Praxisvorstellung

Praxis für Musiktherapie

Pünktlich zu meinem 40jährigen Praxisjubiläum erhalte ich von der MuGRedaktion die Anfrage, diese dort vorzustellen. Es gibt sie seit 1981 in München, seit 1989 auch in Wessobrunn. Ich teile sie mit meiner Frau, der Pianistin und Atemtherapeutin Gabriele Engert-Timmermann. Ich selbst bin immer dienstags und mittwochs in der Münchner Praxis, ansonsten kann man mit mir in Wessobrunn Termine vereinbaren.
Zum Beruf des Musiktherapeuten kam ich auf Umwegen. Ich habe von 1969 bis 1975 in Münster studiert, schloss das Studium sowohl mit einem 1. Staatsexamen für das Lehramt und Musik als didaktischem Fach als auch mit einem Diplom in Pädagogik mit Schwerpunkten Sozialarbeit und Psychologie ab. Von 1975 bis 1978 war ich dann als Musiklehrer an einer Hauptschule im nördlichen Emsland tätig. In dieser Zeit lernte ich Musiktherapie im Rahmen einer Wochenend-Weiterbildung bei Hans-Helmut Decker-Voigt in der Lüneburger Heide kennen und wusste sofort: Das ist es!
Meine musiktherapeutische Ausbildung erhielt ich von 1978 bis 1981 an der Hochschule, heute Universität, für Musik und Darstellende Kunst in Wien unter der Leitung von Prof. Alfred Schmölz. Er hat meine Vorstellungen vom Fach, die praktische klinische Arbeit sowie Lehre und Lehrtherapie sehr geprägt. Seine didaktische Methode, den Studierenden Musik als Sprache verständlich zu machen, ist für mich immer noch faszinierend und grundlegend für vieles, was heute in der modernen Musiktherapie praktiziert, erforscht und gelehrt wird. Den Stufenweg zum musikalischen Symbolisieren in der Improvisation habe ich, natürlich meiner Persönlichkeit, Erfahrung und Weiterbildungen entsprechend, modifiziert und in dieser Form auch mit meinen Studierenden angewendet als eine Schule des Hörens und Verstehens, des Erspürens und Ausdrückens in Tönen.
Nach dem Studium in Wien zog ich nach München, um im Auftrag des Freien Musikzentrums dort Musiktherapie als Fachbereich aufzubauen. Dieser umfasste schließlich eine Fortbildungsreihe, eine jährliche Tagung und eine berufsbegleitende Ausbildung. Gleichzeitig begann ich in München Musiktherapie in freier Praxis anzubieten, was damals noch recht ungewöhnlich war. Man stieß aber durchaus auf das Interesse von Ärzt*innen und Psychotherapeut*innen, und der damalige Zeitgeist war sehr offen für Neues, selbsterfahrungsbereit und tolerant. Unser Fach war zunehmend in psychotherapeutischen Weiterbildungsinstituten und bei entsprechenden Veranstaltungen vertreten. Ärzt*innen und Psychotherapeut*innen nahmen Kontakt zu mir auf und boten Zusammenarbeit an, wenn sie Patient*innen hatten, bei denen sie sich von der Musiktherapie gute Erfolge versprachen. Bei entsprechenden ärztlichen Empfehlungsschreiben und einer selbstverfassten schriftlichen Begründung konnten die Kosten für die Musiktherapie sogar als „Kulanzleistung“ von Kassen übernommen werden. Das endete leider mit dem Psychotherapeutengesetz.
Von 1987 bis 1989 war ich Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Ulm, zunächst an der Abteilung „Anthropologie und Wissenschaftsforschung“ bei Prof. Baitsch, dann an der Abteilung für Psychotherapie, wo ich bei Horst Kächele promovierte. Die Studie zu einer Einzelmusiktherapie ermöglichte mir noch einmal eine lange und gründliche Reflektion der praktischen Arbeit, die ich nicht missen möchte. Gemeinsam mit Nicola Scheytt und Susanne Bauer bauten wir, insbesondere durch die „ulmer werkstatt für musiktherapeutische grundlagenforschung“, ein Netzwerk zur musiktherapeutischen Forschung auf. Inzwischen wird diese Tagung an der Universität Augsburg weitergeführt.
Im Jahre 1989 zogen meine Frau und ich mit unseren Kindern nach Wessobrunn, wo wir immer noch leben und seitdem im Hause einen Praxisraum für Musik- und Atemtherapie eingerichtet haben. Oberbayern ist im ländlichen Bereich keine therapeutische Diaspora. Sowohl Atem- als auch Musiktherapie werden nachgefragt. Zu mir kommen neben einigen Ortsansässigen auch Patient*innen und Klient*innen, die eine weitere Anreise mit der Arbeit in Blockzeiten kompensieren und die oberbayerische Landschaft genießen.
1995 fanden wir unsere Münchner Praxis, ein ehemaliges Tonstudio, welches schallisoliert worden war und daher sowohl die akustischen Phänomene dämpft als auch einer musiktherapeutischenSchweigepflicht genüge tut.
Sowohl in der Münchner als auch der Wessobrunner Praxis führe ich Musiktherapie mit erwachsenen Patient*innen und Klient*innen durch. Die meisten kommen mit psychosomatischen Beschwerden und verschiedenen psychischen Probleme, manche auf Empfehlung, manche wollen nach einem Klinikaufenthalt Musiktherapie als eine Therapieform, die ihnen gut getan hat, weiter erleben, manche suchen gezielt nach Musiktherapie und finden mich im Internet.
Inzwischen nehmen auch Lehrmusiktherapien und Supervisionen einen großen Teil meiner Praxistätigkeit ein. Lehrtherapie beinhaltet für mich einerseits einen persönlichen Selbsterfahrungsprozess, der die eigene Geschichte und aktuelle Probleme reflektiert. Gleichzeitig begleitet der Prozess die Erfahrungen in der Ausbildung, die Begegnungen mit dem Setting dort, insbesondere auch der Gruppe. Es wird jedoch auch immer
wieder die Metaebene einbezogen, das Reflektieren von erlebten Vorgehensweisen, Gedanken über die Rolle als Therapeut*in, das entsprechende Verhalten, unter Umständen verbunden mit theoretischen Hinweisen, und, last but not least, die Abgrenzungen vom Verhalten des Lehrtherapeuten oder der Lehrtherapeutin, um eine eigene Therapeut*innen-Persönlichkeit zu entwickeln.
Für die Arbeit stelle ich sowohl in München als auch in Wessobrunn Räume mit einem Instrumentarium zur Verfügung. Dies ist so ausgewählt, dass eine möglichst große Vielfalt an Klangmöglichkeiten angeboten werden kann. Zur Einrichtung des Raumes gehören ansonsten bequeme Sitz- und Liegemöglichkeiten inklusive Decken und Kissen. Auch kleine Angebote wie das Bereithalten von Papiertaschentüchern und von Zetteln und Stift für Notizen haben sich in der Alltagspraxis bewährt.
Zentrale Instrumente sind für mich Klavier, Monochord, Bassettl, Schlagwerk und Gitarre, ergänzt um diverse Orff- und Rhythmusinstrumente, um Blasinstrumente, Leiern, Akkordeon, Geige, um Gong, Klangschale, Ocean Drum, um Dschembe, Rahmentrommel, Rasseln und andere handliche Klangerzeuger. Alle Instrumente stehen bei mir grundsätzlich sowohl den Patient*innen/Klient*innen als auch mir als Therapeuten zur Verfügung, je nachdem, was die jeweilige Situation ausmacht.
Das Klavier ist von der Tonerzeugung her einfach und ohne besondere Kenntnisse zu spielen; an ihm lässt sich die ganze Komplexität der Musik (also Zentraltönigkeit/Bordun, Basslinien, Akkorde/Kadenzen, Melodien, Rhythmen, Atmosphären…) verwirklichen. Man kann es gut zu zweit spielen. Therapeut*innen ermöglicht es modales und kadenziales Spiel ebenso wie tastendes Mitsuchen oder provozierendes Aufrütteln.
Das Monochord hatte ich im Rahmen meines Wiener Studiums in der Vorlesung von Prof. Rudolf Haase über harmonikale Grundlagenforschung kennengelernt. Zwar fand ich das Messen mit den kleinen hölzernen Stegen spannend und aufschlussreich, sah aber auch die Möglichkeit, mit stabileren Spielstegen Skalen und andere Tonfolgen aus allen möglichen Teilen der Erde wie bei einem musikalische Baukasten einzustellen. Da hinein phantasierte ich eine Zukunftsmöglichkeit in der Musiktherapie, die sich erst später konkretisierte. Patient*innen und Klient*innen aus den verschiedensten Ländern Europas und der Welt sind heute selbstverständlicher Teil des musiktherapeutischen Alltags. Dieser schlichte Holzkasten mit Saiten namens Monochord ist kulturunabhängig eine Art Archetyp des Saiteninstruments, und in Verbindung mit dem Einstellen kulturspezifischer Skalen entsteht eine sofort und leicht spielbare Begegnung mit dem jeweiligen kulturellen Hintergrund. Gleichzeitig stellt das fließende Spiel auf den gleichgestimmten Saiten eine Möglichkeit zum rezeptiven „Für-Spiel“ oder auch eine Einladung zum Mittönen mit der Stimme dar.
In verschiedenen Texten habe ich bereits über die musikalische Realisation gängiger psychotherapeutischer Techniken nachgedacht. Wie klingt Halten (Holding, Containing), Stützen, Spiegeln, Konfrontieren/Provozieren usw. Das Bassettl, ein kleiner Bass, weckt bereits im Namen die Phantasien von Basis, also haltendem, stützendem, fundierendem Spiel, durch Streichen oder „groovendes“ zupfendes Begleiten von Improvisationen – auch bei „exotischen“ Instrumenten jenseits von Kammerton und temperierter Stimmung. Es lassen sich aber musikalisch auch sehr schön die Schattenseiten des Lebens vertonen, besonders, wenn man ungeübt mit Streichinstrumenten ist, aber auch, wenn man es will.
Grundsätzlich kann jedes Instrument geeignet sein, auf das Spiel von Patient*innen und Klient*innen Resonanz zu geben. Dies kann ein unterstützendes und stärkendes Begleiten sein. Vielleicht folgt man aber auch (womöglich nicht unbedingt in der ersten Sitzung) dem Impuls zur Konfrontation durch spontan provozierendes Spiel als Anregung von Veränderung, Wandlung, sich Lösen aus Festgefahrenem.
Eine dabei hilfreiche therapeutische Haltung ist, die Patient*innen wahrzunehmen, ohne sie zu bewerten. Dies ist gerade in der Psychotherapie mit künstlerischen Medien von großer Bedeutung, wird doch künstlerischer Ausdruck in der professionellen Form immer auch mit kritischer Beurteilung verbunden. Nach meiner Erfahrung ist es am Leichtesten, wenn man einfach neugierig auf Musik im weitesten Sinne ist, auf freie Improvisation als einer akustischen Symbolsprache. Diese Haltung lauscht auf die Resonanz suchende Seele, findet authentische Formen klanglichen Ausdrucks spannend und möchte sich im Kontakt möglichst natürlich verhalten. „Möglichst“ schließt den Gedanken ein, dass auch Therapeut*innen nur Menschen sind und über individuell begrenzten Spielraum an Möglichkeiten verfügen, jedoch daran arbeiten und sich spätestens bei auftauchenden Problemen supervisorischen Beistand holen. Eine gute Kombination von Demut und Würde scheint mir dabei hilfreich.
Seit meiner Studienzeit beschäftige ich mich mit dem psychologischen Modell von C. G. Jung. Dies in den Zusammenhang mit der Musiktherapie zu stellen, war Thema eines meiner letzten Bücher. Sein Wirklichkeitsmodell ist für mich das natürlichste Abbild der Seelenlandschaft, das ich kenne. Im Zentrum steht die Individuation, die persönliche Selbst- und Sinnfindung des Menschen in Beziehung zu Mitmensch und Mitwelt. Ziel von Therapie ist dann, den persönlichen Spiel-Raum im Schicksal mehr und mehr auszufüllen, möglichst vollständig zu werden und die darin liegende Freiheit nehmen und leben zu können.
Mir gefällt speziell Jungs Unterscheidung der zwei Arten von Gewissen, des „Über-Ich“ und der „inneren Stimme“. In meinem akustischen Denken geht es darum, die Stimmen der „Über-Ich-Talkshow“ aus Eltern, Verwandten, Lehrern, Priestern und „Influencern“ aller Sorten leiser werden zu lassen, um die „innere Stimme“ des Selbst vernehmen zu können, um den ganz persönlichen Lebenssinn zu erkennen. Sozialisationsbedingter Selbst-Entfremdung setzt Jung das heilsame Bewusstsein entgegen, dass jeder Mensch persönlich bedeutsamer und sinnvoller Teil eines sinnvollen Ganzen ist. Es geht also um eine Be-sinnung auf und ein sich wieder Verbinden (re-ligio) mit dem tiefsten, primären Selbst, das heil und heilsam unter allen schicksalsbedingten Wunden, Irritationen und Verbiegungen auf dem Grunde unseres Atems darauf wartet, dass wir nach Hause kommen.
Großen Einfluss auf meine Arbeit hatte die Ausbildung in Atemtherapie, die ich, gemeinsam mit meiner Frau, bei Herta Richter im Münchner „Atemhaus“ in den 1980er Jahren genoss. Ich lernte, mich im Sitzen, Liegen und Stehen mit dem Atem zu verbinden. Das Schmölzsche Element der Stille, des Lauschens, des „Lauschsamwerdens“ und des sich Einstimmens wurde hier noch einmal vertieft. Als ehemalige Sängerin lud Herta Richter uns immer wieder zum Tönenlassen des Atems ein, was zu wunderschönen Stimmimprovisationen in der Gruppe führte und für mich auch eine Brücke zur Musiktherapie darstellte. In gemeinsam mit meiner Frau geleiteten Seminaren haben wir eine Kombination von Atem- und Musiktherapie methodisch entwickelt. In der therapeutischen Praxis sind Körper- und Atemwahrnehmung für die Vorbereitung rezeptiver Angebote und als Moment der Einstimmung in eine Improvisation hilfreich. Der Spielraum im Schicksal offenbart sich im Atemraum, den ich zulassen kann.
Eine große Erweiterung meiner therapeutischen Perspektive stellt auch die systemische Aufstellungsarbeit dar, die ich in den 1990er Jahren durch Selbsterfahrung und Beobachtung kennenlernte. In meiner musiktherapeutischen Arbeit ist sie eine wichtige Vorgehensweise, sowohl diagnostisch im Hinblick auf das Forschen nach dem Ursprung von Problematiken als auch bei der pragmatischen Suche nach Lösungen. Hierbei steht nicht das Subjekt oder Ich im Zentrum der Wahrnehmung, sondern das Spiel der Kräfte, in die der einzelne Mensch eingebunden ist. Aufstellungen können ein Feld voller Informationen in die Wahrnehmung bringen. Es kann spürbar werden, wie ein Familiensystem in seiner transgenerationalen, beziehungsmäßigen Komplexität wirkt und manchmal, wie dies im Zusammenspiel mit archetypischen Kräften (das Mütterliche, der Tod usw.) sich darstellt. Individuation ist durch Verstrickung in überpersönliche Schicksalszusammenhänge oft nur reduziert möglich, wenn Menschen unbewusst in systemisch ausgleichende Rollen gehen, z.B. das Schicksal eines vorhergehenden Familienmitglieds wie in einem für ihn geschriebenen Drehbuch „nachleben“. Freuds „Wiederholungszwang“, modern als „repetitive Muster“ beschrieben, zeigt sich hier auf der systemischen Ebene.
Die musiktherapeutische Aufstellungsarbeit mit Gruppen erfordert allerdings einen größeren Raum als meine private Praxis bieten kann. Doch auch im Einzelsetting ist das Aufstellen der Herkunftsfamilie für mich ein sehr anschauliches und bei rechter Anwendung wenig von Kopf und Über-Ich gesteuertes Mittel, sinnlich erlebbar und höchst wirksam den größeren Schicksalszusammenhang wahrzunehmen, in dem ein Mensch sich befindet. Indem dieser sich dann zu den einzelnen Instrumenten stellt, wird einerseits die Blickrichtung der repräsentierten Personen deutlich, gleichzeitig kann er sich dort jeweils einfühlen und auch die Situation anderer Familienmitglieder spüren. Die Symbolik der Instrumente tut ein Übriges. Das Experimentieren mit der Aufstellung ermöglicht eine Suche nach Lösungen, auch im weiteren Verlauf eines Prozesses. Ebenfalls in der Supervision hat sich dies bewährt.
Das war jetzt die Geschichte mit meiner Praxis. Auch wenn ich fest angestellt war an Kliniken und Universitäten,
ich behielt immer mindestens einen Tag pro Woche dafür bei. Ich konnte auch nie etwas erforschen oder unterrichten, was ich selber gar nicht mehr mache. Dazu liebe ich im Übrigen diesen Beruf zu sehr.