Zum Mitmachen
Kleine Hilfen mit Atem, Bewegung und Stimme
Von Sabine Rittner
Der Gang über die Schwelle – ein Naturritual
Die vergangenen Monate des Coronalockdown haben den meisten von uns einiges abverlangt. Von vielen Menschen, die ich durch diese Zeit hindurch begleiten durfte, habe ich erfahren,
dass ihnen die Natur bei der persönlichen Krisenbewältigung eine sehr wichtige Unterstützung war, eine Beruhigungs-, Trost- und Seelennahrungs-Quelle in der allgemeinen Verunsicherung. Ich hörte, dass sie sich angewöhnten, täglich alleine lange Spaziergänge zu machen, was ihnen half, sich im Kontakt mit den Naturelementen zu zentrieren und Kraft zu tanken.
Inspiriert von einem uralten schamanischen Ritual möchte ich Sie heute anregen, ihren nächsten Spaziergang ganz bewusst einmal anders zu gestalten, nämlich als „Schwellengang“. Dieser benötigt als Voraussetzung allerdings Ihre Bereitschaft, die Natur nicht nur zu „benutzen“: für Erholungszwecke, als Projektionsfeld für Sehnsüchte, zum trendigen „Waldbaden“, zur Stärkung der Immunkräfte u.a. Vielmehr möchte ich Sie einladen, sich mit der Haltung des Staunens, des Nichtwissens, der Offenheit und der Neugier auf den Weg zu machen, und zwar mit der Bereitschaft, sich überraschen zu lassen und einem kleinen Ausschnitt der Natur als ihren „Lehrmeister“ zu begegnen. Diese innere Haltung, die der Natur mit Respekt begegnet und alles, was existiert als beseelt ansieht, stammt menschheitsgeschichtlich aus einer archaischen Zeit, mit der wir z.B. über unser Stammhirn und dort über unser Atemzentrum in jedem Atemzug immer noch unmittelbar verbunden sind.
1. Vorbereitung:
Dieses Ritual lässt sich überall dort durchführen, wo Natur in der Nähe ist, ob im Garten hinterm Haus, im Park, im Wald oder in der Wildnis, spielt dabei keine Rolle. Es lässt sich auch bei jedem Wetter durchführen, wobei es für das erste Mal natürlich angenehmer ist, wenn es draußen weder kalt noch nass ist.
Nehmen Sie sich insgesamt ungefähr 60–90 Minuten Zeit, statten Sie sich aus mit Schuhen mit weicher Sohle, so dass Sie die Beschaffenheit des Bodens unter Ihren Füßen gut spüren können. Stecken Sie sich einen Stift ein, ein Heft zum Schreiben und eine Uhr. Mehr braucht es nicht. Handy, Fotoapparat, Picknick, einen vollen Rucksack mit Survival-Ausstattung und andere Ablenkungsverführer lassen Sie wenn irgend möglich daheim oder im Auto. Entscheiden Sie, wo ihr Ausgangs- und Rückkehrpunkt sein soll (z.B. am Rand des Waldparkplatzes, am Parkeingang, am Gartentor…) und ziehen Sie dort auf dem Boden gut sichtbar einen Strich. Dies ist Ihre Schwelle. Ich empfehle meist, die Schwelle dort zu installieren, wo ein ungepflasterter Weg beginnt.
2. Die Schwelle:
Sobald sie nun mit einem bewussten Schritt über diese Schwelle hinweggetreten sind, lassen Sie alles zurück, was Sie an Alltagsgedanken umtreibt. Alle Lästigkeiten, alle To-Do-Listen, alle Verantwortlichkeiten sind vorübergehend bedeutungslos. Sie werden spüren, wie Sie mit diesem bewussten Schritt über die Schwelle in einen veränderten Wahrnehmungsmodus umschalten, eine andere Wirklichkeit betreten, wie Sie ganz gegenwärtig sind, hellwach und dabei gleichzeitig entspannt.
3. Der Weg (ca. 15 Minuten):
Lassen Sie sich nun von Ihren Füßen führen, ohne irgendeinen Plan, wo diese Sie hintragen sollen. Spüren Sie die Erde unter Ihren Füßen, gehen Sie sehr verlangsamt und atmen Sie mit jedem zweiten Schritt durch Ihre Fußsohle hindurch in den Boden aus. Stellen Sie sich vor, Sie hätten einen Mund unter Ihren Fußsohlen, durch den hindurch Sie bei jedem zweiten Schritt ausatmen. Geben Sie dem Ausatem mit, was Ihnen lästig ist, ausatmend sickert alles Überfällige in die Erde hinein. Lassen Sie sich überraschen, wohin Ihre Füße Sie mit diesen sehr bewussten, verlangsamten Schritten führen möchten. Vermutlich werden Sie sich dabei ertappen, dass Sie eine Idee im Kopf haben, wo Sie gerne hingehen möchten, wo ein besonders
schöner Platz zum Verweilen wäre. Indem Sie diese Vorstellungen ausatmend im Gehen loslassen, öffnen Sie sich dafür, dass Ihre Füße und ihr Atem Sie an einen völlig unvorhergesehenen Ort führen werden. Lassen Sie sich überraschen, ihr Körper wird Ihnen mit deutlichen Empfindungen signalisieren, wenn Sie ihn gefunden haben.
4. Die Einkehr / die Lehrzeit (15–20 Minuten):
Am Platz angekommen, sind Sie vielleicht irritiert oder verwirrt, warum ausgerechnet dieser Platz Sie „gerufen“ hat? Es wird seinen Grund haben. Umrunden Sie diesen Ort, damit geben Sie
ihm eine für Sie wahrnehmbare Grenze. Dann lassen Sie sich dort nieder, im Sitzen oder auch im Stehen. Sie lauschen, spüren, schnuppern und schauen sich um, wo Ihre Füße Sie hingeführt haben.
In diesem Augenblick fällt ihr Blick auf einen kleinen Ausschnitt dieser Naturfülle oder Ihr Atem bleibt an einer Stelle außerhalb von Ihnen ruhen. Dies kann ein Stein sein, eine Blüte, ein
Zweig, ein Blatt, ein Wassertropfen, ein Baum… Egal wie groß oder klein, wie schön oder „hässlich“, geeignet ist dabei ein Naturobjekt (Pflanze, Tier, Mineral, Pilz …), das sich in Ihrer Nähe befindet und sich nicht fortbewegt. Stellen Sie sich vor, dass dieses „beseelte Wesen“ jetzt mit Ihnen Kontakt aufnimmt.
Richten Sie nun Ihre ganze Aufmerksamkeit darauf. Lassen Sie Ihren nächsten Ausatem hinüberströmen, es an einer Stelle berühren und den nächsten Einatem wieder zu sich zurückkehren.
Bauen Sie auf diese Weise eine Atembrücke auf, auf der Sie hin und hergleiten, so dass Sie das Naturwesen mit dem Atem an verschiedenen Stellen berühren, es immer besser kennenlernen und der Kontakt sich intensiviert.
Nachdem Sie auf diese Weise eine Weile hin- und hergependelt sind, gleiten Sie nun mit Hilfe Ihrer Vorstellungskraft in dieses Naturwesen hinein, versetzen sich in es hinein, verschmelzen
mit ihm. Seien Sie offen für das, was Sie unzensiert erfahren von diesem Wesen, diesem Baum, diesem Stein, dieser Feder, diesem Wassertropfen. Ihr biologisch-wissenschaftliches
Vorwissen dürfen Sie dabei getrost vorübergehend in Urlaub schicken.
Wie ist die Existenz dieses Wesens?
Was macht es aus?
Wie ist es verbunden mit allem?
Was lehrt es Sie?
Wie ist seine Zeitwahrnehmung?
Hat es eine Botschaft an Sie?
5. Die Zeit des Ausdrucks (10–20 Minuten):
Kehren Sie nun auf der Atembrücke wieder ganz zurück in Ihren menschlichen Körper. Lassen Sie mit dem nächsten Ausatem Töne entstehen, Gesten, Bewegungen, die dem Ausdruck verleihen, was Sie jetzt empfinden, was Sie spüren, was Sie fühlen, was Sie berührt, was Sie emotional bewegt. Vielleicht ist es anfangs ein Atemhauch-Geräusch, ein leises Summen, ein Grummeln… Nach und nach öffnet sich der Mund und es entströmen ihm Geräusche, Vokale, Laute, Töne, die sich immer weiter entfalten möchten zu einer kleinen Melodie. Erlauben Sie ihrem Körper, sich dabei zu bewegen mit dem, was er hört und spürt. Es kann sich auch eine Kommunikation zwischen den Geräuschen der Umgebung und Ihnen entfalten. Sollte jetzt ein innerer „Zensor“-Teil sich einschalten, der Ihnen diesen hörbar bewegten Ausdruck verweigern möchte, so sprechen Sie ihn an und bitten ihn, beiseite zu treten. Denn dieses Summen, dieser Gesang, diese Bewegungen, dieser Tanz sind ihr Geschenk, das Sie dem Wesen, dem Sie begegnet sind, und diesem Ort machen.
Anschließend erlauben Sie sich, das Erlebte in intuitivem Schreiben auszudrücken: vielleicht möchte ein Gedicht entstehen, eine Geschichte, in der sich die Botschaft, die Weisheit Ihres „Lehrmeisters“ aus der Natur kreativ ausdrückt.
Erst im Anschluss daran stellen Sie sich folgende Fragen, wenn Sie möchten: Was hat diese Begegnung mich gelehrt? Wie hat sie mich verändert? Was habe ich über das Naturwesen und über mich erfahren dürfen? Was berührt mich emotional, was irritiert mich, was verunsichert mich?
6. Der Rückweg (ca. 15 Minuten)
Bedanken Sie sich bei Ihrem „Natur-Lehrmeister“. Es ist dabei absolut „gleich-gültig“ wie klein oder groß dieser war, wie hübsch oder hässlich, wie bedeutsam oder scheinbar banal die Botschaft. Bedanken Sie sich auch bei dem Ort dafür, dass Sie dort zu Gast sein durften. Verabschieden Sie sich und öffnen Sie bewusst wieder die Grenze dieses Ortes. Auf Ihrem Rückweg wird vielleicht Ihr Lied Sie summend begleiten und Sie lassen im Gehen diese Begegnung in sich nachklingen. Zurückgekehrt an Ihren Ausgangspunkt treten Sie mit einem bewussten Schritt wieder über die Schwelle und kehren ganz zurück in Ihre Gewohnheitswirklichkeit, in Ihr Alltagsbewusstsein.
7. Nachklang:
Lassen Sie sich ruhig noch Zeit mit dem zer-analysierenden „Warum, Wieso, Weshalb“, die tiefere Bedeutung dieser Begegnung muss sich Ihnen nicht sofort erschließen. Manchmal offenbart
sie sich spontan, häufig aber auch erst viel später.
Abschließen möchte ich mit einem meiner Lieblingsgedichte von Rilke:
Durch alle Wesen reicht der eine Raum:
Weltinnenraum. Die Vögel fliegen still
durch uns hindurch. O, der ich wachsen will,
ich seh hinaus, und in mir wächst der Baum.
Rainer-Maria Rilke, 1914
Literaturtipps
Metzner, Ralph (1999). Green Psychology. Transforming Our Relationship to the Earth. Rochester, Vermont, USA: Park Street Press.
Rilke, Rainer-Maria, Tagebücher 2014. Erschienen in: Rilke Werke. Kommentierte Ausgabe. Band 2: Gedichte 1910–1926. Berlin: Suhrkamp.
Eine detaillierte Anleitung zum Tönen in der Natur, die vor langer Zeit hier in der MuG erschienen ist: Rittner, Sabine (2006). Hilfe zur Selbsthilfe: Kleine Hilfen mit Atem, Stimme, Körper. Eine Entdeckungsreise. Musik und Gesundsein 12 (2006), S. 28.
Storl, Wolf-Dieter (2004). Naturrituale. Mit schamanischen Ritualen zu den eigenen Wurzeln finden. München: AT-Verlag.
Schwerpunktthema I
Zwischen den Kulturen – musiktherapeutische Identitätssuche
Von Udo Baer
Am Beispiel einer musiktherapeutischen Einzelarbeit werde ich zentrale Aspekte interkultureller Arbeit vorstellen.
Als Elena zu mir kam, hieß sie Helen. Ihren 40. Geburtstag hatte sie in der Psychiatrie mit einem Stück Marmorkuchen gefeiert. Dort hatte sie sich zwei Wochen aufgehalten, um eine wahnhafte Episode mit aggressiven Attacken ausklingen zu lassen. „Ich möchte nie mehr in die Psychiatrie. Sorgen Sie dafür!“ Mit diesen Worten hatte sie mich begrüßt. Die Erfüllung dieses Auftrags konnte ich ihr nicht versprechen, aber ich konnte ihr versichern, dass ich mein Bestes versuchen würde, und dass Musiktherapie in jedem Fall helfen würde. Also legten wir los.
„Ich bin immer dazwischen.“
Helen wurde Mitte der 70er Jahre als Elena in Polen in einer Kleinstadt nahe Krakau geboren. Ihr vor kurzem verstorbener Vater war Pole, der Großvater väterlicherseits Bulgare. Die Mutter war deutscher Herkunft, Kriegswaise, sprach polnisch mit einem leichten Akzent, ohne mehr als einige deutsche Worte zu kennen. Beide Eltern arbeite ten in Polen als Ingenieure. Helen war als Textildesignerin in einer bekannten Modefirma tätig.
Als ich Helen bat, am Klavier mit einigen Tönen etwas über sich zu erzählen, begann sie äußerst nervös und hektisch nach Klängen zu suchen. „Das geht nicht. Ich finde mich nicht.“ Sie erzählte, dass sie sich „immer schon“ als ruhelos und dahintreibend empfunden habe. Suchend, aber ohne zu wissen, was sie suche.
„Versuchen Sie, das auf dem Klavier zu spielen.“
Sie tat es, helle Töne, zerrissen, abgehackt, unruhig.
„War das schon immer so?“
„Seit ich in Deutschland bin.“
„Und davor?“
Davor klang es zwei Oktaven tiefer, ruhiger, getragen.
Sie war zwölf gewesen, als die Familie nach Deutschland auswanderte. Auch wenn die Mutter nach Abstammung Deutsche war und in Polen oft darunter gelitten hatte, als „Hitlermädchen“ diskreditiert zu werden, waren alle in Deutschland fremd und erlebten sich als Ausländer. Zwischen dem vorher und nachher, zwischen Polen und Deutschland, gab es keine Verbindung, nur ein „Dazwischen“: „Ich bin immer dazwischen“, erzählte Helen, „des arbeitewegen finde ich auch keinen Ton für mich. Wir wollten Deutsche sein und ich lernte schnell Deutsch und paukte viel für die Schule. Doch wir hatten nie deutsche Freunde, zuhause gab es nur Besuch von Polen und im Urlaub fuhren wir immer nach Hause, nach Polen. Hier waren wir nicht richtig und da auch nicht, da waren wir die Reichen aus Deutschland, die nicht mehr richtig polnisch sprachen.“
Dieses Dazwischen-Sein ist mir bei zahlreichen Menschen aus anderen Ländern und anderen Kulturen begegnet. Mögen sie noch so perfekt die deutsche Sprache sprechen und äußerlich integriert sein, innerlich befinden sich viele im Dazwischen, im Niemandsland zwischen den Kulturen, zwischen alter und neuer Heimat. Erst recht gilt dies für viele Jugendliche der zweiten Generation, in Deutschland geboren, in türkischen (oder anderen) Enklaven aufgewachsen. Das Dazwischen-Sein festzustellen und zu beklagen, ist ein erster Schritt, um sich überhaupt mit diesem Befinden beschäftigen zu können.
Hinter dem Verlorensein: die Trauer
Ich bat Helen, mit Seilen im Therapieraum einen Raum für „Polen“ (was immer sie gerade damit verbindet) und einen Raum für „Deutschland“ zu legen. Sie legte die Seile so, dass in einer Ecke ein kleiner Raum für „Polen“ entstand und gegenüber ein großer Raum für „Deutschland“. Die Fläche zwischen diese Räumen war der Raum des „Dazwischen“. Aufgefordert, sich einen Platz zu suchen, der ihrem jetzigen Befinden entspreche, stellte sie sich in den Raum des Dazwischen. „Ja, so ist das gerade. Ich bin zwar in Deutschland und ich bin es nicht.“ Ihr Blick ging hin und her, häufiger zum
Polen-Raum. Sie wirkte auf mich einsam und verloren. Als ich ihr dies mitteilte, lehnte sie das Wort „einsam“ ab, da sie ja mit zahlreichen Menschen zusammen sei. „Aber verloren, das trifft es gut. Ich komme mir oft so verloren vor.“
„Wenn Menschen sich verloren fühlen, kann es sein, dass sie etwas verloren haben. Ich schlage Ihnen ein Experiment vor, um dem Verlorensein vielleicht ein wenig mehr auf die Spur zu kommen. Bitte suchen Sie sich von den Instrumenten eins aus und gehen Sie damit wieder dorthin, wo Sie jetzt stehen.“
Sie wählte ein Blechxylofon und begann zu spielen. Erst scheppernd und schrill und wirr und wild, dann abwechselnd mit kleinen melodischen Bruchstücken. Sehr intensiv und sehr konzentriert. Sie war dabei mehr dem polnischen Raum zugewendet. Schließlich blieb sie bei einem Ton „hängen“, wiederholte ihn mehrmals. Tränen stiegen in ihre Augen.
„Was ist jetzt?“, fragte ich.
„Ich denke an meine Schulfreundin.“
Und sie erzählte von der Freundschaft, die durch die Auswanderung zerbrach. Bei späteren Besuchen waren sie sich fremd geworden.
Während sie erzählte, spielte sie oft den „Ton der Freundschaft“, wie sie ihn nannte. Dabei wurde sie traurig und wandte sich immer mehr dem „Polen“-Raum zu.
„Was haben Sie noch zurückgelassen?“
Sie erzählte und erinnerte sich immer mehr: die geliebte Großmutter, deren Kaninchen, die Lieblingsbücher, den Baum vor dem Fenster usw. Traurig zwar, doch diese Trauer war nicht verkrampft, sondern löste sich. Gegen Ende der Stunde spielte sie ein „Lied der Trauer“ auf dem Balafon, ergreifend und loslassend zugleich.
Die folgenden Stunden waren von weiterer Trauerarbeit gezeichnet. Der Prozess war schmerzhaft, aber lohnend. Trauern ist das Gefühl des Loslassens (Baer/Frick-Baer 2006). Wird aus der festgefrorenen Trauer ein Prozess des Trauerns, kommt ein fließender Prozess des Loslassens in Gang. Dazu ist es notwendig, zuerst einmal hinzuschauen und das zu betrachten wovon es loszulassen gilt. Helen war nicht mehr bewusst gewesen, was sie verloren hatte. Der konkrete Schmerz hatte sich in dem diffusen Befinden des Verlorenseins aufgelöst. Vom Verlorensein zu der Beschäftigung mit dem zu gelangen, was ein Mensch verloren hat, ist ein Weg, den ich mit zahlreichen KlientInnen zwischen den Kulturen beschritten habe. Ich kenne keine
Klientin und keinen Klienten mit einem interkulturellen Hintergrund, bei dem dieses Thema nicht von wesentlicher Bedeutung war.
Die Trauer tritt in der Regel nicht offen auf, sondern äußert sich in Unruhe und ähnlich diffusem Befinden. Wird dieser Unruhe näher nachgespürt oder wird sie zum Klingen gebracht, taucht das Gefühl des Verlorenseins auf. Der Schriftsteller W. G. Sebald bezeichnet es in seiner Erzählung „Die Ausgewanderten“ als „mir unbegreifliches Gefühl der Unverbundenheit“. Oft hat der Umstand, dass den Menschen die Tatsache, dass sie etwas verloren haben, entglitten ist, damit zu tun, wie der Abschied erfolgte. Eine Klientin beschrieb ihn, sie sei aus ihrer Heimat „herausgerissen“ worden. Helen sagte, sie sei nach Deutschland „versetzt“ worden. Als ihre Trauer wieder lebendig geworden war, erinnerte sie sich, dass alle sehr traurig waren, als sie die alte Heimat verließen, „selbst der Vater hat geweint“. Doch dann war es so, als hätte es „keine Zeit mehr“ gegeben zu trauern. Der Abschiedsschmerz war wie weggewischt, Trauern war verboten. Ich beobachte oft, dass je mehr Verlorensein entsteht, je weniger um das Verlorene getrauert werden durfte oder konnte.
Hinter dem Druck: die Scham
„Ich durfte zu Hause nur Deutsch sprechen. Wenn mein Vater von mir ein polnisches Wort hörte, bekam ich eine Ohrfeige.“ Als Helen in den Raum für „Deutschland“ ein Musikinstrument setzte und es spielte, erklang eine Atmosphäre, die sie als „Druck“ beschrieb. Die Familie musste viel arbeiten, um Geld zu verdienen und so zu leben wie die Deutschen. Die Eltern lernten auch ein wenig Deutsch, sprachen aber Polnisch untereinander. Die Tochter sollte „es einmal besser haben“ – deswegen der Druck hinsichtlich der Sprache. Der große Maßstab, nach dem in der Familie „alles“ bewertet wurde, war die Leistung, die schulische Leistung, die Leistung im Studium, die berufliche Leistung und das Geld, das verdient wurde.
Bei Familien, die auswandern oder fliehen mussten, ist dieser Druck besonders häufig und intensiv anzutreffen und scheint eine existenzielle Bedeutung zu haben. Die materielle Not des Übergangs macht ebenso Druck wie die Sorge um die Zukunft der Kinder. Den größten Druck macht das Ringen um die Identität. Wenn die eigene Identität verloren geht oder neu definiert werden soll, ist dies eine
große Anstrengung, die nach innen bedrückt und nach außen eine Atmosphäre des Drucks ausstrahlt.
Manche Familien, die aus anderen Ländern nach Deutschland gekommen sind, versuchen, ihre alte Identität zu bewahren. Doch auch diese wird brüchig, vor allem aber für die Heranwachsenden der zweiten Generation. Bei polnischen und anderen osteuropäischen Familien ist oft eine große Anstrengung zu beobachten, unsichtbar zu werden, um in Deutschland wie Deutsche zu wirken und nicht aufzufallen.