Zum Mitmachen

Kleine Hilfen mit Atem, Bewegung und Stimme
Sabine Rittner

Hören – Horchen – Lauschen – Spüren – Begegnen – Berühren
In dieser Ausgabe der MuG mit dem Schwerpunktthema „Hören“ möchte ich Ihnen eine dazu passende Erfahrungssequenz anbieten. Sie setzt meine Anregungen aus der letzten Ausgabe zum „Singen im Körperkontakt“ fort, indem sie lauschende Stimmklang-Berührung diesmal ohne Körperkontakt in zwei Versionen anbietet: sowohl als Partnerübung als auch in einer Variante, die alleine durchgeführt werden kann. In beiden Versionen werden Sie nach einer Einstimmung durch drei Vertiefungsphasen mit anschließender Reflexion geführt. Diese Sequenz ist durchaus anspruchsvoll, denn sie setzt die Bereitschaft und Fähigkeit zum freien, lauschenden Tönen voraus. Und das, was in der Arbeit mit Klangtrance und Stimme implizit immer mit hineinwirkt, die non-duale Energieebene, wird in dieser Sequenz mit ihren Anregungen zum rezeptiv lauschendem Tönen in Trance explizit mit einbezogen.
Was es an Voraussetzungen benötigt:
Einen Raum, in dem man ungestört ist und zu zweit ein wenig Platz für Bewegung im Stehen hat. Es werden weißes A4-Papier und Farbstifte/Wachsmalkreiden bereitgelegt, sowie ein Heft zum Schreiben bei der Selbstreflexion. Falls vorhanden, braucht es für die Einzel-Version auch ein A4-großes Stück Pergament- oder Butterbrotpapier.
Der erforderliche Zeitrahmen beträgt ca. 45–60 Minuten. Diese Sequenz sollte in Ruhe und auf keinen Fall unter Zeitdruck durchgeführt werden.

Einstimmung
A Dauer: max. 10 Minuten
–– Finden Sie eine entspannt aufrechte Position im Sitzen oder Stehen. Sofern Sie diese Sequenz mit einem Partner/einer Partnerin durchführen, legen Sie jetzt schon fest, wer Person A (im ersten Teil eher aktiv) und wer B (im ersten Teil eher rezeptiv) ist.
–– Nehmen Sie Ihre Gestimmtheit wahr, Ihre momentane Befindlichkeit auf körperlicher und emotionaler
Ebene. Dies geschieht mit einer interessierten und neugierigen Grundhaltung, ohne zu bewerten.
–– Richten Sie nun Ihre Aufmerksamkeit auf Ihre Atembewegung und legen Sie Ihre Hände in diesem Bereich sanft auf den Körper auf. Begleiten Sie die unwillkürlichen Atembewegungen mit Ihrer gesammelten Aufmerksamkeit, ohne etwas verändern zu wollen.
–– Aus dieser sanft bewegten Atem-Selbstberührung heraus hören – horchen – lauschen – spüren Sie in den Körperraum unter Ihren Händen hinein. Lassen Sie mit spontanen Geräuschen, Lauten, Tönen, Stimmklängen hörbar werden, was aus diesem Körperbereich heraus grad jetzt gehört werden möchte.
–– Sollten Sie gesessen haben, so empfehle ich, (falls möglich) ab jetzt aufzustehen. Lassen Sie das lauschend-spürende Tönen sich in Bewegungen Ihrer Arme und Hände hinein erweitern. Schauen Sie diesen zu, wie sie sich um Ihren Körper herum bewegen wollen. Das Tönen weitet sich aus in den Raum hinein, der Ihren Körper umgibt – Ihren persönlichen Eigen-Raum –, es füllt ihn mit Klang an, nährt ihn.
–– Spüren Sie nun kurz nach, neugierig interessiert und ohne zu bewerten:
Was ist anders seit ich vor wenigen Minuten mit dieser lauschenden Selbsterkundung begonnen habe?

Version mit Partner:in
B Dauer: max. 5 Minuten
–– Der weitere Ablauf ist im Stehen empfehlenswert, aber falls erforderlich durchaus auch im Sitzen möglich.
Wenden Sie sich nun Ihrem Gegenüber zu, öffnen Sie die Augen und finden Sie miteinander ohne Worte
den für beide jetzt passenden Abstand.
Cave: Während der Phasen B–D wird nicht miteinander gesprochen. Erst in der letzten Phase E folgt
ganz am Schluss der verbale Austausch.
–– A öffnet sich nach innen lauschend für das, was aus ihr/ihm heraus für B hörbar werden möchte und besingt B damit. Es mag sein, dass auch Gesten dazu auftauchen, kleine Bewegungen (allerdings ersetzen
diese nicht pantomimisch das Gehörte!).
Nach wenigen Minuten verklingt dieser „Für-Gesang“.
Beide, Person A und B, spüren kurz nach (ohne zu sprechen): Wie war der Kontakt? Hat B sich gemeint gefühlt? Hat A sich angestrengt bemüht oder flossen die Klänge vertrauensvoll „wie von alleine“ zu B hinüber?

C Dauer: max. 10 Minuten
–– Im zweiten Vertiefungsschritt öffnet A nun über sich selbst das 8. Chakra, das sich oberhalb des
Kopfes befindet. Es handelt sich hierbei um eine Energiequelle, die sozusagen heilsame Urinformation über uns enthält. Dazu visualisiert A einen strahlenden Lichtball etwa 30–40 cm über dem Scheitelpunkt, dem Kronenchakra. A legt nun die Handflächen vor dem Herzbereich zusammen und lässt diese mit dem nächsten Einatem aufsteigen bis über dem Kopf, mitten in den imaginierten Lichtball hinein. Daraufhin öffnet A im Ausatem die Handflächen nach außen und zieht um sich herum eine liebevolle Lichthülle bis zu den Füßen hinab. In der nächsten Atemphase schließt A den Partner/die Partnerin B mit der Wiederholung dieser Energiebewegung mit ein in eine gemeinsame liebevolle Lichthülle.
–– A öffnet sich nach innen lauschend ein weiteres mal für das, was jetzt für B hörbar werden möchte und besingt B damit. Es mag sein, dass auch Gesten dazu auftauchen möchten oder kleine, intuitive Bewegungen.
–– Sobald es genug ist, spüren beide kurz nach (ohne zu sprechen): Was war diesmal anders? Wie war
jetzt der Kontakt? Hat B sich gemeint gefühlt? Hat A sich angestrengt bemüht oder flossen die Klänge intuitiv „wie von alleine“?

D Dauer: max. 10 Minuten
–– Im dritten Vertiefungsschritt fokussiert A sich auf ihren/seinen Herzraum.
–– Da heraus lässt er/sie lauschend für B Stimmklänge entstehen, verbunden mit der Vorstellung, B
mit diesen Schallwellen und dem, was sie transportieren, liebevoll zu berühren.
Wichtig hierbei ist, nicht zu viel zu „machen“, sondern neugierig lauschend geschehen zu lassen, voller Vertrauen in das, was jetzt für das Gegenüber Heilsames hörbar werden will. Alle sich ggf. störend einmischenden oder „richtig machen wollenden“ oder „eifrig bemühten“ inneren Anteile dürfen dabei in der inneren Vorstellung entschieden gebeten werden, beiseite zu treten.
–– B lauscht und spürt und lässt sich von dem Nicht-Sagbaren berühren, mit geschlossenen oder auch offenen Augen. Sie/er bewegt sich ggf. leicht dazu, im Sinne von unwillkürlichen Resonanz-Reaktionen
des eigenen Körpers, nicht im Sinne von „darstellen“.
–– Sobald das Tönen verklingt, spüren beide Beteiligten einen kurzen Moment lang nach (ohne zu sprechen): Wie war diesmal, in diesem dritten Vertiefungsschritt, die Qualität unseres Kontaktes? Was hat sich nochmals verändert? Gab es etwas, das schwierig war? Was war ganz besonders wohltuend, nährend, heilsam?
–– A schließt nun den gemeinsamen Energieraum wieder, indem er/sie mit gestreckten Armen die Hände seitlich am Körper mit den Handflächen nach außen hinaufhebt bis über den Kopf in den Energieball des 8. Chakra hinein – so, als würden sich Flügel wieder zusammenfalten. Mit einer abschließenden Geste der Hände, die vor dem eigenen Körper hinabgleiten, kann A sich aus dieser unerschöpflichen Licht- und Informationsquelle am Schluss selbst nähren, stärken, aufladen, frische Energie in den eigenen Körper hinunter gleiten lassen.
–– Rollentausch: Nun ist A in der eher rezeptiven und B in der eher aktiven Rolle und die Schritte B–D
werden erneut durchlaufen. Ich empfehle sehr, während des Rollenwechsels nicht zu sprechen und den
verbalen Austausch ganz auf das Ende zu verschieben.

E Dauer: max. 5 Min.
–– Auf Wunsch und je nach zeitlicher Verfügbarkeit besteht für beide Beteiligten an dieser Stelle die Möglichkeit, vor dem verbalen Sharing erst noch malend auszudrücken, was man gehört, gespürt, empfunden, erfahren hat. Dazu sollten Malpapier und Farben bereit liegen.

Dauer: je Partner ca. 5 Min.
–– Erst jetzt, ganz am Schluss folgt der verbale Austausch, das Sharing der Erfahrungen aus der Stimm- Klang-Begegnung: erst teilt sich A mit, danach dann B.
Wichtig: die/der Sprechende kommentiert nicht, analysiert nicht, deutet nicht, sondern berichtet pur von den Hör-Spür-Erfahrungen in den unterschiedlichen Vertiefungsphasen dieser Sequenz. Die/der Zuhörende lässt das Gehörte unkommentiert auf sich wirken. Dieser Erfahrungsaustausch ist um so wirkungsvoller, je weniger dabei bewertet, eingeordnet, zensiert wird.
–– Als Anregung für diesen Austausch können ggf. die folgenden erfahrungsbezogenen Fragen dienen:
Was habe ich gehört, körperlich gespürt, gesehen … und was emotional gefühlt?
Was hat mich berührt?
Habe ich mich gemeint gefühlt?
Ist etwas abgeprallt von mir?
Ist mir etwas spürbar „unter die Haut“ gegangen?
Was war unterschiedlich in den drei Vertiefungsschritten der Sequenz?
Was war schwierig, was fiel mir schwer?
Was war ganz besonders bewegend, heilsam?
Was von dieser Begegnung darf als wertvolle Erfahrung in meinen Alltag hinein wirken und wie konkret?

Version mit sich alleine
Einstimmung
A Dauer: max. 10 Minuten
Folgen Sie zur Einstimmung der oben unter A bereits beschriebenen Anleitung.

B Dauer: max. 5 Minuten
–– Nehmen Sie nun Kontakt mit einem inneren Anteil auf, der sich heute über Ihre Aufmerksamkeit
und Zuwendung freuen würde und visualisieren Sie ihn etwas außerhalb Ihres Körpers in Form einer
Gestalt, eines Wesens, eines Etwas. Wie nennen Sie diesen inneren Anteil? Geben sie ihm einen Namen
oder lassen Sie sich diesen von dem Anteil mitteilen.
–– Malen Sie diesen Anteil mit Farben auf ein bereit gelegtes Blatt A4-Papier – in Form von einem Symbol,
einer Gestalt, einer Farbbewegung.
–– Legen Sie dieses Blatt in einem guten Abstand vor sich auf den Boden.

C Dauer: max. 20 Minuten
–– Öffnen Sie nun das das 8. Chakra, das sich oberhalb Ihres Kopfes befindet. Es handelt sich hierbei
um eine Energiequelle, die sozusagen heilsame Urinformation über uns enthält. Dazu visualisieren Sie einen strahlenden Lichtball etwa 30–40 cm über dem Scheitelchakra auf dem Schädeldach. Legen Sie nun die Handflächen vor dem Herzbereich zusammen und lassen Sie diese mit dem nächsten Einatem aufsteigen bis über dem Kopf, mitten in den visualisierten Lichtball hinein. Im Ausatmen öffnen Sie die Handflächen nach außen und ziehen um sich herum eine liebevolle Lichthülle bis zu Ihren Füßen hinab. In der nächsten Atemphase schließen Sie mit einer weiteren Bewegung den externalisierten Anteil mit dem gemalten Blatt am Boden mit ein in eine gemeinsame liebevolle Lichthülle.
–– Zentrieren/fokussieren Sie sich nun auf Ihren Herzraum, d.h. Sie nehmen sanft atmend Kontakt mit Ihrem SELBST auf. Dazu kann es ggf. hilfreich sein, aus der Erinnerung eine Situation auftauchen zu lassen, in der Sie sich besonders glücklich, staunend, neugierig und/oder liebevoll verbunden gefühlt haben.
–– Malen Sie dazu auf einem weiteren Blatt mit einer passenden Farbe ein Symbol. Platzieren Sie dieses Bild ebenfalls in einem guten Abstand zum ersten Bild vor sich auf dem Boden.
Dann stellen Sie sich mit beiden Füßen (ohne Schuhe) in dieses zweite Bild hinein.
–– Von diesem Platz des SELBST aus lassen Sie nun lauschend für den von Ihnen zuvor gemalten und externalisierten Anteil Töne entstehen, verbunden mit der Vorstellung, diesen aus dem Herzraum heraus mit Schallwellen und dem, was sie transportieren, klanglich liebevoll zu berühren.
–– Wichtig: nicht zu viel „machen“ wollen, sondern neugierig lauschend geschehen lassen, voll Vertrauen in das, was jetzt hörbar werden will. Alle „richtig machen wollenden“ oder „eifrig bemühten“ inneren Anteile dürfen dabei gerne entschieden innerlich aufgefordert werden, beiseite zu treten.
–– Sollte ein anderer, störender innerer Anteil intervenieren wollen, der mit der Hinwendung zu dem ersten externalisierten Anteil nicht einverstanden ist, so sprechen Sie diesen innerlich an und fragen ihn, was er befürchtet. Hören Sie ihm interessiert und neugierig zu und verabreden sich dann mit ihm für einen konkreten Zeitpunkt in den nächsten Tagen, an dem Sie sich ihm ausgiebig zuwenden werden. Dann bitten Sie ihn, beiseite zu treten oder sich vorübergehend „in einer Hängematte auszuruhen“ und wenden Sie sich wieder lauschend – tönend – spürend dem vor Ihnen liegenden, ersten externalisierten
Anteil zu. Lauschen Sie erneut auf die Klänge, die jetzt darauf warten, für den Anteil heilsam wirken zu dürfen.
–– Sobald der Gesang verklingt, treten Sie mit einem bewussten Schritt von dem Bild herunter, spüren Sie nach und stellen Sie sich folgende Fragen:
Was habe ich gehört, körperlich gespürt, gesehen … und was emotional gefühlt?
Was hat mich berührt?
Hat sich der besungene Anteil gemeint gefühlt?
Habe ich etwas über ihn erfahren?
Hat er mir etwas von sich mitgeteilt?
Was war schwierig, was fiel mir schwer?
Was war ganz besonders bewegend, heilsam, was „ging mir unter die Haut“?
–– Wenn es sich passend anfühlt, verabreden Sie sich mit dem von Ihnen besungenen inneren Anteil. Setzen Sie diese neue Beziehung fort zu einem Zeitpunkt und an einem Ort, den Sie jetzt verbindlich mit ihm ausmachen.

D Dauer: max. 10 Minuten
–– Legen Sie nun auf das Bild des zuvor gemalten, vor sich liegenden Anteils ein Stück Butterbrot-/Pergamentpapier und lassen Sie direkt darauf die Veränderung malend sichtbar werden. (Sollte so etwas nicht vorhanden sein, so kann auch auf ein zweites Blatt weißes Papier gemalt werden, dieses wird danach über oder neben das erste Bild gelegt.)
–– Abschließend bedanken Sie sich bei allen Anteilen, die bereit waren, mit Ihnen in Kontakt zu treten.
–– Nach dieser intensiven Stimm-Berührungs-Erfahrung mit sich alleine ist es in jedem Fall empfehlenswert, sich schreibend in ein persönliches Heft hinein mit allem auszudrücken, was Sie gehört, gespürt, gefühlt, neu entdeckt oder wiedergefunden haben. Sollten Sie danach die Gelegenheit für einen Austausch mit einer vertrauten Person oder auch Therapeut/in haben, umso besser.

Nicht müde werden
sondern dem Wunder
leise
wie einem Vogel
die Hand hinhalten.
Hilde Domin

Methodische Hinweise für Musiktherapeut:innen:
–– Es handelt sich hier um eine Sequenz zur Stimm- und Körpererfahrung im Kontakt, die recht anspruchsvoll ist. Sie setzt voraus, dass Klienten bereit und in der Lage sind, in sich hinein zu spüren und ihre Stimme eher rezeptiv und nach innen lauschend für spontanen Ausdruck zu benutzen. Daher empfehle ich, in der Therapie anfangs mit sehr kurzen, einfachen Wahrnehmungs- und Stimmerkundungsangeboten zu beginnen und die hier beschriebene Sequenz eher in einem fortgeschrittenen Stadium nach Etablierung einer stabilen, vertrauensvollen therapeutischen Beziehung einzusetzen.
–– In dieser Sequenz können sich durchaus tiefe Gefühle bahnbrechen, die dank der fortgesetzten Stimmklang-Wirkungen körperlich prozessiert werden können und damit die Chance bekommen, sich schnell zu wandeln. Vorausgesetzt, der Fluss des stimmlichen Ausdrucks wird nicht unterbrochen.
– Für die Situation einer Einzeltherapie eignen sich beide Varianten der Sequenz. Die zuerst beschriebene Partner-Variante setzt voraus, dass der/die Therapeut:in bereit und in der Lage ist, sich selber ganzkörperlich leistungsfrei tönend zu involvieren. Dabei geht es vor allem darum, nichts zu „machen“, zu „wollen“, zu „produzieren“, sondern auch als Therapeut:in sich selbst aus dem Weg zu gehen und lauschend, staunend geschehen zu lassen, was sich entfalten möchte.
– Bei der Einzel-Variante hat die/der Therapeut:in lediglich die anleitende und prozessbegleitende Rolle. In diesem Falle ist es besonders wichtig, dass die/der Therapeut:in lediglich die Schritte anleitet und während des Prozesses so wenig wie möglich spricht.
– Erst in der Nachbesprechung unterstützt die/der Therapeut:in mit körper- und erfahrungsbezogenen, ressourcenorientierten Fragen die Bearbeitung und Integration des Erlebten.
– Es handelt sich bei der hier angeregten Art lauschend und spürend in einem abgesenkten, hellwachentspannten veränderten Wachbewusstseinszustand zu Tönen, also empfangend zu singen, vom Vigilanzniveau her quasi um das Gegenteil von expressiv stimulierender, rhythmisierter Stimm-Improvisation.
– Der Schritt des malenden Ausdrückens mit Farben auf Papier ist in der Partnervariante eine lediglich ergänzende Möglichkeit, in der Einzel-Variante ist sie jedoch unverzichtbar, um die Externalisierung mit Bodenankern zu konkretisieren und den Veränderungsprozess sichtbar zu machen. Die Möglichkeit, auf Pergamentpapier direkt über dem vorherigen Bild weiter zu malen, regt zu wertvollem prozessorientiertem Malen an.
– Wichtig: beim Singen niemals unbewegt dastehen! Die beim Säugling noch reflexgesicherte Einheit von Stimmäußerungen, die grundsätzlich mit Ganzkörperbewegungen einher gehen, sollte bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen immer wieder einladend angeregt werden, damit der Körper sich an diese natürlichste Form des ganzkörperlich atmend bewegten Stimmausdrucks wieder erinnert. Dies findet maßgeblich subcortikal über die nonverbal vorgelebte Resonanz mit dem tönend bewegten Körper des Therapeuten/ der Therapeutin statt.

Literatur
Tom Holmes und Laurie Holmes (2013). Reisen in die Innenwelt. Systemische Arbeit mit Persönlichkeitsanteilen. Kösel.
Uta Sonneborn (2021). SELBST-geführte Psychotherapie. Arbor.
Sabine Rittner (2018). Vom Klang des Selbst. In: H.-H. Decker-Voigt, R. Spintge, E. Weymann, H.U. Schmidt (Hg.): Musik und Gesundsein, Halbjahreszeitung für Musik in Therapie, Medizin und Beratung. Ausgabe 33/2018. Reichert.
Unter www.sabinerittner.de finden Sie mehrere Videos mit einer von Sabine Rittner angeleiteten, tönenden Stimm-Meditation und einer Klangtrance-Reise kostenlos zum Mitmachen.

Sabine Rittner
ist Musikpsychotherapeutin, Atem- und Stimmtherapeutin, approbierte Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin, Psychotherapeutin (HP), Hypnotherapeutin, IFS- und Traumatherapeutin mit Spezialisierung in der Arbeit mit veränderten Bewusstseinszuständen und körperorientierter Therapie. Sie war 30 Jahre lang tätig am Institut für Medizinische Psychologie der Universitätsklinik Heidelberg (Lehre, Psychotherapie, Bewusstseins- und Musiktherapieforschung). Sie arbeitet weiterhin in eigener Praxis (Therapie, Supervision, Coaching), leitet Seminare, bildet aus, hält Vorträge und tritt international in Kunst-Performances auf. Umfangreiche Forschung und Publikationen zu den Themenkomplexen Bewusstseinsforschung – Klang – Trance – Stimme – Musiktherapie – Depression. Weitere Informationen: www.SabineRittner.de

Schwerpunktthema III

Sinn und Klang.
Über die Musik als Vermittlerin von Erlebniswerten 
Jörg Zimmermann

Vorbemerkung der Redaktion
Der nachfolgende Beitrag entstand für die MuG vor dem Hintergrund der Jahrestagung der Gesellschaft für Logotherapie und Existenzanalytische Psychotherapie (GLEP) im Jahr 2023 zum Thema „Vom Sinn des Hörens“. Inhaltlich schließt er sich damit an die beiden vorangegangenen Schwerpunktthemen an. Denn „jedes Hören in der Therapie ist Sinnsuche – sonst wäre es keine…“

Die Logotherapie und Existenzanalyse nach Viktor E. Frankl und die Musiktherapie sind einander ergänzende Heil- und (überwiegend säkulare) Seelsorgemethoden, die sich gegenseitig befruchten und erweitern können und dies auch bereits tun. So haben sich die Referentinnen und Referenten der letzten Tagung der Gesellschaft für Logotherapie und Existenzanalytische Psychotherapie (GLEP) im September 2023 mit dem Thema „Vom Sinn es Hörens. Logotherapie, Musik und Klang“ befasst, zum Teil sind sie sowohl Logotherapeuten als auch Musiktherapeuten (z.B. die Professoren Hans-Helmut Decker-Voigt und Eric Pfeifer). Der Vorsitzende der GLEP (und Autor dieses Beitrags) unterrichtet an der Hochschule für Musik und Theater in Hamburg Studierende der Musiktherapie in Psychiatrie und Psychotherapie und versucht dabei musiktherapeutische und existenzanalytische Aspekte zu integrieren.

Logos und Existenz
Der Begriff „Logos“ hat in der Bezeichnung „Logotherapie“ die Bedeutung von „Sinn“ und „Geist“ als Ziel
und Bedingung gelingenden Lebens. Die anthropologische und philosophische Grundlage bzw. Ergänzung
der Logotherapie nennt Frankl auch „Existenzanalyse“, er entlehnt den hier verwendeten Existenzbegriff der zeitgenössischen (Existenz)Philosophie und meint damit die Seinsweise, die der Mensch auf Grund seiner Freiheit verwirklichen oder auch verfehlen kann. Mögliche Existenz kann also ergriffen oder versäumt werden, sie ist somit für Frankl (in Anlehnung an Jaspers) nicht faktisch, sondern fakultativ, nicht gegeben, sondern aufgegeben. Sie stellt die lebenslang zu erfüllende Aufgabe der Selbstwerdung, die nicht mit der üblichen Vorstellung von „Selbstverwirklichung“ identisch ist. Bei der Selbstverwirklichung geht es nach verbreiteter Auffassung eher um die möglichst umfassende Befriedigung eigener Interessen und Bedürfnisse. Das „Werden zu sich selbst“ (Thomas Rentsch) im existenzanalytischen Sinne ist dagegen immer auch ein Transzendieren hin auf Andere und Anderes. Existenzanalyse ist somit nicht als Analyse der Existenz, vielmehr als Analyse auf Existenz hin zu verstehen, sie dient der Existenzverwirklichung im Sinne von Selbstwerdung und Selbsttranszendenz. Kurz: Das Ich wächst am Du und an seinen Aufgaben und Erlebnissen.
Frankl hatte seine sinnorientierte Psychotherapiemethode, die er auch „Ärztliche Seelsorge“ nannte, bereits in den 1920er und 30er Jahren entwickelt und fühlte sich in seiner Grundauffassung, dass das Leben unter allen Umständen einen Sinn haben kann, durch die von ihm erlebten Grenzsituationen (er hatte als von den Nationalsozialisten verfolgter Jude mehrere Konzentrationslager überlebt) nicht verunsichert, sondern im Gegenteil bestätigt. Die Logotherapie als „Dritte Wiener Schule der Psychotherapie“ wurde von ihm in bewusster Abgrenzung zur Psychoanalyse konzipiert, die den Menschen aus Frankls Sicht auf seinen psychophysischen, also objektivierbaren und empirisch erfassbaren Aspekt verkürze. Er ergänzt das „Psychophysikum“ um die geistige, beziehungsweise existenzielle Dimension, die die biologischen, soziologischen und psychologischen Bedingungen nicht leugnet, aber ermöglicht, dazu eine selbstgewählte Haltung einzunehmen und danach zu handeln.
Für Frankl ist der Mensch nicht nur von hedonistischer Getriebenheit und neurobiologischer Determination
abhängig, sondern als grundsätzliche freie Person für sich und seine Handlungen verantwortlich.
Selbstverständlich kann diese Freiheit durch äußere und innere Bedingungen, wie z.B. durch schwere psychiatrische Erkrankungen beeinträchtig werden. Freud hatte sich ja eingehend mit der Bedeutung der zum Teil unbewussten Triebe und dem aus Triebkonflikten resultierenden pathogenen Potential befasst, Frankl fügt der Triebpsychologie die existenzielle Dimension hinzu: Der Mensch hat Leib und Seele, aber er ist Geist.
Nicht nur frustrierte und verdrängte Triebbedürfnisse können in dieser Sicht zu psychischen Störungen und Neurosen führen, sondern auch das frustrierte oder unbewusst gewordene Sinnbedürfnis. Der Mensch ist nicht primär ein Wesen, das nach Lust- und Triebbefriedigung strebt, sondern wesentlich auf Sinn ausgerichtet. Wenn diese Sinnerfüllung aus inneren oder äußeren Gründen nicht mehr möglich erscheint, gerät er in ein „existenzielles Vakuum“, das zu Überdruss und dem Gefühl des nicht gelingenden Lebens, klinisch aber auch zur „noogenen Neurose“ führen kann. Die noogene Neurose ist für Frankl ein Störungsbild, das nicht aus einem Triebkonflikt, sondern aus einem geistigen Konflikt (nous = Geist) stammt. Klinisch können nach aktueller Nomenklatur psychische Störungen wie Depressionen, „Burnout“, narzisstische Störungen, Süchte und andere neurotische Störungen resultieren.

Wert und Sinn
Die Therapie besteht nun darin, dem Klienten oder der Patientin bei der Sinnfindung zu helfen. Sinn meint hier weder „Bedeutung“ noch „Zweck“, sondern „Lebens- oder Daseinssinn“, der zwar individuell ist, nicht aber von subjektiver Beliebigkeit abhängt. Er besteht vielmehr in der Verwirklichung von Werten, die Frankl in Anlehnung an den philosophischen Phänomenologen Max Scheler in gewisser Hinsicht als objektiv vorhanden betrachtet. Die Sinnfindung erfolgt durch Werteverwirklichung, daher bezeichnet Frankl Werte auch als „Sinn-Universalien“, die Scheler auch hierarchisiert hat. Werte sind grundlegende Orientierungsmaßstäbe, die darauf verweisen, wie man zur Erhaltung, Entfaltung und Erfüllung seines Lebens gelangen kann (vgl. Wolfram Kurz).
Sie sind damit Sinnmöglichkeiten, die sich auf die „conditio humana“ als solche beziehen und daher überindividuell gültig sind. Frankl beruft sich bei seiner Konzeption der Werte auf das sein Menschenbild prägende ethische und phänomenologische Hauptwerk von Max Scheler „Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik“ (1916), mit dem der Autor den Kantischen Formalismus durch eine materiale, also qualitativ fundierte Wertethik zu überwinden versucht. Werte besitzen im Bereich des Geistig-Emotionalen eine ihnen gemäße Objektivität, sie können aber nicht durch sinnliche Wahrnehmung oder Vernunft erfasst werden wie empirische Objekte. Die dazu erforderliche Fähigkeit wird intentionales Fühlen genannt. Es richtet sich nicht auf subjektive, aus dem psychischen oder physischen Bereich stammende Zuständlichkeiten, sondern in einem Akt der „Selbsttranszendenz“ auf geistige Gegenstände, also auf Werte. Auch das geistige Fühlen hat mit Scheler und Frankl eine Evidenz, eine spezifische „Logik“, die er mit einem Begriff von Blaise Pascal als „Logique du coer“ bezeichnet. Eine solche „Logik des Herzens“ ist nicht (natur)wissenschaftlich im engeren Sinne, aber dennoch rational in ihrem eigenen Geltungsbereich. Scheler unterscheidet also zwischen intentionalen (geistigen) und zuständlichen (aus dem somatischen und psychischen Bereich stammenden) Gefühlen, Frankl übernimmt diese Differenzierung und erkennt als Instanz für die Fähigkeit zum Wahrnehmen oder „Erspüren“ von Werten das Gewissen. Die von Max Scheler vollzogene Hierarchisierung der Werte übernimmt Frankl in dieser Form nicht. Scheler unterscheidet im Wesentlichen vier Wertebenen, unten stehen die Werte des sinnlichen Fühlens (Lust und Schmerz), darüber die Werte des vitalen Fühlens (Gesundheit und Krankheit), überragt von den Werten des geistigen Fühlens und des Heiligen.

Der Königsweg zum Sinn
Frankl unterteilt die Werte als Sinnverwirklichungsmöglichkeiten in drei Kategorien: „Schöpferische Werte“, „Erlebniswerte“ und „Einstellungswerte“.
Letztere sind Gegenstand der ärztlichen Seelsorge im engeren Sinne, sie zielen auf die innere Haltung des „homo patiens“ bei unabänderlichem Leid und schicksalsbedingter Unfähigkeit zu Kreativität und Genuss.
Bei den schöpferischen Werten geht es darum, kreativ und mit Schaffenskraft seine gewählten und vom Leben gestellten Aufgaben zu erfüllen. Den Prototypen des die aktiven und kreativen Werte erfolgreich umsetzenden Erfolgsmenschen nennt er den „homo faber“. Aber auch bei künstlerischen und musikalischen Aktivitäten werden schöpferische Werte verwirklicht, die Musiktherapie kann durch deren Vermittlung im praktischen Vollzug verlorene Sinnerlebnismöglichkeiten erneut erfahrbar machen. Dies kann beglückend sein, obwohl beispielsweise in der Depression die Glücksmöglichkeiten durch die Krankheit deutlich begrenzt sind. Auch dies ist eine der Grundannahmen der Logotherapie: Glück und die damit verbundenen Gefühle sollten nicht direkt intendiert werden, der Mensch soll einen Grund zum Glücklichsein anstreben, somit muss das therapeutische Musizieren nicht von Anfang an „Spaß“ machen, was ja häufig nicht der Fall ist, sondern kann zum Zweck der Wertverwirklichung eingesetzt werden. Die so gewonnene Sinnerfahrung wird häufig als ein (zunächst durchaus diskretes) Glückserlebnis wahrgenommen und kann damit antidepressiv wirken. Das direkt intendierte Glücksstreben, wie es beispielweise bei allen Süchten besteht, ist aus existenzanalytischer Sicht weder zielführend noch erfüllend und sollte durch das Streben nach Sinn ersetzt werden. Die damit einhergehende Stimmungsaufhellung ist, so betrachtet, ein erwünschter, aber nicht direkt intendierter Nebeneffekt.
Ein zweiter Königsweg zum Sinn besteht im Erfahren der von Frankl sogenannten „Erlebniswerte“. Der „homo amans“ nimmt die Welt mit ihren Schönheiten in sich auf und gibt sich liebend der Natur, der Kunst und der Musik hin. Karlfried Graf Dürckheim spricht in diesem Zusammenhang von „Seinserfahrungen“ (vgl. Zimmermann 2016), Hartmut Rosa von „vertikaler Resonanz“. Gemeint ist das resonante Angesprochenwerden durch musikalische Erlebnisse als Wertverwirklichung.
Dazu gehört auch die Realisierung von sozialen Werten, bis hin zu Liebe und Hingabe an andere Menschen, ein wichtiger Aspekt der Franklschen „Selbsttranszendenz“ als der Fähigkeit, der Selbstbefangenheit zu entkommen. Diese Form der Dereflexion kann auch mit Musik verwirklicht werden, sie ermöglicht die Hinwendung an einen geistigen Gegenstand außerhalb seiner selbst und verhindert so die grüblerische Fixierung auf den problematischen oder kranken Bereich. Logotherapeutische Musiktherapie kann dem Patienten dazu verhelfen, „über den Dingen“ und „über sich selbst“ zu stehen. Durch die Hinwendung zur musikalischen Welt kann der durch Erlebniswerte vermittelte Sinn plötzlich aufleuchten. Die logotherapeutisch interpretierte Aufgabe der Musiktherapeutin könnte in diesem Zusammenhang darin bestehen, den Wert des musikalischen Erlebens intentional spürbar zu machen. Viele unserer Patientinnen und Patienten leiden bei unterschiedlichen Diagnosen am existenziellen Vakuum, insbesondere Suchtpatienten und Depressive klagen oft, das Leben sei sinnlos geworden. Durch ernsthaftes und hingebungsvolles musikalisches Erleben kann auch diese Sinnmöglichkeit bewusst werden, selbst wenn auf Grund des Störungsbildes die Umsetzung schöpferischer Werte nicht mehr gut gelingen kann oder die Motivation dazu nicht mehr vorhanden ist. Die Sinnerfahrung durch Erlebniswerte erfordert Wertfühligkeit, Öffnung für die intensive Wahrnehmung der Gegenwart und eine gewisse Musikalität, also Empfänglichkeit für musikalischen Sinn, die aber auch gefördert werden kann.
Manche Patienten leugnen aber ihre vielleicht verschüttete Musikalität, hier können einfache, zum Teil selbst geschaffene Klangerlebnisse z.B. im Rahmen der Klangschalentherapie hilfreich sein.
Frankl belegt die Möglichkeit, dass auch Sinn in bloßem Erleben erfüllt werden kann in seinem berühmten Gedankenexperiment, bei dem ein musikalischer Mensch im Konzertsaal seine Lieblingssymphonie erlebt und er die Empfindung reinster Schönheit genießt. Die Frage, ob das Leben dieses Musikliebhabers einen Sinn habe, erübrigt sich in diesem Fall. Bereits „an der Größe eines Augenblicks lässt sich die Größe eines Lebens messen … und ein einziger Augenblick kann rückwirkend dem ganzen Leben Sinn geben.“ (Frankl 2005, S. 92). Der Erlebniswert wird musikalisch direkt vermittelt, ohne dass es einer verbalen Deutung bedürfte, die Gewissheit, dass das Leben einen Sinn hat, wenn man von der Musik ergriffen wird und sich berühren lässt, entsteht unmittelbar im Innenraum der Seele. Bei psychisch kranken Menschen ist die Unverfügbarkeit über das musikalische Sinnerleben sowieso schon ausgeprägter, daher sollte die praktische Vermittlung musikalischer Erlebniswerte z.B. durch die Einübung einer achtsamen Grundhaltung gefördert werden. Wichtig ist ebenso das „Reframing“ des therapeutischen Musikerlebens: Es geht hier nicht nur um eine oberflächliche Verbesserung der Befindlichkeit durch das Hervorrufen angenehmer zuständlicher Leibgefühle, sondern um eine potentiell heilsam wirkende musikalische Sinnerfahrung. Auch die verschiedenen Methoden der rezeptiven Musiktherapie, wie z.B. die „Musiktherapeutische Tiefenentspannung (MTE)“ nach Decker-Voigt können die Empfänglichkeit für musikalisches Sinnerleben ermöglichen oder fördern. Das wurde auf dem erwähnten Kongress der GLEP von den Autoren Hans-Helmut Decker-Voigt und Eric Pfeifer theoretisch erläutert und praktisch gezeigt. Die MTE könnte auch ein Mittel zur Erleichterung der Wertimagination sein.

Musik zwischen Immanenz und Transzendenz
Die Logotherapie nach Frankl ist zwar eine wissenschaftlich und philosophisch begründete, empirisch bewährte Psychotherapie und (ärztliche) Seelsorgemethode, die ihren Platz zunächst in der säkularen und immanenten Welt hat, Frankl hat aber andererseits Wert darauf gelegt, die „Tür zur Transzendenz“ offen zu halten und ggf. auch therapeutisch zu nutzen. So hat er in seiner philosophischen Dissertation („Der unbewusste Gott“) die Rolle der ins Unbewusste verdrängten Religiosität für die Entstehung der noogenen Neurosen untersucht. Daher kann sich auch in diesem Zusammenhang die Frage stellen, ob Musik ein rein immanentes, unter Umständen sogar neurobiologisch erklärbares Phänomen ist oder ob die Musik zudem ein Träger transzendenter Erfahrung sein kann, wie es nicht nur der Komponist Peter Michael Hamel interpretiert. Transzendenz kann als der Erfahrungsbereich verstanden werden, der die Überschreitung der Grenzen des sinnlich Erfahrbaren, Diesseitigen und Empirischen ermöglicht. Sie manifestiert sich durch Bilder und Symbole mit nicht verbalisierbarem, aber erfahrbarem Gehalt.
Auch in archaischen Kulturen diente die Musik der Versenkung und der Ekstase und dem Wahrnehmen des „Übersinnlichen“. Warum die Musik die „Transparenz für Transzendenz“ (Dürckheim) ermöglichen kann, ist deshalb schwer zu sagen, weil sie zum Bereich des Unsagbaren, aber nicht zwangsläufig Unwirklichen gehört. Musik vermittelt zwar Sinn und wird häufig mit der kommunikativen Funktion der Sprache verglichen, sie ist aber an keine immanente Referenz gebunden und daher leichter in der Lage, das ganz Andere, Transzendente zu erschließen. Musik kann so zur „Sprache des Unaussprechlichen“ (vgl. Vladimir Jankélévitch) werden.
Die immanenten Aspekte von Musik und Religion können wissenschaftlich beschrieben und erforscht werden, ihr eigentliches Wesen, ihre Essenz entzieht sich aber der wissenschaftlichen Erklärbarkeit. So kann man die psychologische und physikalische Wirkung von Musik erklären und beschreiben, ihr phänomenaler und spiritueller Gehalt erschließt sich dadurch jedoch nicht.
Radikal diesseitig und „profan“ nähert sich die Neurobiologie dem Phänomen Musik, die ja heutzutage so etwas wie eine „Leitwissenschaft“ geworden ist, diesen Status kann man ihr aber angesichts der insgesamt eher dürftigen Ergebnisse bei der Beantwortung der Frage nach dem Wesen der Musik durchaus auch absprechen.
Entsprechend dem Motto von Emil Staiger („Wir wollen begreifen, was uns ergreift“) wird der Ort der Wirkung der Musik ins Gehirn verlagert und dort ähnlich beschrieben, wie die Wirkung anderer erfreulicher Erlebnisse und Aktivitäten wie Schokoladeessen, Geldausgeben, Blickkontakt mit attraktiven Personen, Konsum von Drogen, Alkohol, Zigaretten und Sex. Allein die phänomenologische Analyse dieser angenehmen, aber durchaus verschiedenen Bewusstseinsinhalte zeigt, dass die hirnphysiologische Aufklärung der Wirkung von Musik sehr oberflächlich und begrenzt bleiben muss.
Karl Jaspers hätte in diesem Zusammenhang wohl von „Wissenschaftsaberglauben“ gesprochen. Er sieht das Wesen der Musik im Rahmen seiner Metaphysik dagegen als „Chiffre der Transzendenz“, sie bringe die Transzendenz zum Sprechen. „Die Musik berührt gleichsam den Kern der Existenz, wenn sie deren universelle Daseinsform zu ihrer Wirklichkeit macht. Nichts schiebt sich als Gegenstand zwischen sie und das Selbstsein.“ (Jaspers, 1973, S. 197).
Musik erhellt die Existenz und macht auch das belastete (Er)Leben wertvoll.

Literatur
Decker-Voigt, H.-H. und Pfeifer, E. (2021): Musiktherapeutische Tiefenentspannung (MTE). In: Decker-Voigt, H.-H. und Weymann, E. (Hrsg.), Lexikon Musiktherapie. Göttingen, Hogrefe. Überarbeitete, erweiterte Neuausgabe.
Decker-Voigt, H.-H. (Herbst 2024): Musiktherapeutische Tiefenentspannung/Hypnotherapy. Ein Praxishandbuch. München: Reinhardt.
Frankl V. E. (2005): Ärztliche Seelsorge. Grundlagen der Logotherapie und Existenzanalyse. Wien: Deuticke.
Jankélévitch, V. (2021): Die Musik und das Unaussprechliche. Berlin: Suhrkamp.
Jaspers, K. (1973): Philosophie III: Metaphysik. Berlin, Heidelberg, New York: Springer.
Scheler, M. (1980): Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik. Bern und München: Francke.
Zimmermann, J. (2019): Die „Doppelnatur“ des Menschen und ihre Bedeutung für die Existenzanalytische und Künstlerische Psychotherapie. In: Pfeifer, E.: [unter ständiger Mitwirkung von H.-H. Decker-Voigt] (Hg.): Natur in Psychotherapie und Künstlerischer Therapie. Theoretische, methodische und praktische Grundlagen (Band 2, S. 11 – 22). Gießen: Psychosozial-Verlag.

Die ausführliche Literaturliste ist beim Autor erhältlich.

Jörg Zimmermann
Prof. Dr., Direktor der Klinik für Gerontopsychiatrie und Psychotherapie der Karl-Jaspers-Klinik Bad Zwischenahn, Vorsitzender der Gesellschaft für Logotherapie und Existenzanalytische Psychotherapie,
Dozent am Institut für Musiktherapie der Hochschule für Musik und Theater Hamburg.

Praxisvorstellung

Ein Tag aus dem Leben einer Musiktherapeutin
Julia Ehrlich-Tochalkeva

Vorbemerkung der Redaktion
In der Rubrik „Praxisvorstellung“ diesmal: Autobiographische Gedanken anlässlich der musiktherapeutischen Praxis im „Haus am Lunapark“ in Leinefelde-Worbis. „Rubrik“ – das bedeutet immer auch, eine bestimmte Erwartungshaltung der Lesenden auf den folgenden Leseinhalt zu produzieren. Die jetzt erwartete „Praxisvorstellung“ folgt jedoch nicht dem vertrauten Format.

Es ist früh morgens, 5 Uhr. Eigentlich bin ich ein Nachtmensch. Spät am Abend schießt meine Energie hoch, ich erlebe mich selber kreativ, aktiv produzierend bis verrückt.
Langsam stehe ich auf und führe alle dazugehörigen Morgenrituale langsam durch. Auch mein Kaffee gehört zu den festen Ritualen.
Heute hat der dritte Satz vom Saint-Saëns Klavierkonzert N 5 eine Aufgabe. Er soll mich in Schwung bringen. Das gelingt eigentlich ganz gut. Ich schwinge mit dieser Musik so sehr, dass mir entgegenkommende Autofahrer es gewiss merken.
Danach höre ich Consolation N 3 von Liszt, was mich in ein Gefühl von „es war einmal“ versetzt. Ich denke über meinen bisherigen Lebensweg nach. Der war fast wie ein Märchen.
Damals lebte ich ständig im Zeitmangel – harte russische Klavierschule, tägliches Üben seit meinem fünften Lebensjahr, ständiger „Tun“-Modus, ohne Ausweichen.
Meine Mutter sagte: „Du hast morgen deinen Klavierunterricht. Was spielst Du denn für einen Quatsch?!“ (Sie meinte damit die Improvisation). „Du sollst Bach üben! Und auch Mozart kommt morgen in Frage! Dafür kriegst du deine Note, vergiss es nicht! Außerdem ist bald die Prüfung. Alles muss perfekt sein!“
Seufzend lasse ich den „Quatsch“. Ich bedauere das sehr. Ich bin so ein Freebird, wenn ich aus meiner kindlichen Seele herausspiele! Aber, naja, ein anständiges, gehorsames Mädchen soll alle Wünsche und Vorstellungen der Eltern erfüllen.
Schon damals war ich eine Gegnerin des Perfektionismus. Als Vierjährige stand ich zwar ganz artig auf dem Stuhl vor den eingeladenen Gästen, aber sang ein ganz komisches Lied, in dem jedes Wort von dem Wort „Nicht“ begleitet war, so wie „nicht Hänschen, nicht klein, nicht geht, nicht allein“. Damit blamierte ich mich und machte mich zu einem nicht anständigen Mädchen.
Doch es gab auch freudige Momente!
Meine kreative, fröhliche Mama, die auch wunderbar malte und meine Puppen mit selbst genähten bunten Kleidern so schick und glücklich machen konnte, hatte manchmal Lust, mit mir „Komm, lieber Mai und mache“ vierhändig zu spielen! Oder mein Vater, der Kriegsgeborene, leidenschaftlicher Musikliebhaber ohne Möglichkeit, ein Instrument zu lernen, der aus dem alten schwarzen Klavier in unserem Wohnzimmer einen Strauß-Walzer nach einem Philharmonie-Konzert entlockt hat.
In diesen Momenten verwandelten sich die ernsthaften Erwachsenen der Sowjetunion ganz plötzlich in Kinder!
Jetzt bin ich selbst kein Kind mehr, aber ich schäme mich niemals, in meinem Alter am Strand Sandburgen zu bauen! Dieses Spiel entspannt mich und bringt mich manchmal auf lustige, sprudelnde Ideen … und ich „verliere“ die Zeit (im damaligen Sinne) oder vergesse die Zeit (im neuen schönsten Sinne).
Habe ich damals schon meine komplette Lebensveränderung geahnt? Vielleicht beim nächtlichen heimlichen Lesen der Märchen der Brüder Grimm, die mich immer so fasziniert haben? Oder beim Spielen meiner „Muttermilch“: Musik wie Bach-Inventionen und Beethovens Sonaten? Aber auch zu der magischen „Nussknacker“-Schallplatte fühlte ich mich ebenfalls hingezogen und glaubte fest, ich sei die Marie!
Ich bin doch die Marie! Kann mich bitte jemand richtig schütteln? Es ist kaum zu glauben. Ich erinnere mich, wie ich an einem Winterabend in Sankt Petersburg im Jahre 2012 vor dem Fenster stand. Im Radio lief „Stille Nacht“ und obwohl ich überhaupt kein Wort Deutsch konnte, sang ich das Lied wieder und wieder nach Gehör. Und heute stehe ich im Dezember vor meinen Posaunenchor in der Kirche und „Stille Nacht“ ist tief in meinem Herzen. Die märchenhafte Wunderwelt ist meine Wahrheit.
Irgendwann war die Zeit der Musikschule und Musikfachschule vorbei und ich bin sehr gut an der Musikhochschule angekommen.
Meine Klavierprofessorin, geniale Pianistin, Pädagogin und trotz mehrerer heftiger Schicksalsschläge eine unerschütterliche Optimistin, wurde zu meiner Klaviermutter. Sie hat kindliche Neugier, Begeisterung und unglaublich viel Wissen auf spielerische Art und Weise. Niemals war sie abwertend und hatte immer ihre „Schatzkiste“ mit den Sätzen dabei. An solch einen Schatz-Satz erinnere ich mich auch heute sehr oft: „Mach so viele Fehler beim Vorspielen wie Du willst!“
Das war eine Umstellung. Von glänzenden Passagen ging es zur Tiefe und Ruhe und dann zur Freiheit.
Am Ende meines Studiums erwähnte sie wie zufällig: „Mensch, Julia! Es gibt etwas sehr Interessantes! Musiktherapie nennt sich das. In unserem Land ist die Musiktherapie kaum bekannt, aber in Deutschland schon.“
Solche „zufälligen“ Sätze verfolgen uns oft im Leben. Sie tauchen ganz plötzlich zu einem richtigen Zeitpunkt auf. Mein Leben, meine Einstellung zum Leben wird maßgeblich von solchen „zufälligen“ Sätzen geprägt.
Meinem Hochschulabschluss folgten zehn Jahre intensiver pädagogischer Tätigkeit und auch Konzerte,
Konkurrenz und Neid im musikalischen „Hexenkessel“.
Wieder Bewertung. Gut, schlecht, richtig, falsch. Schwarz, weiß. Es gibt keine Farben mehr, nur die Kontraste. Ich bleibe richtig, auch perfekt und merke, dass sowohl Lust als auch Luft raus sind. Das „perfekte“ System macht mich Tag für Tag kränker. Ich bin psychisch völlig erschöpft und spüre eine leise und monoton tickende Bombe in mir.
Der letzte Tropfen war meine dreizehnjährige Schülerin Alexandra, die heutzutage eine hervorragende Organistin in Frankreich ist. Genauer gesagt war es der „pädagogische“ Umgang mit Alexandra.
Frechheit, stundenlange Treffen am Friedhof mit Jugendlichen, tiefe blutige Wunden an beiden Händen,
„himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt“ – ich durfte diesen Übergangsprozess nicht nur beobachten, sondern auch begleiten, für die zerbrechliche Jugendseele da sein und einfach zuhören, in ihrem Schmerz annehmen, den Schmerz wertschätzen. Dieses Vertrauen ist so wichtig!
Ich sah meine damalige Pubertät im Spiegel und war stolz auf das mutige Mädchen in ihrer Pubertät. Ja, das war ein Zeichen, ein Klingelton, eine Aufforderung – ich musste etwas verändern.
Zehn Jahre nach dem „zufälligen“ Satz im Jahr 2014, nach zahlreichen Konzerten und pädagogischen Erfahrungen bin ich wieder eine Studentin im Alter von 38 Jahren. In Deutschland. An der theologischen Hochschule Friedensau. Der nächste Lebenswandel für mich.
Nach dem Studium wollte ich gleich in die musiktherapeutische Arbeit einsteigen und habe mich dort
vorgestellt, wo mein Tag in wenigen Minuten beginnt – im „Haus am Lunapark“, im Wohn- und Therapiezentrum für Menschen mit Autismus mit dem Spektrum Störungen und Hör- und Sehbehinderung.
Im Haus duftet es nach Kaffee. Meine Haut spürt die Wärme, aus dem Snoezelraum kommt sanfte Entspannungsmusik. Mein Blick fällt auf die mit Bildern gestaltete Wand. Kurz reise ich in meinen Gedanken in das Jahr 2021, in die farblose Lockdown-Mitte, eine Zeit voller Einschränkungen und Verbote. So viel Liebe haben die Bewohner zusammen mit dem Kunsttherapeuten in diese farbigen Bilder gesteckt!
Die Sonne schickt ihre Strahlen und die ersehnte Wärme strömt schon durch meinen ganzen Körper.
Unser eingespieltes Therapieteam besteht aus einer Arbeitstherapeutin, einer Diätassistentin (Kochtherapeutin), einer Ergotherapeutin, einem Psychologen, einem Sporttherapeuten und einem Künstler und Sozialpädagogen. Wir sind unterschiedlich wie Feuer und Wasser, aber pflegen sorgfältig
unsere vertrauensvolle fachbezogene Kommunikation. Der ganzheitliche Therapieansatz umfasst nicht nur
einzelne Sequenzen der Menschen mit Autismus, sondern bezieht seine bisherige Umgebung und seine Bezugspersonen in die therapeutische Förderung und Integration ein. Oberstes Ziel der therapeutischen Arbeit ist der Erhalt der Selbstbestimmung, die Förderung der selbstständigen Lebensführung und gesellschaftliche Integration der Menschen mit Autismus.
Arbeitstherapie und Ergotherapie gestalten sich je nach Möglichkeiten des Bewohners. Dabei wird mit
ganz unterschiedlichen Materialen wie Holz, Papier, Stoff usw. gearbeitet. Die Teilnehmer erledigen viele Aufgaben im Haus wie z.B. Dekorieren, Blumen- und Gartenpflege, Herstellung von kleinen Geschenken, sowie die Vorbereitung des Angehörigentages, der ein besonderer Höhepunkt im Haus ist. Zu diesem Tag wird ein Theaterstück einstudiert und aufgeführt. Dabei begleite ich die Theaterstücke musikalisch und tauche zusammen mit den Bewohnern in die bunte, kostümierte Märchenwelt ein, wo mir im dunklen Wald ein böser Wolf begegnet oder wo ich eine königliche Hochzeit mitfeiern darf. Manche Bewohner sind sehr talentiert. Auch eine Begabung, wie zum Beispiel jede Stimme ganz genau nachmachen zu können, begegnet mir dort. Ich staune oft, wenn ich beobachte, wie als „typisch autistisch“ klischierte Menschen ihre „Seelen-Türchen“ aufmachen!
Und getreu dem Motto „Essen hält Leib und Seele zusammen“ wird das Kochen auch zur Therapie. Der „Koch“ der Gruppe darf seine individuellen Wünsche in die Therapie mit einfließen lassen und die eigene Phantasie zur Inspiration nutzen. Die Bewohner freuen sich immer sehr, wenn sie ihrer Gruppe und den Betreuern mit dem ausgewählten Menü eine Freude bereiten können.
Die Zugangsmöglichkeiten zu den Menschen mit Autismus sind besonders eingeschränkt. Jede Therapie orientiert sich daran, inwieweit sie dem autistischen Menschen hilft, seine Fähigkeiten zu entwickeln und trotz seiner Störungen Sozial- und Handlungskompetenz zu erwerben.
Unsere Angebote sind vielfältig und haben Ziele: Stabilisierung und Förderung der Kommunikation durch das Erlernen von Kommunikationsformen; den Erhalt und den Ausbau von kognitiven Fähigkeiten; Verbesserung der Wahrnehmung durch basale Stimulation; Orientierungstraining und Verbesserung der Motorik durch Mobilitätstraining; Förderung sozialer Kompetenzen; Entwicklung lebenspraktischer Fähigkeiten. Ergänzt werden diese Aktivitäten durch ein vielfältiges Freizeitangebot innerhalb und außerhalb der Einrichtung.
In der Musiktherapie suchen wir „Schlüssel“ zueinander – langsam, achtsam und geduldig. Das ist ein gegenseitiger Prozess. Wir lernen voneinander. Wir lernen, miteinander umzugehen. Unsere Wahrnehmung ist sehr unterschiedlich. Manchmal entstehen dadurch wirklich kuriose Geschichten! Aber was ist denn richtig? Und was ist falsch?
Aber wir ergänzen uns, wie Plus und Minus bei einer Batterie. Die Therapie ist ein Balanceakt. Ein geplanter, bewusster Methodenansatz einerseits und Spontanität, Lebendigkeit und Unerwartetes andererseits. Der Mensch steht im Mittelpunkt, Ausgangspunkt sind seine Stärken. Er wird in seinen Kompetenzen und Interessen abgeholt, wo er sich befindet.
Die Menschen mit Autismus weisen eine Reihe weiterer psychischer Störungen auf, wie Phobien, Zwänge, Depressionen, Schlaf- und Essstörungen und heftigen Wutausbrüchen, die beim Trommeln wie die Blitze in den Baum einschlagen. Reflektieren ist nicht immer möglich und wo die Rede aufhört, fangen die Töne an zu sprechen.
In der Improvisation geschieht Begegnung, das Ungesagte findet seinen Ausdruck und kann sich in Resonanz zu den Mitspielenden weiterentwickeln.
Nonverbale Kommunikation ist auch mein fester Bestandteil als Musikerin. Man empfängt die Schwingungsfrequenzen des Partners und synchronisiert sich damit.
Die Therapie findet in 1:1 Betreuung, aber auch in Kleingruppentherapieform statt und wird individuell
nach den Wünschen und Bedürfnissen der Bewohner durchgeführt. Wir singen die Lieder, die das Sprachvermögen erweitern und auch nicht selten die Erinnerungen wecken. Manchmal wird ein Lied spontan „geboren“, sogar mit einem lustigen phantasievollen Text! „Traumreisen“, Naturgeräusche normalisieren innere Balance, beruhigen, trösten. Bei der Therapie versuche ich, die persönlichen Potenziale und Bedürfnisse zu erkennen, zu stärken und Eigenständigkeit zu fördern.

Meine Erlebnisse
W. grüßt mich mehrmals am Tag, was mir eigentlich nur große Freude bereitet. Ich kenne keinen einzigen Menschen, der so viele Lieder auswendig singt!
In der allerersten Stunde entdeckte W. ein Volksliederbuch und sagte, dass er gerne mit mir singen würde. Ich nickte ihm zu. Direkt ging es los und gleich in bayrischem Dialekt. Am Anfang war ich, gebürtige Russin, keine besonders gute Partnerin für dieses abenteuerliche Spiel. Vor mir saß ein absolut glücklicher, geselliger Mann, der heute, nach vier Jahren, mir im Flur sagt: „Ich habe Dich gerne!“ Und! Vielfältigkeit und Reichtum der Deutschen Sprache ist für mich kein Hindernis mehr!
S., eine junge sehbehinderte autistische Frau, sagt: „Weißt Du, ich mag tanzen!“ Sie schlägt vor: „Wir machen Folgendes: Ich bewege mich und Du spiegelst meine Bewegung auf Deinem Klavier!“ … Glückliches Lachen … Sie sagt: „Weißt Du, was ich mag?“ Leise summt sie ein Lied.
Aha, … nach kurzem Überlegen „hole“ ich ihre Melodie aus dem Klavier.
Weiter sagt S.: „Weißt Du, diese Melodie habe ich im Auto gehört, unterwegs nach Italien.“ Eine Reisegeschichte folgt der anderen.
Der Novemberraum klingt, erfüllt sich mit dem herzhaften Lachen. Wieder ein Phänomen – eine prachtvolle geöffnete „Seelenblume“. Mit Musik kann ich die Gefühlswelt beeinfl ussen. Und auch das Leben ein bisschen versüßen. Bitteres Weinen gibt es genug.

Jeden Tag lasse ich mich auf etwas Neues, etwas Anderes ein und lasse los.
Ich freue mich, wenn es gegen Abend im Haus nach Kuchen riecht. Häusliche gemütliche Atmosphäre ist hier besonderes wichtig!
Zwei Bewohner bringen mich zur Tür, wünschen einen schönen Feierabend und fragen ein wenig besorgt, ob ich nächste Woche wieder komme.
Wir brauchen uns, denke ich.
Menschen mit Autismus benötigen spezielle Hilfen, die individuell angepasst wird. Die Betroffenen und auch ihre Angehörigen benötigen Menschen, die sich für diese spezielle Problematik des „Autismus-Spektrum“ einsetzen, die mit Liebe und Geduld nach Lösungen suchen, damit autistischen Menschen ein gleichberechtigtes Leben ermöglicht wird.
Ich wünsche mir so sehr, dass sich die Menschen hier im Haus geborgen fühlen.
Jetzt ist der Moment: Ich stehe auf einer „Brücke zwischen zwei Welten“. Morgen erwartet mich Kirchenmusik und eine Abendprobe mit dem Posaunenchor – eine gute Abwechslung und eine gute Ergänzung. Ich darf heutzutage die Menschen in ihrer Trauer und auch im Glück musikalisch begleiten. Die „Musiküberei“ hat mich damals krank gemacht, aber jetzt bin ich geheilt und Tag für Tag wird meine Seele sensibler.
Viele Menschen haben autistische Züge. Außer dem festen Morgen-Kaffee brauche ich heute auch mein Abend-Klavierspielen. Die Tasten scheinen heute bunt zu sein. Ich denke an Resonanzen, Schwingungen und Polaritäten und beim „Streicheln“ der Liszt-Chromatismen beobachte ich erstaunt, dass mein Wunsch, „Freebird“ zu sein, in Erfüllung ging.

Julia Ehrlich-Tochalkeva
In Sankt-Petersburg geboren und aufgewachsen. 1999 Beginn eines Studiums mit Fachrichtung Klavier und Klavierpädagogik. Nach dem Hochschulabschluss zehn Jahre intensive pädagogische Tätigkeit und auch Konzerte. 2014 Umzug nach Deutschland. 2019 Diplom als Musiktherapeutin (Theologische Hochschule Friedensau, M. A.). Heutzutage ergänzen sich Musik, Musiktherapie und Musikpädagogik.

Musiktherapeutischer Klinikspaziergang

Musiktherapie im Fachklinikum Uchtspringe
Von Sonja Helmholz

Umgeben von Wiesen, Wald und Feldern, in ruhiger und wohltuender Abgeschiedenheit, befindet sich das Fachklinikum Uchtspringe, geführt in Trägerschaft der landeseigenen Salus gGmbH sowie im Verbund mit der Salus Altmark Holding gGmbH. Es liegt im gleichnamigen Ort Uchtspringe, einem Ortsteil der Hansestadt Stendal, am Rande der Colbitz-Letzlinger Heide im Landschaftsschutzgebiet „Uchte-Tangerquellen und Waldgebiete“. Nicht nur die naturreiche Umgebung, sondern auch das historisch wertvolle, ruhige und parkähnliche Ambiente der Klinik lädt zu Spaziergängen und zum Verweilen ein. Die alten Backsteingebäude, welche noch aus der Gründungszeit sind, hielten jeder Witterung stand und bieten heute, auch dank umfangreicher Investitionsmaßnahmen, einen hohen Komfort.
Trotz der Abgeschiedenheit ist das Fachklinikum verkehrstechnisch durch die Bundesstraße 188 und die A14 sehr gut angebunden. Haltestellen von Bus und Bahn sind auf dem Areal zu Fuß erreichbar und vom nahegelegenen Bahnhof Stendal schafft man es binnen einer Stunde ins Zentrum von Berlin.

Kleiner geschichtlicher Einblick
Vor mehr als 130 Jahren, um das Jahr 1892 herum, beschloss die Regierung des damaligen deutschen Reiches die Errichtung einer unbedingt notwenigen dritten Heil- und Pflegeanstalt. Diese wurde nur zwei Jahre später im Jahr 1894 eröffnet.
Die ersten Kranken wurden im September 1894 noch in Zelten aufgenommen, welche später durch eine Vielzahl neu erbauter Backsteinbauten ersetzt wurden. Ziel war es, die Kranken später in familienähnlichen Settings unterzubringen, somit entstand ein sogenanntes „Pflegerdorf“ um die Heilanstalt herum.
Seit November 2016 ergänzt ein moderner zweigeschossiger Komplex das Fachklinikum, in welchem
sechs Stationen der Kinder- und Jugendpsychiatrie/-psychotherapie (im folgenden KJPP genannt) neue Räumlichkeiten und mehr Platz fanden.
Eines der vorherigen Stationshäuser wurde saniert und zur neuen Klinikschule umgebaut, die im Juni 2018 öffnete und direkt an den Neubau der KJPP angrenzt. In einem weiteren ehemaligen Stationshaus entstand, ebenfalls nach Sanierungs- und Umbauarbeiten, das neue Therapiehaus, in dem die Bibliotherapie, die Ergotherapie und die Musiktherapie untergebracht sind. Es steht den Patienten seit April 2021 zur Verfügung und bietet ihnen kürzere Wege zwischen den einzelnen Therapien.

Das Fachklinikum heute
Das Fachklinikum Uchtspringe versorgt die Bevölkerung der Altmarkkreise Salzwedel und Stendal. Zu den medizinischen Fachgebieten gehören die Erwachsenenpsychiatrie, Gerontopsychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik, Suchtmedizin, Kinder- und Jugendpsychiatrie, -psychosomatik und -psychotherapie, Neurologie und Schlafmedizin.
In den Bereichen der Psychotherapeutischen Medizin, der Schlafmedizin und auch des Deutschen Zentrums für hörgeschädigte Kinder und Jugendliche mit psychischen Störungen werden auch überregional Aufgaben wahrgenommen.
Es gibt sechs chefärztlich geleitete Kliniken, die insgesamt über 296 vollstationäre Betten verfügen, verteilt auf 20 Stationen. Diese unterscheiden sich sowohl in den Krankheitsbildern als auch in den Altersgruppen der Patienten, was wiederum ermöglicht, dass die jeweiligen Therapieangebote speziell darauf abgestimmt werden können.
Die einzelnen Stationen arbeiten nach unterschiedlichen Therapiekonzepten (verhaltenstherapeutisch-lerntheoretisch, tiefenpsychologisch, persönlichkeitszentriert, systemisch), wobei überall ein ganzheitlich orientierter Ansatz verfolgt wird und demnach sowohl körperliche, seelische, soziale als auch lebensgeschichtliche Einflussfaktoren der Erkrankung bei der Behandlung berücksichtigt werden. Das allgemeine Anliegen besteht in der nachhaltigen Gesundung und Wiedereingliederung der Patienten in den Lebensalltag, wobei natürlich auch die persönlichen Ziele der Patienten ihre Berücksichtigung finden.

Die Musiktherapie im Fachklinikum
Die Musiktherapie findet ihren Ursprung im Fachklinikum bereits in den 1970er Jahren und wurde damals in Form von Musikhören und dem gemeinsamen Singen angeboten. Im Laufe der Jahre haben sich die Methoden dann weiterentwickelt, spezifi ziert und das Angebot generell erweitert.
Heute gehört die Musiktherapie neben der Logopädie, Physio-, Sport-, Ergo-, Biblio-, Erlebnis- und Sozialtherapie zu den Spezialtherapien des Fachklinikums.
Ich selbst hatte damals das Glück, meine Praxissemester während des Studiums hier zu absolvieren und als Honorarkraft zu arbeiten, bevor ich eine Festanstellung bekam. Mittlerweile bin ich seit 20 Jahren im Klinikum tätig.
Gemeinsam mit zwei weiteren Kolleginnen sind wir bestrebt, das gesamte Klinikum mit einem musiktherapeutischen Angebot abzudecken. Jede von uns betreut sechs bis sieben Stationen, wodurch die einzelnen Angebote unterschiedlich ausfallen.
Unser musiktherapeutisches Angebot richtet sich nach den individuellen Bedürfnissen und den therapeutischen Zielsetzungen der Patienten, welche wöchentlich oder 14-tägig in einer multiprofessionellen Teamsitzung, unter Anwesenheit von Ärzten, Psychologen und weiteren Spezialtherapeuten, gemeinsam besprochen und festgelegt werden.
Für die Kinder und Jugendlichen sind wöchentlich jeweils zwei Gruppentherapien und zwei Einzeltherapien je Station fest im Therapieplan integriert, so dass jedes Kind bzw. jeder Jugendliche mindestens einmal in der Woche Musiktherapie bekommt. In Ausnahmefällen kann es auch sein, dass jemand an der Gruppentherapie teilnimmt und zusätzlich Einzeltherapie bekommt, um noch individueller auf dessen Bedürfnisse eingehen zu können.
Die Therapien der Erwachsenen finden überwiegend in Gruppentherapien statt, je nach Anforderung und Kapazität werden diese durch Einzeltherapien ergänzt. Hier bekommen die einzelnen Gruppen zwei bis drei Mal in der Woche ein musiktherapeutisches Angebot, so dass auch regulär verschiedene Methoden ihre Anwendung finden.
Wir bieten sowohl aktive Formen der Musiktherapie an wie Gruppensingen, Instrumental-improvisation, das Malen nach Musik, rhythmisches Bewegen als auch die rezeptive Musiktherapie in Form von Regulativer Musiktherapie und Klangtherapie bzw. die Klangmassage.
Die Musiktherapie wird vor allem von den Kindern und einem kleinen Teil der Jugendlichen gern angenommen. Ihre kindliche Neugierde, ihr Spieldrang und auch ihre Spontaneität lässt sie den Zugang zur Musik überwiegend leicht finden. Viele der Kinder bedauern es daher, dass diese Therapieform nur einmal wöchentlich stattfindet.
Bei den Erwachsenen und auch dem Großteil der Jugendlichen treffen wir dagegen, zumindest in den Erstkontakten, auch auf Widerstand. Häufig wird die Musiktherapie zunächst mit Musikunterricht gleichgesetzt, an den viele keine guten Erinnerungen haben. Somit werden die ersten Stunden oft durch Unsicherheit und Ängste begleitet, die es den Patienten erschwert, sich einzulassen. Es ist daher immer wieder eine Herausforderung, den Patienten zu vermitteln, dass es nicht um das Können geht, sondern um das Ausprobieren, das Erleben, das Wahrnehmen und Beschreiben des Erlebten. Zudem kommt noch die Angst vor Gefühlen, die eventuell geweckt und nicht kontrolliert werden können.
Vielfach ist ein längerer Prozess notwendig, bis sie erkennen, welche Möglichkeiten ihnen die Musiktherapie bietet. Erlauben sie sich und schaffen es, sich einzulassen, können sie auf musikalischer Ebene, in einem spontanen und spielerischen Umfeld Beziehungen und Gefühle neu erproben und gestalten und – nachdem diese dadurch erfahrbarer gemacht werden – im weiteren Verlauf auch be- und verarbeiten. Oftmals sind die Patienten selbst überrascht, was mit Hilfe der Musik ausgedrückt und von ihrem Gegenüber alles wahrgenommen werden kann.

Unsere Räumlichkeiten
Der Großteil der Patienten kann die Therapieräume im Therapiehaus nutzen. Hier stehen uns drei Räume zur Verfügung. Zwei davon sind hell, relativ groß und für die aktive Musiktherapie ausgerichtet. Die Ausstattung ist daher geprägt durch eine Vielzahl von Orffschen Instrumenten wie Handtrommeln, Klanghölzer, Becken, Glöckchen, Xylophon und Metallophon. Zur Verfügung stehen auch jeweils ein Klavier, Tischtrommel, Big Bom Bass, verschiedene Trommeln, z.B. Congas, Djemben, Darabukas, Cajons, Schlitztrommeln, Steel Drum, Saiteninstrumenten wie Gitarren, Akkordbretter, Kantele und die Klangwiege. Ergänzt wird dieses breite Spektrum durch Blasinstrumente in Form von Flöten, Harmonika und Mundharmonika sowie Klanginstrumente wie Röhrenglocken, Chimes, Handpan, Gong, Kalimbas, die Ocean Drum und Regenmacher. Zusätzlich zum genannten Instrumentarium erfreuen sich besonders die Kinder und Jugendlichen, aber auch immer häufiger die Erwachsenen am Schlagzeug und an der E-Gitarre.
Unser dritter Raum ist etwas kleiner und dient uns dank seiner gemütlichen Atmosphäre als Klangraum. Für die Klangmassage gibt es dort mehrere Klangschalensets und zudem noch Gongs, ein Röhrenspiel und ein Monochord für die Klangtherapie.
Für Patienten, welche geschützt untergebracht sind bzw. aufgrund ihrer körperlichen Verfassung, wie z.B. bei einer Magersucht, nicht oder noch nicht das Therapiehaus besuchen können, haben wir in der KJPP einen großen Instrumentenwagen, welchen wir dann auf die jeweilige Station fahren können. Für Therapien auf der Neurologie und Gerontopsychiatrie nehmen wir unsere Gitarren und kleinere Instrumente in Körben oder Taschen mit.

Musik als gemeinsame Sprache, die verbindet (Fallbeispiel, anonymisiert)
Sandro ist ein Junge von neun Jahren. Er besucht aufgrund seiner Hörschädigung die 3. Klasse einer Förderschule mit dem Schwerpunkt Hören und Kommunikation. In unser Fachklinikum kommt Sandro wegen aggressiver Impulsdurchbrüche, die sowohl zu Hause als auch in der Schule auftreten. Weiterhin wurde von der Mutter beschrieben, dass er schreit, provoziert, spuckt und auch Sachen zerstört. Im Stationsalltag wird Sandro ähnlich beschrieben, er provoziert, schubst, haut und beißt seine Mitpatienten. Sandro fällt es schwer, Anschluss zu finden, er wird von seinen Mitpatienten gemieden und spielt häufig allein. Auch dem Pflegepersonal gegenüber zeigt er sich provokant und ignoriert Hinweise. Sandro verweigert den Unterricht, fängt an zu randalieren und schiebt voller Wut auch manchmal Möbel durch die Gegend.
Als ich Sandro zum ersten Mal sehe, sitzt er, den Blick auf den Boden gerichtet, ganz still auf einem der Stühle im Flur, während seine fünf Gruppenmitglieder miteinander erzählen, lachen und Quatsch machen. Er folgt uns brav in den Musiktherapieraum, sucht sich einen Stuhl aus dem Stuhlkreis aus und meidet weiterhin jeglichen Blickkontakt.
Wir beginnen mit unserem Begrüßungslied, welches durch Gebärden und auch körpereigenen Instrumenten, wie Klatschen und Stampfen, begleitet wird. Als der Teil mit dem Klatschen und Stampfen kommt, schaut Sandro zunächst zu seinen Sitznachbarn rechts und links. Er beobachtet dann aufmerksam, was wir alle zusammen machen. Als ich ihn mit Hilfe von Gebärden frage, ob er gern mitmachen möchte, nickt er vorsichtig. Ein Junge, welcher ebenfalls neu und zum ersten Mal in der Musiktherapie ist, erklärt mir ganz aufgeregt, dass Sandro gar nichts hören würde und deshalb auch nicht mitmachen könne. Ich erkläre ihm mit lautsprachbegleitenden Gebärden, dass Sandro zwar nicht hören, aber dafür schauen und sich natürlich auch bewegen kann, was Sandro ein kleines Schmunzeln entlockt. Sandro begreift sehr schnell, dass es ein Wechselspiel zwischen den Kindern und mir ist, wann und wie oft gewunken oder geklatscht oder gestampft wird. Er ist mit voller Begeisterung dabei.
Nachdem wir uns begrüßt haben, baue ich einen kleinen Instrumentenkreis auf, in welchem ein Schlagzeug, ein Big Bom Bass, ein Cajon (Sitztrommel), eine Djembe, eine Handpan und eine Gitarre zu finden sind. Ich wähle bewusst Instrumente, die nicht nur gehört, sondern auch gefühlt werden können, da die taktile Wahrnehmung eine besonders große Rolle bei Hörbeeinträchtigungen spielt. In der Arbeit mit hörbeeinträchtigten Kindern oder Jugendlichen unterscheiden wir Hörmusik und Fühlmusik voneinander. Hier besteht das Fühlen einerseits z.B. im Kontakt zum Boden, wie beim Schlagzeug oder das Berühren des Fells der Djembe, andererseits werden aber auch Hohlräume des Körpers wie der Brustbereich oder der Bauch in Schwingung gebracht, darüber Vibrationen wahrgenommen und entsprechend Töne unterschiedlich gefühlt.
Da die Begeisterung für die Instrumente bei allen Kindern sehr groß ist, erkläre ich, dass sich jetzt jeder ein Instrument aussuchen kann und wir dann im Uhrzeigersinn wechseln werden, so dass jeder mal jedes einzelne Instrument ausprobieren kann. Sandro hat sich für die Sitztrommel entschieden, welche er mit viel Neugierde und Freude ausprobiert.
Unser Spiel heute heißt „Musik nach Bewegung“. Das bedeutet, dass sich die Musik an den Bewegungen der jeweiligen Person im Kreis orientiert, z.B. schnell oder langsam, laut oder leise, in einem bestimmten Rhythmus oder vielleicht auch durcheinander gespielt wird. Eine kleine Proberunde zeigt mir, dass die Kinder sehr schnell begreifen, wie das Spiel funktioniert. Alle warten gespannt, bis ich anfange, mich zu bewegen.
Auch Sandro schaut aufmerksam zu und setzt meine Bewegungen entsprechend auf der Sitztrommel um. Besonders das schnelle Trommeln, wenn ich renne, scheint ihn zu begeistern, er lacht ausgelassen mit den anderen Kindern zusammen. Aber auch die leisen Töne, wenn ich durch den Raum schleiche, begleitet er mit vorsichtigem Fingertippen.
Als Sandro dann in der Mitte ist und seine Musik mit eigenen Bewegungen gestalten kann, ist er sichtlich aufgeregt. Doch schon als er beginnt zu stampfen und die anderen Kinder passend dazu energisch auf ihren Instrumenten spielen, scheint die Aufregung zu verfl iegen. Sandro probiert mit viel Lebendigkeit und Freude die verschiedensten Bewegungen aus. Besonders die abrupten Wechsel zwischen den Extremen von Laut und Leise und Schnell und Langsam scheinen ihm zu gefallen. Sandro genießt sichtbar die Aufmerksamkeit der Gruppe und ein Teil dieser zu sein – ein Gefühl, welches er nur selten erfährt. Auch bei der musikalischen Umsetzung der Bewegungen seiner Gruppenmitglieder zeigt er ein großes Interesse, kann die Unterschiede entsprechend am jeweiligen Instrument variieren und bleibt die gesamte Zeit gespannt und aufmerksam im Gruppenspiel dabei.
Am Ende der Therapie gebärdet Sandro immer wieder, wieviel Freude ihm das Trommeln gemacht hat, besonders das laute Trommeln. Er fasst sich dabei auf die Brust, wo er es scheinbar am meisten wahrgenommen hat. Dies berichtet er aufgeregt mit strahlenden Augen und einem sichtbaren Gefühl von Glücklichsein dem Pflegepersonal.
Sandro kommt auch zu den folgenden Therapieeinheiten mit viel Vorfreude, wirkt fröhlicher und kontaktfreudiger. Im weiteren Therapieverlauf überrascht er uns sogar damit, dass er sich traut beim Begrüßungslied das Wort „Hallo“ mit seinen Lippen zu bilden und teilweise auch seine Stimme einzusetzen, was ein deutliches Zeichen von Vertrauen ist.
Als es einmal Terminüberschneidungen gibt und er nicht an der Musiktherapie teilnehmen kann, lese ich später im Pflegebericht, dass er sehr enttäuscht darüber war und mit einem heftigen Wutausbruch reagiert hat.
In den begleitenden Teambesprechungen wird deutlich, dass sich zumindest der schulische Ablauf verbessert, aber es leider im Stationsalltag weiterhin häufig zu Auseinandersetzungen und Wutanfällen aufgrund der Sprachbarriere kommt. Sandro zeigt während der Musiktherapie kein einziges Mal Ansätze dieses Verhaltens. Wir haben unsere gemeinsame Sprache in der Musik gefunden, die es ihm ermöglicht in Interaktion treten und auch mit anderen kommunizieren zu können. Es sind nur kurze, aber wichtige Momente, in denen Sandro Teil der Gruppe ist und ein Gemeinschaftsgefühl genießen kann, was ihn deutlich zufriedener und vor allem auch ausgeglichener stimmt.

Sabrina Helmholz
Dipl.-Musiktherapeutin (FH). Seit 2013 im Fachklinikum Uchtspringe tätig. Weiterbildungen nach Peter Hess zur KliK-Expertin (Klingende Kommunikation) und zur Klangmassagepraktikerin.

Editorial

Vom Augenblick zum Hörblick

Bitte – einen Augenblick! Unterbrechen Sie bitte Ihr Lesen dieser Zeilen und fragen Sie sich: Was höre ich gerade?
Und: Wie höre ich es? Im Vordergrund? Im Hintergrund?
Die kleine Zeit, die Sie eben um einen Augen-Blick gebeten wurden, führte zu einem Hör-Blick. Unserem
Hören, Ihrem Hören ist diese Ausgabe im Schwerpunktthema gewidmet.

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