Zum Mitmachen

Musiktherapeutisches im Alltag

Von Selma Suzan Emiroglu

Musik als Weg – Vom Gedankenlärm in die Stille

Das Nachdenken ist wohl die am meisten verbreitete Sucht. Wir erschaffen uns dadurch täglich aufs Neue unsere problembeladenen Lebensdramen. Aus diesem suchthaften Verhalten auszubrechen, um im vollkommenen Hier und Jetzt, im eigentlichen Leben zu landen, braucht Konsequenz ohne Anstrengung. Und eine stimmige Methode, einen Torweg. Wie gelange ich von der lärmenden Gedankenautobahn in den stillen Seinswald, ohne von einem negativen Gedankenporsche überfahren zu werden? Und wie komme ich auf der Suche nach innerem Frieden vorbei an den Sirenen namens Reiki, Geistheilung, kinesiologische Balance, Versöhnung mit deinem verlorenen Zwilling und deren Geschwistern, die so verführerisch aus den Selbsterfahrungs-Kliffen rufen und in die Prozess- und Seminarsucht locken? Ein Weg dahin ist die Musik.
Ich lade Sie nun ein, die allzeit verfügbare Präsenz über das Musiktor zu betreten. Wichtig dabei ist eine entspannte spielerische Haltung – bei den vorgestellten Praxen, beim eigenen Musizieren wie auch im Leben. Bevor Sie mit der lauschenden Ohrenpraxis (s. u.) beginnen, machen Sie sich auf zu einem stillen Morgenspaziergang nach einer Inspiration von Byron Katie1. Gehen Sie in Stille. Während Sie gehen, betrachten Sie alles, was Sie sehen, so, als hätte es keinen Namen. Nachdem sich auf diese Weise ein begriffsloser sinnlicher Kontakt eingestellt hat, beginnen Sie das Ding zu benennen, auf dem Ihre Augen ruhen, so als wären Sie Gott, derdiedas den Dingen zum allerersten Mal einen Namen gibt. Benutzen Sie nur Namen der ersten Generation. Zum Beispiel: Himmel, Blume, Beton, Schuh. Wenn Sie bemerken, dass sich die Gedanken eine Generation weiter wegbewegen (z.B. wunderbarer Morgen oder was für ein schöner Baum!) oder wenn Sie sich abgedriftet im Nachdenken wiederfinden: Bemerken Sie das, ohne es zu bewerten, interpretieren oder verändern zu wollen. Halten Sie behutsam inne. Seien Sie still. Kehren Sie dann zurück zum begriffsfreien Kontakt mit der Umgebung und zu einfachen, unkomplizierten Einwort-Namen der ersten Generation: Boden, Himmel, Frau, usw. Der Morgenspaziergang ist Meditation. Es geht ums Bemerken. Es ist eine Praxis in Stille.
Probieren Sie diesen Spaziergang gerne an einem anderen Tag mit den Ohren aus: Nehmen Sie direkten Kontakt auf und benennen Sie, was Sie hören. Oder Sie verwenden alle fünf klassischen Sinne und benennen, was Sie sehen, hören, riechen, spüren und schmecken.
Nachdem Sie von Ihrem Morgenspaziergang zurückgekehrt sind, lauschen Sie daheim in die Stille – wie klingt der Alltag? Was hören Sie in Ihrem Haus – den säuselnden Wind im Dach, das Knacken von Holzbalken, Ihre dumpfen Schritte auf dem Teppich…? Wie hört sich das Ausziehen der Straßenkleidung an – rrrrrrollt der Reißverschluss, schschschschabt die Regenjacke über den Arm, knissstsstsstert der Pullover an ihren Haaren…? Wie klingt ein Gang ins Bad – ändern sich die Schrittgeräusche auf den Fliesen, zischt es in der Toilette, gluckert das Wasser in den Spülbeckenrohren …? Was tönt in der Küche zu Ihnen, wie singt der Wasserhahn, scheppert der Topf, klappert das Messer …? Lassen Sie sich so von der Alltagsmusik ins Hier und Jetzt locken und lauschen Sie Ihrer Symphonie dieses Tages …
… nun kann es bei Musik(th)er(a­peu­te)n leicht passieren, dass Ihre Hand, Ihr Fuß, Ihr Mund das Gehörte nicht allein lassen können1. Lauschten Sie gerade noch dem einfließenden Spülwasser, bemerken Sie plötzlich Ihre Finger, die auf die Teller tippeln. Zum swingenden Kühlschrank gesellt sich – ohne es bewusst inszeniert zu haben – ein passender Messerklackerrhythmus beim Gemüseschnippeln. Bemerken Sie einfach, was geschieht und hören zu! Oder geben Sie bewusst weitere Impulse … Wie wäre es z. B. mit einer gemeinsamen musikalischen Kau-Improvisation am familiären Abendbrottisch? Knäckebrot und Brotchips eignen sich hervorragend dafür – Knack Knack knacknacknack … knurzzzzz … krrreck …
Fühlen Sie sich nun gelassener und präsenter als vor der Alltagsimpro?
Doch plötzlich improvisiert Ihr Sohnemann mit einem lautstarken Rülpsen weiter … und Sie bemerken, dass Sie gerade nicht erleuchtet sind – ganz gestresst im Hier und Jetzt. Es widerstrebt Ihnen, dem Rülpsen sinnlich zu lauschen und musikalisch zu antworten. Wie Sie auch Ihren Gedanken, Gefühlen und triggernden Situationen so gelassen begegnen können wie den Alltagsgeräuschen, zeigt Ihnen z. B. The Work2. So können Sie lernen, das Leben selbst spielend zu improvisieren – als ein riesiges Improtheaterstück, das vom göttlichen Regisseur inszeniert wird.
Warum gerade Musik als Weg? Das Reizvolle an Musik ist, dass sie meist lustvoll besetzt ist. Beim Musizieren schwingt kein Beigeschmack von Kranksein mit wie bei therapeutischen Übungen. Beim Musikhören fixieren wir kein Wunschziel wie Erleuchtung. Wir machen Musik nicht „um zu“, sondern weil wir gerne Musik machen. Das führt zu einer anhaltenden Motivation. Gesünder und glücklicher werden wir nebenbei:
Beim Singen werden Ängste abgebaut, beim Instrumentalspiel die Konzentration gefördert, beim Taktstampfen Erdung hergestellt; körperliche Flexibilität wird durch auf- und abwärmende Musikergymnastik3 erreicht; Bauchatmung4 an Blasinstrumenten zentriert; „bilaterale“ Percussion5 reguliert die Affekte; Stimmungen werden in der Musik hörbar gewandelt; Vibrationsübungen6 und Üben-im-Flow7 bringen entspannte Wachheit; Mentales Training8 und integrative Musikwahrnehmung9 schulen den Geist; die Hingabe beim Musizieren macht die innere Stimme hörbar, die sinnliche und fühlende Wahrnehmung nährt unser leibliches Menschsein … und last but not least leben wir Beziehung beim gemeinsamen Musizieren.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen ein spielerisches Leben mit Musik und verabschiede mich von Ihnen als Autorin dieser Rubrik der Musik und Gesundsein! Ihre Selma Suzan Emiroglu.

Die Autorin:

Selma Suzan Emiroglu
Geb. 1976. Musiktherapeutin, Physikerin mit Promotion im Bereich Psycho­akustik, Folkmusikerin. Derzeit musiktherapeutisch tätig mit Kindern und Jugendlichen mit geistiger Behinderung, Seminaren zur Burnout-Prophylaxe und begleitendem Einzelmusikcoaching.
Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!