Schwerpunktthema

Über sinnlich Erlebbares spüre ich meine Umgebung und in ihr mich selbst

Von Dr. Jan Sonntag

 

Jan Sonntag im Gespräch mit Nicola Nawe (NiNa) und Eckhard Weymann (EW) über Demenz und therapeutische Atmosphären

EW: Deine ersten beruflichen Erfahrungen mit dementen Menschen hast du vor mehr als 15 Jahren hier in Hamburg gehabt. Was hat dich daran besonders interessiert oder herausgefordert?
Zunächst fiel mir dieses Arbeitsfeld eher zu – ich hatte nicht danach gesucht und war wie die meisten Musiktherapeuten mangels Berücksichtigung der Themen Alter und Demenz im Studium auch nicht darauf vorbereitet (dieser Mangel wird glücklicherweise allmählich überwunden, z.B. durch den Masterstudiengang in Würzburg). Aber genau das Gefühl, unbekanntes Terrain zu betreten, weckte wahrscheinlich mein Interesse: Wir hatten es mit Pionierarbeit zu tun – sowohl in der Musiktherapie als auch in der Entwicklung angemessener Betreuungsmodelle in der stationären Pflege von Menschen mit Demenz.
Intensiv erfasst wurde ich von dem Arbeitsfeld durch die Menschen mit Demenz selbst, durch die wunderbare Möglichkeit, sie mit Musik zu begleiten. Die Begegnungen der ersten Monate auf dem spezialisierten Demenzwohnbereich eines Hamburger Pflegeheims berührten mich tief und nachhaltig. Ich hatte bis dato noch kein musiktherapeutisches Arbeitsfeld kennengelernt, in dem die Musik so unmittelbar spürbar wirksam werden konnte. Nirgendwo sonst fand ich Immanuel Kants Rede von der Musik als Sprache der Gefühle deutlicher bestätigt. (Er war übrigens selbst dement am Ende seines Lebens.) An keinem anderen Ort hatte ich bis dahin erlebt, wie das Sinnlich-Affektive in musikalischen Begegnungen so konkret gleichsam mit den Händen zu greifen war. Die Spontaneität und das Unverstellte im Ausdruck der Demenzbetroffenen verblüfften und beeindruckten mich.
Flankiert wurde dieses emotionale Interesse von Fragen, die das Phänomen Demenz an mich und an die modernen Leistungsgesellschaften stellt. Demenz scheint mir fundamentale anthropologische, ethische und philosophische Themen zu berühren, wie: Was macht den Menschen aus? Was ist das Geheimnis „echter“, existentieller Begegnungen? Welchen Stellenwert haben sinnliches Gespür, leibliche Präsenz und Gefühle in einer „hyperkognitiven“ Gesellschaft?
Und schließlich weckte das Arbeitsfeld bereits im ersten Jahr meiner Tätigkeit mein Interesse an konzeptionellen Fragen der Gestaltung von Therapie mit Menschen an ihren Orten der Pflege und des Wohnens. Menschen, von denen die meisten beim nächsten Kontakt nicht explizit erinnern, wer ich bin; die mit „Musiktherapie“ nichts anfangen können, sondern sich in der Kirche, der Schule, zu Hause oder bei Freunden wähnen; die sich verunsichert fühlen, wenn sie aus ihrer Alltagsumgebung in einen fremd anmutenden (Musik-)Raum voller bizarrer Gegenstände geführt werden. Ich entdeckte für Menschen mit Demenz die alltagsnahe Arbeit im offenen Setting oder mitten im Leben, die ich gemeinsam mit Fachkollegen aus Therapie, Medizin und Pflege bis heute weiterentwickele.

EW: Du zitierst in deinem Buch einen Heimleiter mit dem interessanten Statement „Musik ist kein Schlüssel, um die Dementen zu verstehen, sondern ein Weg für die Dementen zu erkennen, dass es Wirklichkeit um sie herum gibt“.
Dieser Ausspruch Klaus Krüsmanns, einem feinsinnigen und engagierten Begleiter der Musiktherapie in Hamburg, hat mich beeindruckt. Erkenntnisse wie diese führten mich später zum Atmosphären-Konzept als Bezugstheorie. Die Wirklichkeit, von der Krüsmann spricht, das sind die sinnlichen Wirkungen der Umgebung, die subtil auf jeden Menschen Einfluss nehmen, aber nur selten bewusst wahrgenommen werden. Viele Menschen mit Demenz scheinen ganz in ihre eigene Welt versunken zu sein, wirken abwesend und fern, apathisch oder auf eine Art „versponnen“. Dennoch sind sie natürlich leiblich spürend anwesend und gerade wegen ihrer kognitiven Schwächen besonders empfindsam für Atmosphärisches. Musik kann als prototypisch atmosphärisch angesehen werden, weil die den Hörer umgibt und gleichsam ortlos oder überall ist. In therapeutischen Situationen spricht die Musik eine Einladung aus, wieder in Kontakt mit der Umwelt zu treten, aus der dementiellen Versunkenheit aufzutauchen, für einen Moment wieder zu sich und zur Welt zu kommen: Da draußen ist etwas, ist jemand, hier und jetzt, das und den ich, ja ich, sinnlich wahrnehmen und mit anderen teilen kann. Häufig geht dieses Auftauchen mit starkem Evidenzerleben sowohl auf Seiten des Therapeuten als auch bei den betroffenen Personen einher – eine besondere Situation, Augenkontakt, Lächeln… strahlende Freude.

EW: Das philosophisch-psychologische Konzept der Atmos­phäre hast du als besonders passend entdeckt für die Arbeit mit demenzkranken Menschen. Was beinhaltet dieses Konzept? Worin besteht die Verbindung zur Demenz? Was sind therapeutische Atmosphären?
Bei Atmosphären handelt es sich um eine basale Qualität subjektiven Erlebens, die ein hohes Potential intersubjektiver Übereinstimmung mit sich führt, da sie durch dingliche und soziale Umgebungen vermittelt wird. Die sensibel von der Phänomenologie menschlichen Erlebens „abgespürte“ und klug durchdachte ästhetische Theorie von Atmosphären bietet einen hervorragenden Verstehenszugang zur Erfahrungswelt der Musiktherapie bei Demenzen und fungiert gleichzeitig handlungsleitend für die therapeutische Praxis.
Kern des Atmosphären-Konzepts ist die Auffassung, dass wir Dinge nicht wahrnehmen, wie sie sind, sondern wie sie uns erscheinen, wie sie auf uns ausstrahlen und ihre Umgebung sinnlich-affektiv färben. Atmosphäre, das ist nach Gernot Böhme die zwischen dem Wahrnehmenden und dem Wahrgenommenen auftretende Beziehung von Umgebung und Subjekt, die bestimmt, wie wir uns fühlen, dort, wo wir uns befinden. Atmosphären entsprechen einer früh in der Entwicklung des Menschen entstandenen Erlebnisqualität, die im sinnlich gespürten Diesseits kognitiver Vorgänge jeden Menschen subtil erfasst. Alte Menschen mit fortschreitender Demenz werden zunehmend sensibel für Atmosphären. Das liegt sowohl in der abnehmenden Fähigkeit begründet, gestaltend auf die Umwelt einzuwirken als auch sich von Umgebungseinflüssen kognitiv zu distanzieren. Somit sind sie schädlichen, malignen Atmosphären gewissermaßen ausgeliefert, aber gleichzeitig besonders empfindsam für wohltuende, benigne Atmosphären. Letztere wie erstere entstehen im Alltagsgeschehen eher wildwüchsig und bar bewusster Absicht.
Therapeutisch nenne ich Atmosphären, wenn sie bewusst und gekonnt zum Wohle und Wohlbefinden der Demenzbetroffenen gestaltet werden. Therapeutische Atmosphären zeichnen sich durch bestimmte Merkmale aus, sind einladend, freundlich, ebenso handlungsanregend wie -entlastend, bergen Unvorhergesehenes und Unvollständiges, spenden Geborgenheit. Und sie lassen sich in gewissem Maße methodisch geleitet „herstellen“. Therapeutische Atmosphären, die ich als Schwellenraum zwischen Leben und Tod definiere, bilden den Kern des anwendungsbezogenen Atmosphären-Ansatzes.

NiNa: Du möchtest Demenz nicht pathologisieren, sondern beschreibst sie z.B. als eine mögliche Form, das Alter zu leben und zu erleben. Ja, sie erscheint dir sogar nicht selten in einem positiven Licht. Deshalb sei die provokative Frage erlaubt: „Wozu braucht es dann (Musik)Therapie?“
Provokativ? Hm… Ist es nicht heute selbstverständlich, Therapie auch neben dem kurativen Bereich in Prävention und Palliation anzusiedeln? Kommen nicht Ansätze ressourcenorientierter Arbeit recht gut ohne Störungs- oder Krankheitskonzepte aus? Und was ist mit dem künstlerischen Standpunkt? Im Lichte der Künste erscheint doch recht eigentlich nicht „Krankheit“, sondern viel eher eine bestimmte Ausdrucksform des Lebens. So betrachten einige Demenzexperten Altersverwirrtheit heute schlicht als Lebensphase, die für viele Betroffene sogar Positives bereithält. In entsprechender Umgebung und angemessen begleitet zeigen sie häufig höheres subjektives Wohlbefinden, mehr Genussfähigkeit und Freude als Gleichaltrige ohne Demenz und schenken damit auch ihren Familienangehörigen und professionellen Begleitern neue Beziehungserfahrungen – auch und besonders in musikalischen Begegnungen.
Nicht nur Menschen mit Demenz werden durch Pathologisierung stigmatisiert und ins gesellschaftliche Abseits gestellt. Probleme, die als gesamtgesellschaftliche Aufgabe betrachtet werden sollten, werden dadurch in den Aufgabenbereich der Medizin verlagert, die – etwa im Falle der Demenz – reichlich wenig damit anfangen kann. Selbst renommierte medizinische Forscher wie Konrad Beyreuther mahnen zu Bescheidenheit: Wir können auch in absehbarer Zukunft Demenzen nicht verhindern, müssen uns also gesellschaftlich auf die wachsende Zahl altersdementer Personen einstellen, ihnen Lebensqualität und Teilhabe ermöglichen.

NiNa: Und die Frage nach der Therapie?
Auf eine schleichende und von wirtschaftlichen Kräften angetriebene Pathologisierung vieler Lebensbereiche mit einer Therapeutisierung zu reagieren, finde ich fragwürdig. Es ist notwendig, den Therapiebegriff zu überdenken. Mein Therapieverständnis geht davon aus, dass Menschen existenziell aufeinander bezogen und voneinander hilfeabhängig sind. Therapie verstehe ich im Bereich Demenz als eine Form der Begleitung oder des Dienens, ziemlich genau im Sinne des griechischen Wortes therapeia. Der Mensch muss nicht als krank erklärt werden, nur weil er einmal mehr Hilfe oder Begleitung benötigt als sonst oder als andere (Kinder benötigen schließlich auch Hilfe, selbst wenn ihnen nichts „fehlt“).

NiNa: Subjektives Wohlbefinden, auch Schönheit stehen im Zentrum deiner therapeutischen Bemühungen. Wie könnte man das von dem oft inflationär verwendetet Modebegriff „Wellness“ abgrenzen? Gibt es auch Ähnlichkeiten?
Der auf Selbstoptimierung ausgelegte Fitness- und von regressivem Komfortbedürfnis genährte Wellnesskult ist natürlich schwer auszuhalten und weckt reflexartige Nicht-mit-mir-Reaktionen. Neben all dem kommerziellen Tand jedoch, der den Wellnesskult umgibt, liegt aber ein ideeller Gewinn darin, dass Menschen beginnen, ihr eigenes Befinden zu spüren und zum Anliegen ihrer Lebenskunst zu machen.
Wenn ich im Atmosphären-Ansatz das ästhetische Erleben als Grundbedürfnis des Menschen verstehe, so genau in diesem Sinne: Über sinnlich Erlebbares (nicht etwa in normativem Sinne Schönes) spüre ich meine Umgebung und in ihr mich selbst. Dieser Selbst- und Weltbezug verschafft bereits häufig das Gefühl von Wohlbefinden. Das entspricht der anerkannten Tatsache, dass Menschen bei starker Ausprägung der Demenz auf sehr basaler Ebene begleitet werden müssen. Hier ist das Gefühl von Aufgehobensein schon ein wichtiges Therapieziel, da sie dafür nicht mehr selbst Sorge tragen können. Beliebtes Beispiel: Ein dudelndes Radio, dass zwar unterschwellig Unbehagen auslöst, aber nicht als die Quelle dieses Gefühls ausgemacht, wird (geschweige denn ausgemacht werden kann).

EW: Recht konkret hast du ein Stufenmodell entwickelt, dass Orientierung schaffen kann im therapeutischen Handeln mit Demenzkranken. Gibst du bitte einige Beispiele?
Die Darstellung des Stufenmodells verleiht der Dissertation streckenweise den Charakterzug eines Lehrbuchs. Ausgehend von der Untersuchung, wie Therapeutische Atmosphären entstehen, erläutere ich Vorgehensweisen, die atmosphärenbezogenes Arbeiten Schritt für Schritt beschreiben. Auffälliges Merkmal des Modells ist der hohe Stellenwert therapeutischen Haltens und Verhaltens im Vorstadium zu interaktionellem Kontakt. Da atmosphärebezogenes Arbeiten mit schwer dementen Menschen häufig schlicht bedeutet, gemeinsames Anwesendsein im „wohlgestimmten“ Raum zu ermöglichen, fand dieser Aspekt besondere Beachtung.
In letzter Zeit beschäftige ich mich (auch angeregt durch deinen Text über das Nicht-Wissen, Eckhard, der in Heft 3/2014 der Musiktherapeutischen Umschau erscheinen wird) noch einmal verstärkt mit dem Aspekt des Abwartens. Im Feld der Altenpflege ist viel von Aktivierung und Beschäftigung die Rede, wodurch mitunter der Eindruck entsteht, dass den Rückzugstendenzen von Pflegeheimbewohnern mit übersteigert fordernder Aktivität begegnet wird. Abwarten, was sich von sich aus zeigen (oder eben im Verborgenen bleiben) möchte, den Dingen ihren Lauf lassen, das finde ich ethisch wie therapiemethodisch betrachtet immens wichtig. Abwarten bedeutet häufig nichts tun, jedoch niemals abwesend sein. Der Therapeut ist präsent, begleitet den Prozess mit wohlwollender Aufmerksamkeit und widmet sich gesamtsinnlich spürend den Stimmungen im Raum.
NiNa: Demenz beinhaltet ja oft Schmerzhaftes, Zerfall und spürbare Todesnähe, vielleicht auch manchmal Destruktives. Dies gilt es oft auszuhalten, so schreibst du, bis erst allmählich wieder Zusammenhänge auftauchen. Kannst du anderen Kollegen vielleicht ein paar Anregungen geben, wie sie das Schwierige und Fragmentierte in sich bewahren können, bis wieder Verbindungen und Bedeutungen erkennbar werden?
Das in einer Interviewantwort unterzubringen, ist nicht leicht. Vielleicht ist eine annehmende Haltung hilfreich, die Zerfall und Sterben als dem Leben zugehörig erleben lässt – in der Dissertation spreche ich von Gelassenheit. Vielleicht ist es ein ästhetisches Verständnis, das Schönheit nicht im Vollkommenen, sondern gerade im Unvollkommen zu entdecken ermöglicht. Vielleicht eine therapeutische Bescheidenheit angesichts der begrenzten Einflussmöglichkeiten am Lebensende. Vielleicht hilft vor allem die Fähigkeit, das, „was da ist“ (ein Lieblingsausspruch des Free-Jazz-Pioniers Peter Kowald) bei sich und anderen zu würdigen, ohne es verändern zu wollen. Mit Sicherheit gehört eine stabile psychische Verfassung dazu – oder Ruhe des Gemüts, wie es die Alten nennen.

NiNa: Der Psychiater Wojnar, auf den du dich viel beziehst, hat darauf hingewiesen, dass wir alle uns jahrelang darin üben, im „Hier-und-Jetzt“ zu leben, während die Demenz dieses Erleben als „Geschenk“ ganz selbstverständlich in sich trägt. So könnte man Menschen mit Demenz auch als „Gegenwartsforscher“ bezeichnen. Was hältst du von so einer Formulierung?
Eine hochbetagte schwer demente Frau meinte einmal zu mir sinngemäß: „Die Vergangenheit ist mir egal. Ich hab viele Jetzt. Das genügt“.
Ein „Leben im Augenblick“ (Untertitel eines Buches von Wojnar, der neben Dorothea Muthesius mein wichtigster Mentor in Sachen Demenz war) ist, was etwa viele Meditierende anstreben, wenn sie östlichen Lehren folgen, denen zufolge Gedanken an die Vergangenheit und an die Zukunft das Bewusstsein verschleiern. (Der Vergleich hinkt natürlich, aber Hinken ist schließlich auch eine Fortbewegungsart.) Gegenwartsforscher könnten wir Menschen mit Demenz in dem Sinne bezeichnen, als sie besonders rezeptiv für Gegenwärtiges sind, was sie ja auch so empfänglich macht für die Wirkung von Atmosphären. Gleichzeitig tragen sie ihr ganzes Leben gleichsam leibhaftig mit sich, sind weder leeres Blatt noch wirklich ohne Gedächtnis. Sie leben in ihrer und in unserer Welt.

NiNa: Bleiben wir noch einen Moment bei der Forschung mit einer Frage an den Wissenschaftler Jan Sonntag, der schrieb: „Ich vertrete die Auffassung, dass eine wissenschaftliche Arbeit, die dem künstlerischen Medium nahe bleiben soll, noch eine Ahnung von Kunst entstehen lassen muss“ – kannst du ein Beispiel dafür nennen, wie du selbst diesen Anspruch in deiner Dissertation eingelöst hast?
Meine Forschungsarbeit ist auf dem Gebiet ästhetischer Forschungsansätze in künstlerischen Therapien angesiedelt und steht in Verbindung zu kreativen Methoden qualitativer Sozialforschung. In der Dissertation nutze ich Gedichte, Musiken und Bilder, um das Verständnis von Demenz zu erweitern und zu vertiefen, reflektiere kunstanaloge Einflüsse wie den Wert von Einfällen oder Tagträumen auf die Kategorienbildung und wähle eine Darstellungsform, die Anklänge an literarische Kunst zeigt, indem ich mich einer metaphernreichen Sprache sowie der Collagetechnik bediene. Dem wissenschaftlichen Fließtext werden erlebnisbezogene Texte (Poesie, Auszüge aus Romanen, Aphorismen – ich nenne sie „Anmutungszitate“) in Form von Einschüben zur Seite gestellt. Rückblickend ist wohl der sorgfältige und dem literarischen Schaffen ähnliche Umgang mit der Sprache das wichtigste künstlerische Moment meiner Forschungsarbeit. Sich vom Schreiben zu den (Forschungs-)Ergebnissen vorzuarbeiten, nicht umgekehrt – das ist in der Literatur Gang und Gäbe, in der Wissenschaft allerdings eher unüblich.

EW: Noch gibt es nicht genügend Einrichtungen, die wirklich auf Menschen mit Demenz spezialisiert sind. Mancherorts scheinen hoffnungsvolle Entwicklungen sogar rückläufig zu sein. Wie siehst du die Aussichten für die Verbreitung von demenzsensiblen Konzepten wie das der therapeutischen Atmosphären?
Selbst wenn die „Versorgung“ alter dementer Menschen unter einem großen wirtschaftlichen Druck zu stehen scheint: Das Interesse an menschenfreundlichen, ethisch fundierten und anwendungsbezogenen Konzepten ist immens. Eine stetig wachsende Anzahl von Musiktherapeuten (im Netzwerk „Musiktherapie für alte Menschen“ almuth.net zählen wir mittlerweile fast 300 Kollegen) leistet gute Arbeit im Bereich Demenz und orientiert ihre Arbeit an wissenschaftlich begründeten Konzeptionen, zu denen der Atmosphären-Ansatz zählt. Vermutlich wird es immer eine Auszeichnung besonders gut entwickelter Pflegekultur sein, wenn solche Ansätze wirklich, nicht nur auf dem Papier, sondern „mit Herz und Hand“ gelebt werden.
Was die ästhetisch-phänomenologisch informierte Ausrichtung des Atmosphären-Ansatzes angeht, so mache ich die Erfahrung, dass genau in der Besinnung auf sinnliches Erleben jenseits komplizierter theoretischer Konstrukte ein großes Potential interdisziplinärer Vermittlung musiktherapeutischer Arbeit liegt. Ob Mediziner, Pfleger, Seelsorger oder Sozialarbeiter: Mit der Bedeutung von atmosphärisch vermittelten Empfindungsqualitäten können viele etwas anfangen, ohne ihre eigene Fachrichtung dafür verlassen zu müssen.

NiNa: Musiktherapeuten werden oft nach dem Setting gefragt, in dem sie arbeiten. Beschreibe doch mal zum Schluss dieses Gesprächs dein Wunsch­setting…
Der Rahmen, den ich für meine Arbeit wähle und den ich mir künftig auch für Zusammenhänge außerhalb stationärer Altenpflege wünsche, ist die Arbeit mitten im Leben von Menschen mit und ohne Demenz. Das offene Setting mit den damit verbundenen Herausforderungen und Widersprüchlichkeiten sehe ich ergänzend zu herkömmlichen psychotherapeutischen Settings. Im Sinne von John Cage, der die Fusion von Musik und Leben forderte und im Sinne der Kunst als sozialer Plastik (Josef Beuys) resultiert dieser Ansatz in einer hohen Durchlässigkeit der Grenzen zwischen Therapie und Alltagsleben. Eine meiner Aufgaben ist es, dies wissenschaftlich zu begründen und die damit verbundenen hohen Ansprüche an Therapie und Therapeuten zu benennen. Die Durchlässigkeit betrifft den physischen Raum (Stichwort: Arbeit in Alltagsräumen), die zur Verwendung kommenden Mittel (Alltagsgegenstände, andere künstlerische Medien) und schließlich die beteiligten Personen (Patienten, Bewohner, Mitarbeiter, Angehörige). Schließen wir mit einem Beispiel:

Eine Frau liegt in Freizeitkleidung auf dem Sofa. Ein Mann sitzt an einem Tisch und beschäftigt sich mit den Resten eines Desserts. Ich sitze mit drei Frauen an einem weiteren Tisch und wir singen ein Lied zur Gitarrenbegleitung. Die offene musiktherapeutische Gruppe fällt heute in den Zeitraum der plan- und routinemäßigen Reinigung des Gemeinschaftsraumes nach dem Mittagessen. Inmitten des Liedes betritt Frau H., eine Mitarbeiterin der Reinigungsfirma, den Raum. Mit sich führt sie einen Wagen mit Putz­utensilien. Die türkischstämmige Raumpflegerin schaut verunsichert und irritiert. Nachdem auch ich eine kurze Irritation überwunden habe, winke ich sie herein, während die letzten Strophen des deutschen Volkslieds verklingen. Anschließend stimme ich das türkische Lied „Üsküdara“, ein altes Liebeslied aus Istanbul, an und beobachte, wie die demenziell veränderten Frauen sich von der sentimentalen Stimmung der Musik berühren lassen. Frau H. steigen Tränen in die Augen. Nachdem die Musik verklungen ist, folgt ein Gespräch über Herkunftsländer und die Gruppe stellt fest: Die Frau H. ist nicht die einzige, die von „weit her“ kommt und Sehnsucht nach ihrer Heimat hat. Während die Raumpflegerin dann beginnt, ebenso zügig wie behutsam ihrer Arbeit nachzugehen, spricht die Gruppe am Tisch – eine der Frauen stammt aus Ostpreußen, eine andere aus Pommern – noch eine Weile über „Heimat“.

 

Die Autorin:

Dr. Jan Sonntag
Dipl. Musiktherapeut FH/DMtG, Psychotherapie HPG, Yogalehrer BDY/EYU. Freiberufliche Tätigkeit als Therapeut, Forscher, Berater, Dozent und Autor hauptsächlich im Bereich Demenz. Vertretungsprofessor an der MSH Medical School Hamburg. Autor von „Demenz und Atmosphäre. Musiktherapie als ästhetische Arbeit“. jansonntag.de