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Kleine Hilfen mit Atem, Bewegung und Stimme

Von Sabine Rittner

Sieben Mini-Meditationen zur Aktivierung der natürlichen Selbstheilungskräfte
Manche Menschen glauben, für das Meditieren keine Zeit zu haben. Ihnen sei hier die Geschichte von dem Waldarbeiter erzählt:
Ein Spaziergänger begegnet einem Waldarbeiter, der dabei ist, einen Baumstamm durchzusägen. Der Spaziergänger beobachtet eine Weile, wie schwer sich der Arbeiter abmüht, auch nur einen Zentimeter mit dem Sägen weiterzukommen. Da fragt der Spaziergänger: „Ich sehe, Sie mühen sich so sehr ab. Warum schärfen Sie nicht Ihre Säge?“ Der Waldarbeiter schaut ihn ebenso erstaunt wie vorwurfsvoll an und erwidert: „Dafür habe ich keine Zeit. Sehen Sie denn nicht, dass ich mit meiner Arbeit fertig werden muss!“ In diesem Zusammenhang lässt sich die japanische Weisheit leichter verstehen: Hast du’s besonders eilig, so mache einen Umweg (im Original: „急がばまわれ“ – „Isogaba maware“).
Wie oft aber geht es uns im Alltag ähnlich wie diesem Waldarbeiter? Meist haben wir es uns mühsam abtraininert, die Zeichen natürlicher Entspannungsbedürfnisse unseres Körpers zu deuten. Wichtig ist es jedoch zu wissen, dass unsere Bewusstseinsaktivität tagsüber, während wir wach sind, in Wellen verläuft: Nach etwa 90–120 Minuten der Aktivierung und Tatkraft (die sich in einer Beta-Wellen-Dominanz im Gehirn abbildet) tritt eine natürliche Entspannungsreaktion ein. Diese dauert etwa 15–20 Minuten an, vorausgesetzt wir unterbrechen sie nicht durch Wachmacher-Drogen wie Koffein, Nikotin oder sonstige „Absackverhinderer“. Die Phase der Entspannungsreaktion macht sich bemerkbar durch spontane Impulse wie beispielsweise Gähnen, Gedankenabschweifen, Tagträumen, Harndrang, Lust etwas zu knabbern, sich mit den Händen in die Haare fassen u.a.
Während dieser Phase mit langsamerer Hirnwellendominanz (Alpha) sind wir intuitiver, ruhiger, verträumter, manchmal auch müde und unsere Konzentration lässt nach.
Diese Entspannungsphase benötigt unser Organismus für notwendige Heilreaktionen. Meist jedoch gilt sie als Störenfried in unserer dauervernetzten Leistungsgesellschaft, in der wir pausenlos auf „Empfang“ sein müssen. Meine Anregung: Lernen Sie ihre eigenen, ganz persönlichen Anzeichen dieses natürlichen Entspannungsbedürfnisses ihres Organismus kennen. Nutzen Sie das regelmäßige Angebot Ihres Körpers, schulen Sie Ihre Aufmerksamkeit für die Sprache Ihres Körpers und heißen Sie Entspannungsphasen willkommen. Ihre Konzentrations- und Leistungsfähigkeit, sowie die Effizient Ihrer Tätigkeiten werden in der nächsten Aktivierungsphase umso größer sein und Ihre Gesundheit wird es Ihnen danken.
Heute möchte ich Sie anregen, diese Phase der natürlichen Entspannungsreaktion hier und da für eine „Mini-Meditation“ mitten im Alltag zu nutzen. Für jede dieser sieben Kurz-Übungen benötigen Sie nur wenige Minuten und sie bedürfen keinerlei Vorbereitung. Sie können im Sitzen oder Stehen ausgeführt werden, mit offenen oder geschlossenen Augen.


1. Loslassen:
Beobachten Sie die Bewegungen Ihres Atems. Lassen Sie nun den nächsten Ausatem mit einem weichen „fff“ ganz langsam durch den Mund hörbar entweichen. Mit jedem Ausatem konzentrieren Sie sich jeweils auf einen Körperbereich:
den Unterkiefer absacken lassen,
die Schultern fallen lassen,
den Bauch loslassen,
die Füße nebeneinander auf den Boden stellen und den Ausatem durch die Fußsohlen in den Boden entweichen lassen.


2. Räkeln:
Strecken und räkeln Sie sich genüsslich, dehnen Sie sich bis in die Fingerspitzen der weit geöffneten Hände. Lassen Sie sich dann mit einem hörbaren Seufzer locker vornüberfallen und aushängen, bis ein neuer Impuls Sie wieder aufrichtet zu einer vielleicht ganz anderen, weiten Dehnbewegung. Achten Sie darauf, dass beim Dehnen der Hals geöffnet bleibt ohne zu pressen und die Finger sich weit strecken. Dies machen Sie einige Male im Wechsel von genüsslicher Spannung im Dehnen und lockerem Loslassen im Hängen. Spüren Sie dann nach, was sich verändert hat: Ihre Stimmung? Ihr Körpergefühl? Ihre Wachheit? Die große Atemtherapeutin Ilse Middendorf nannte diese Übung übrigens „Kreatürliches Dehnen“.


3. Qath-Meditation:
Richten Sie Ihre Aufmerksamkeit auf den Punkt etwa eine Handbreit unter Ihrem Bauchnabel. In Japan wird dieses Energiezentrum „Hara“ genannt, im Sufismus bezeichnet man es als „Qath“-Punkt. Beobachten Sie, wie er sich hebt und senkt. Sie können auch unterstützend eine Hand dort auflegen. Zählen Sie nun während einer kompletten Ein- und Ausatemphase die Zahl 1. Das wiederholen Sie insgesamt 3 mal: 1-1-1, dann 2-2-2… bis 9-9-9 und dann wieder rückwärts bis zur 1-1-1, ohne jedoch dabei das Atemtempo zu verändern.


4. HÖBAT:
HÖREN: Lauschen Sie auf das, was Sie gerade jetzt hören, und unterscheiden Sie die verschiedenen Geräusche, Stimmen, Klänge und auch die Stille dazwischen, die in diesem Augenblick an ihr Ohr dringt.
BODEN: Spüren Sie Ihre Füße auf dem Boden.
ATEM: Beobachten Sie Ihren Atem, die Atembewegung, den Luftstrom an Ihren Nasenflügeln.
Diese Reihenfolge Hören – Boden – Atem wiederholen Sie so lange, wie es Ihnen gut tut. Bei dieser von mir „HÖBAT“ genannten Methode kreisen Sie mit Ihrer Aufmerksamkeit zwischen den drei Wahrnehmungsschritten wie in einer Spirale immer weiter nach innen, lauschen schließlich nach innen, folgen Ihrem Atem nach innen und werden dabei ganz von alleine ruhiger.


5. Atmen in den Boden:
Im Stehen: Verlagern Sie ihr Körpergewicht mit jedem Ausatem von einem Fuß auf den anderen. Stellen Sie sich vor, ihr Ausatem würde dabei durch eine „Mundöffnung“ an Ihren Fußsohlen in den Boden hinein abfließen. Die Knie sind dabei leicht gelöst.
Unterstützen Sie dieses Abfließen durch ein weiches „fff“, das Sie hörbar ausströmen lassen.
Lassen Sie dies in kleine, sehr langsame Schritte übergehen: jeder Schritt auf einen Ausatem, der tief in die Erde hinabströmt.
Geben Sie dem Ausatem mit, was immer Ihnen momentan gerade lästig ist.
Diese Art des meditativen Gehens wirkt sehr entlastend bei Spannungen im Kopf- und Nackenbereich und beruhigt die Gedankenflut. Sollten Sie dabei zu Gähnen beginnen, so ist das ein gutes Zeichen.


6. Natürliche Impulse:
Genießen Sie die unwillkürlichen Spontanreaktionen Ihres Körpers, die man ruhig auch hören darf: herzhaftes Gähnen, Seufzen, Stöhnen, Rülpsen, Lachen, Singen, Summen… Es sind natürliche Impulse, die Ihr Körper zur Entlastung und Selbstregulation benötigt, um in einen mittleren Spannungszustand (Eutonus) zurückfinden zu können. Schamhemmung und anerzogene Konventionen haben uns bedauerlicherweise dieser Selbstregulationsimpulse unseres Organismus beraubt. Erobern Sie sie sich zurück!


7. Das UND:
Erinnern Sie sich an die Übung „Das UND zwischen Himmel und Erde“ („Kleine Hilfen“ in der MuG Ausgabe 14/2007, S. 27–28)?
Beobachten Sie Ihren Ein- und Ausatem.
Nehmen Sie nun in Ihrem Inneren einen röhrenartigen Hohlraum wahr, der sich nach oben und unten öffnet.
Der Einatem steigt jetzt in Ihrer Vorstellung in diesem inneren Hohlraum hinauf bis unter die Schädeldecke, der Ausatem sinkt darin hinab bis in den Beckenboden.
Daraufhin lassen Sie den Einatem hinauf bis weit in den Himmel steigen, der Ausatem sinkt bis tief hinab in die Erde.
Lassen Sie nun beim Ausatmen in diesem inneren Raum Ihre Stimme hörbar werden, so dass Ihre „innere Bambusflöte“ erklingt und Sie vielleicht mit einer spontanen Melodie beschenkt.

Alle Übungen und Mini-Meditationen lassen sich zwischen 1 Minute und 15 Minuten ausführen, ganzkörperlich oder aber nur in unserer Vorstellung, so dass niemand um uns herum bemerkt, dass wir gerade meditieren. Mein Tipp: Erlauben Sie sich, bei jeder dieser Übungen irgendwelche spontanen Laute oder Töne zu machen. Die Wirkung jeder Meditation vervielfacht sich um ein Vielfaches, sobald Sie dazu tönen und Ihrer Stimme dabei Ausdruck verleihen.
Ich wünsche Ihnen gleich jetzt, mitten im Alltag, heilsame Entspannungsreaktionen zur Selbstregulation Ihres Körpers und damit auch zum Wohl Ihrer Seele.
Herzlichst,
Ihre Sabine Rittner

Die Autorin:

Sabine Rittner
ist Musikpsychotherapeutin, approb. Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin, Psychotherapeutin (HP), Hypnotherapeutin, Traumatherapeutin mit Spezialisierung in der Arbeit mit veränderten Bewusstseinszuständen und systemischer Therapie mit der inneren Familie (IFS). Sie ist tätig am Institut für Medizinische Psychologie der Universitätsklinik Heidelberg (Lehre, Psychotherapie, Musiktherapie- und Bewusstseinsforschung), sowie in eigener Praxis (Therapie, Supervision, Coaching). Seit mehr als 35 Jahren leitet sie Seminare, bildet aus und hält Vorträge weltweit. Umfangreiche Publikationen zu den Themenkomplexen Bewusstseinsforschung – Klang – Trance – Stimme – Musiktherapie u.a. Weitere Informationen unter: www.SabineRittner.de