebst Physiotherapie im Erdgeschoss, in Haus 3 die Ambulanz, die Funktionsbereiche (Gruppentherapie, Kunst- und Gestaltungstherapie, Tanz- und Ausdrucks- sowie Musiktherapie), weitere Arztzimmer und die Tagesklinik. Insgesamt sind die Räume sachlich mit einem Hang zum Analytischen eingerichtet. Naturgemäß bietet der große Gruppenraum, in dem auch Tanz- und Musiktherapie stattfindet, die meisten Sinneseindrücke.
Klinikdirektor und Gründer der psychosomatischen Abteilung ist Chefarzt Dr. Gerhard Hildenbrand, die stellvertretende Leitung hat Oberärztin Doris Bartels inne.
Das Grundkonzept der Klinik
Grundlegend für die Behandlung ist die psychodynamische Sichtweise der Genese von psychosomatischen Erkrankungen. Der Patient wird vor dem Hintergrund seiner biographischen Entwicklung behandelt. Die komplexen Wechselwirkungen zwischen den biologischen, körperlichen, seelischen und sozialen Aspekten werden aufgegriffen. Verhaltenstherapeutische, systemische, traumatherapeutische sowie neurobiologische Elemente werden in das psychodynamische Grundkonzept integriert. Probleme und Konflikte können erkannt und die Sprache der Symptome verstanden werden. Gemeinsam mit dem Patienten wird ein „Raum der Möglichkeiten“ entworfen, in dem er seine Ressourcen erleben und weiterentwickeln kann. Dies soll eine Bewältigung der Erkrankung ermöglichen und so mehr Lebensqualität bieten.

Multimodalität
In der Psychosomatik spielt der Gedanke einer multimodalen Behandlung von Erkrankungen eine zen­trale Rolle. Daher werden in unserer Klinik folgende, gleichwertig nebeneinander und ineinander greifende Therapien angeboten. Dabei ist zwischen regelhaften (für alle Patienten) und indikativen (nach Verordnung) Verfahren zu unterscheiden. Die Behandlung entspricht den Vorgaben der psychosomatisch-psychotherapeutischen Komplexbehandlung bei psychischen und psychosomatischen Störungen und Verhaltensstörungen bei Erwachsenen (OPS 9.63). Dementsprechend werden die Patienten in festen Bezugsgruppen (halboffene Gruppen bedingt durch Aufnahme und Entlassung) behandelt. Da eine solche Gruppe gemeinsam an allen regelhaften Verfahren teilnimmt, entsteht ein „roter Faden“ zwischen den therapeutischen Angeboten: was in der Gruppentherapie besprochen wurde, kann in der Musiktherapie emotional durchlebt werden oder in der Gestaltungstherapie sichtbar werden, Erlebnisse aus den künstlerischen Verfahren werden in der ärztlich-psychotherapeutischen Einzeltherapie bearbeitet usf. Es wird großer Wert auf eine poststationäre und ambulante Anschlussbehandlung gelegt. Hierbei kann auf das vielfältige Angebot der Ambulanz zurückgegriffen werden.

„Teamplayer“
Im Hintergrund einer psychosomatischen Behandlung spielt die Zusammenarbeit des multiprofessionellen Behandlerteams eine sehr wichtige Rolle. Ein intensiver Austausch findet in den Übergaben und Teamsitzungen statt, das Verständnis der Psychodynamik des einzelnen Patienten sowie der jeweilig aktuellen Gruppendynamik wird hierdurch entwickelt und vertieft.

Ausbildungsinstitut
Die Psychosomatische Klinik bietet die Möglichkeit der fachärztlichen Ausbildung (Facharzt/-ärztin für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Zusatzbezeichnung Psychoanalyse, Zusatzbezeichnung Psychotherapie – fachgebunden). Für das Team bedeutet es eine systemimmanente Fluktuation ärztlicher Kollegen. Neben dem Chefarzt und der Oberärztin gibt es da nur wenige feste Größen, wie zum Beispiel die Kunst- und Gestaltungstherapeutin. Andererseits ist die Zusammenarbeit mit neuen Kollegen auch immer wieder eine sehr bereichernde Angelegenheit.

Und die Musiktherapie?
Die Musiktherapie ist als Regelangebot für die stationären Patienten eine feste Größe (in Einzelfällen besteht eine Möglichkeit der Beurlaubung aufgrund von Kontraindikationen, z. B. bei möglicher Reizüberflutung infolge zurückliegender Traumatisierung). Einerseits ist die Musiktherapie berüchtigt wegen möglicher emotionaler (Neben-)Wirkungen bzw. aufschlussreicher Erkenntnisse über das eigene Verhalten im Gruppengeschehen, andererseits gerade auch deswegen geschätzt, da sie Entwicklungen und Erfolgen Raum bieten kann. Wie zu erwarten, sind neue Patienten zuerst einmal skeptisch, erleben sich selber als unmusikalisch, denken eher an die leistungsorientierte Seite des Musikalischen (einen Rhythmus oder eine Melodie spielen, zusammenspielen können). Hier empfinde ich es als sehr wertvoll, die Patienten, welche schon länger in der Klinik sind, von ihren Erfahrungen berichten zu lassen. Einerseits können sie stets die anfängliche Skepsis gegenüber der Methode bestätigen, andererseits aber auch beschreiben, welche therapeutischen Prozesse sie erlebt haben. Als Therapeut ergänze ich die Erlebnisse mit dem Beschreiben einer Art „2-Säulen-Modell“ für die Musiktherapie: Säule 1: Gefühle zulassen, wahrnehmen, annehmen und ausdrücken lernen. Säule 2: Gruppenimprovisation, d. h. das spontane Zusammenspielen auf Instrumenten, als Abbild des Themas „Ich und die (Um-)Welt“. Hier erkläre ich meine Hypothese der Analogie zwischen dem sozialen Erleben im musikalischen Gruppenprozess und dem „Alltags“-leben. Häufig berichten hier auch Patienten von der Unfähigkeit sich Gehör zu verschaffen, sich abzugrenzen usf. Diese Themen können im „Spielraum“ der Musiktherapie bearbeitet werden.
Als Einstiegshilfe für neue Patienten hat sich übrigens sehr bewährt, die Wahrnehmung auf das Phänomen Klang zu lenken. Die anderen Bestandteile der Musik wie Melodie und Rhythmus dürfen erst einmal „vergessen“ werden. Die verbale Einladung zum Spiel lautet: „Suchen Sie einen Klang, der sie anspricht“.

Regeln in der Musiktherapie

aus Sicht des Musiktherapeuten
Ich stelle mir meinen Interventionsgestaltungsraum wie einen fiktiven Schieberegler vor, ähnlich dem Lautstärkeregler alter Stereoanlagen. Auf der einen Seite des Reglers steht „frei“, auf der anderen „strukturiert“. Je nach Notwendigkeit versuche ich, auf der so entstandenen Skala, die richtige Intervention zu gestalten nach dem Motto: „so wenig Strukturvorgabe wie möglich, so viel wie nötig“. Immer wieder eine spannende Herausforderung.

aus Sicht der Patienten
Neuen Patienten stelle ich die „Stopp-Regel“ als einzige für die Musiktherapie während des gesamten Behandlungszeitraums gültige Regel vor. Diese Regel soll einen Schutz vor Überreizung, Überforderung bieten. Gleichzeitig bietet diese Regel ein Übungsfeld, in dem die Patienten lernen können, sich mitzuteilen und Grenzen zu setzen. In den Therapiestunden wird zudem auch bald deutlich, dass die Patienten einzeln und miteinander sich implizite, d. h. nicht ausgesprochene Regeln setzen: z. B. das Instrument nicht zu wechseln um nicht zu stören, die „Harmonie“-Regel als Ausdruck eines inneren Wunsches nach einem konfliktfreien Raum usf. Ich hinterfrage die Notwendigkeit dieser Regeln und versuche mit den Patienten die biographischen Hintergründe zu ergründen.

Status der Musiktherapie bei Kollegen
Von Seiten der Klinikleitung empfinde ich sehr hohes Vertrauen und Wertschätzung für Art und Inhalt meiner Arbeit. Dies zeigt sich auch in Zusammenarbeit mit den anderen ärztlichen und nicht ärztlichen Kollegen. Die gemeinsame Arbeit am Patienten findet auf Augenhöhe statt, Wahrnehmungen der unterschiedlichen Berufsgruppen werden ernst genommen, etwaige kontroverse therapeutische Einschätzungen fruchtbar diskutiert.

Zwei Welten
Wenn ich die fachliche Fundierung meiner Arbeit reflektiere, fällt mir das Begriffspaar „zwei Welten“ als passende Überschrift ein. Zuerst in der Bewegung zwischen tiefenpsychologischem Denken und systemischen Methoden. Diese erlebe ich nicht als gegensätzlich sondern als sich ergänzend. Gerne wähle ich für meine Arbeit die Bezeichnung „Musiktherapie – Arbeit mit inneren und äußeren Systemen“. Die inneren können tendenziell mit Hilfe tiefenpsychologischer, die äußeren mit Hilfe systemischer Modelle und Theorien beschrieben werden. „Zwei Welten“ beschreibt aber auch das Vorhandensein von zwei Medien, der Musik und der Sprache, in einer psychotherapeutisch orientierten Musiktherapie. Die früher gerne verwendete Bezeichnung „nonverbale Therapien“ für die künstlerischen Therapien ist m. E. nicht nur nicht zutreffend sondern für psychotherapeutische Prozesse geradezu hinderlich. Mit meinem ersten Arbeitgeber hatte ich vor 20 Jahren einige kontroverse Diskussionen zu dem Thema geführt. Die „zwei Welten“ Sprache und Musik gleichen zwei Bewusstseins- und Seinszuständen des Menschen, diese zu nutzen ist wertvoll. Fritz Hegis Titel „Übergänge zwischen Sprache und Musik“ beschreibt treffend die therapeutische Kunst des Hin- und Hergehens zwischen diesen beiden Welten. Dabei ist mir der fragend-phänomenologische Umgang mit sowohl musikalischen als auch sprachlichen Äußerungen des Patienten wichtig, im Sinne eines „den Dingen auf den Grund gehen“. Einige Patienten erleben dies am Anfang unter Umständen als unangenehm, viele schätzen aber mit der Zeit dieses genaue Betrachten und Nachfragen.

Prozesse
in der ambulanten Gruppe
Die Tanztherapeutin und ich bieten in den Klinikräumlichkeiten, im Rahmen unserer Zulassung als Heilpraktiker (Psychotherapie), Einzel- und Gruppentherapie für selbst zahlende Patienten an. Diese ambulante Arbeit, mit zuvor stationär behandelten Patienten, hat sich für mich als sehr erkenntnisreich herausgestellt. Am Ende der stationären Behandlung wird aufgrund des intensiven, multimodalen therapeutischen Behandlungsprozesses eine Vielfalt an Erkenntnissen und Ideen entwickelt und „mitgenommen“ – ich vergleiche dies oft mit einer Art hochdosierter Vitaminkur. Da diese „Vitamin“-Dosis im Alltag sinkt, erfolgt die Umsetzung von Veränderungen ungleich kleinschrittiger, es gibt Misserfolge, Stagnation usf. Im Rahmen der ambulanten Arbeit diese kleinen Schritte begleiten zu dürfen, hat mir den Ausblick ermöglicht, Veränderungs- und Entwicklungsprozesse besser abschätzen zu können und einen „langen Atem“ zu entwickeln.

 

Der Autor:

Patrick Walraf
geb. 1964
Dipl-Musikpädagoge Rhythmik, Dipl.-Musiktherapeut, Hdk Berlin
Systemischer Supervisor ifs Essen
Freie Praxis seit 1992:
–    Kinder-/Jugendliche mit Entwicklungsstörungen
–    Psychosomatik
–    Gerontopsychiatrie
–    Phase F (Menschen im Wachkoma)
–    Erwachsene mit frühkindlichem Autismus
–    Systemischer Supervisor
–    Tagesklinik für Psychiatrie (Wuppertal)
–    seit 2010 Klinik f. Psychosomatische Medizin und Psychotherapie
Fortbildungsangebote:
–    Musiktherapie für Menschen im Wachkoma
–    Systemische Methoden in der Musiktherapie
–    Mitarbeit in Arbeitsgruppen der DGMT/DMtG

Quellen:

Angaben zur Klinik: www.maerkische-kliniken.de