Zum Mitmachen
Musiktherapeutisches im Alltag
Empathisches Surfbrett für Klangwellen – Musiktherapeutischer Flow
Von Selma Suzan Emiroglu
Wenn, wie bei Kindern inmitten eines Scheidungsprozesses, das Leben auseinander zu fallen droht, kann Musik inneren Halt geben. Einerseits bietet ein stimmiger Instrumentallehrer im regelmäßigen Unterricht eine verlässliche Stütze. Andererseits ist tägliches Musizieren in achtsamer, spielerischer Weise eine Insel, auf der das Leben an den Sorgen vorbeifließen kann. Im sogenannten Flow, im präsenten Einssein mit dem Musizieren. Eine solche Musiktankstelle nährt auch in sorgenfreien Zeiten mit Ruhe, Freude und Kontakt zu sich selbst. Die im Folgenden beschriebene Praxis ist inspiriert durch das Konzept Üben im Flow von Andreas Burzik und durch Gedanken zu Empathie von Marshall Rosenberg. Ich lade Sie ein, mit mir auf Klang-, Spür- und Gefühlswellen zu surfen.
Bevor Sie aufs imaginäre Surfbrett steigen, nehmen Sie mit Ihrem Instrument eine stabile und bequeme Haltung ein. Während des Wellenritts gilt es drei Ebenen wahrzunehmen, auf drei Dinge zu achten: Als Erstes nehmen Sie einen angenehmen Körperkontakt zu ihrem Instrument auf, überall dort, wo Sie es berühren. Experimentieren Sie dazu mit unterschiedlichen Körper- und Handhaltungen: Wie möchten sich Ihre Finger auf das Griffbrett stellen, so dass die Kraftübertragung optimiert wird und Sie einen wohligen satten Kontakt spüren? Wie möchten sich Mund und Zähne auf das Mundstück setzen, so dass sie eine satte taktile Verbindung zum Instrument wahrnehmen? … Als zweiten Fokus richten Sie Ihre Aufmerksamkeit auf den Klangraum. Anstatt dabei mit Ihrer Kontrollinstanz die Tonhöhe auf „richtig“/„falsch“ zu beurteilen, entwickeln Sie Ihren Klangsinn. Lauschen Sie mit ästhetisch-sinnlichem Bewusstsein auf das „Wie?“ des Klanges. Lauschen Sie in die Obertöne, auf Klangfarbe und -struktur, während Sie so lange mit Ihrer Spielweise experimentieren, bis Ihnen eine Klangqualität gefällt. Klingt es hier etwas heller, wenn der Finger sich etwas mehr kippt? Hören Sie da etwas Raues, wenn Sie mit mehr Druck blasen? Fliegt hier eine neckische schmetternde Wolke vorbei, wenn der Bogen etwas schräger streicht? … Nachdem Sie sich sinnlich mit dem Klang verbunden haben, etablieren Sie als Drittes ein Gefühl der körperlichen Anstrengungslosigkeit. Achten Sie darauf, dass Ihre Bewegungen unverkrampft und geschmeidig sind. Wie möchten sich Ihre Finger bewegen, so dass es sich fließend und rund anfühlt? Falls sich Ihr Arm subtil verspannt, senken Sie Spieltempo und technische Anforderungen so, dass er schwingend mit der Musik tanzt. Während Sie so ein angenehmes Körpergefühl genießen, lernen Sie auf diese Weise auch optimal – in Ihrem persönlichen Anforderungsniveau zwischen Langeweile und Überforderung. … Und nun geht’s los ans Improvisieren: Surfen Sie auf Klang-, Spür- und Gefühlswellen und spielen Sie mit der Musik wie ein Kind in der Sandkiste. Bauen Sie Tonburgen und Klangstraßen. Währenddessen wechseln Sie mit Ihrer Aufmerksamkeit immer wieder zwischen den drei Ebenen – bewahren Sie einen satten Körperkontakt, eine sinnliche Klangwahrnehmung und ein anstrengungslos-fließendes Körpergefühl. Statt „falsche“ Töne zu verbessern, werden Sie sinnlich präsent sein und „Es“ wird Klang- und Gefühlslöcher füllen, bis Sie das Kunstwerk als stimmig wahrnehmen. Immer wenn Sie durch Gedanken oder Missmut aus dem Flow kommen, steigen Sie einfach wieder aufs Surfbrett, nehmen Kontakt zu Instrument, Klang und Gefühl auf und reiten weiter. Die Musik, die in Ihnen schlummerte, wird sich so ihren Weg bahnen. Ihre momentanen Emotionen verschmelzen hörbar mit Ihren persönlichen Klangidealen. Turbulentes Innenleben findet einen Kanal in die Außenwelt, wird erträglich und transformiert in kunstvolle Lebendigkeit. …
Dieses Flow-Prinzip lässt sich im Alltag auch auf andere Tätigkeiten übertragen. Spüren Sie beim Joggen, Tanzen oder Malen bewusst den Körperkontakt, etablieren Sie einen ästhetischen Kontakt zu relevanten Sinnen, genießen Sie ein Gefühl der Anstrengungslosigkeit und kreieren Sie spielerisch. Ein weiteres Alltagsbeispiel ist das empathische Zuhören, dem sich Musiktherapeuten ja manchmal widmen – oder auch Instrumentallehrer. Auch dabei lässt sich das präsente Surfen praktizieren. Damit schonen Sie Ihre Ressourcen bei größtmöglicher Effektivität, beglücken sich selbst und das Gegenüber. Sorgen Sie dazu als Zuhörer durch einen satten, bequemen Sitzkontakt für sich selbst, für eine gute Erdung und körperliche Entspanntheit. … Als zweiten Fokus etablieren Sie wie beim Musizieren einen Klangsinn zur Stimme sowie einen Sehsinn zu Körper und Mimik des Gegenübers. … Drittens können Sie wie oben beschrieben auf anstrengungslose Körperbewegungen von Kiefer und Stimmapparat achten. Da es sich beim empathischen Zuhören im Vergleich mit dem Musizieren mehr um geistige Arbeit handelt, kann eine andere Möglichkeit sinnvoller sein: Erzeugen Sie durch Vorstellungskraft eine anstrengungslose Stimmung oder einen ruhigen Geisteszustand. Denken Sie dazu „anstrengungslos“ oder imaginieren Sie ein bläuliches Licht um sich selbst oder versetzen Sie sich mental in den Wald. Experimentieren Sie, welche Variante für Sie stimmig, unmittelbar und effektiv ist. … Schließlich fragen Sie sich innerlich „Was fühlt und was braucht mein Gegenüber gerade?“. Nehmen Sie nonverbal wahr, spielen Sie innerlich mit kreativen Lauten oder konkretisieren Sie in Begriffen: Hier kommt eine Woge Wut, die in Frustration schwappt, ein Bedürfnis nach Gemeinschaft schäumt auf. Eine Welle der Verzweiflung bäumt sich auf, sie verebbt nach und nach in Traurigkeit, macht eine Sehnsucht nach Sinnhaftigkeit sichtbar, die in Freude fließt. … Empathische Verbindung ist nach Marshall Rosenberg ein Verständnis des Herzens, in welchem wir die Schönheit und göttliche Energie in der anderen Person sehen. Wenn Sie sich der Emotionen als Lebensenergie bewusst sind und mitverfolgen, wie dieses Leben in jedem Moment im Gegenüber lebendig ist, wird „Es“ die Löcher in Gefühl, Stimmklang und mentalem Verstehen füllen. Antworten finden sich von selbst und Stimmigkeit wird wahrnehmbar. Viel Freude beim Wellenreiten!
Die Autorin
Selma Suzan Emiroglu
Geb. 1976. Musiktherapeutin, Physikerin mit Promotion im Bereich Psychoakustik, Folkmusikerin. Derzeit tätig in präventiver musiktherapeutischer Arbeit, u. a. mit einem Seminarangebot zum Pausen-, Arbeits- und Selbstmanagement als Burnout-Prophylaxe.
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Literatur
- Csikszentmihalyi, Mihály (2010): Das flow-Erlebnis. Jenseits von Angst und Langeweile: im Tun aufgehen. 10. Auflage. Stuttgart: Klett-Cotta.
- Rosenberg, Marshall B. (2009): Gewaltfreie Kommunikation. Eine Sprache des Lebens. Paderborn: Junfermann.
- Marshall Rosenberg über Empathie: www.noogenesis.com/nvc/surf_nvc.html
- Andreas Burzik: www.ueben-im-flow.de