Praxisvorstellung

Musiktherapie mit Kindern und Jugendlichen im MVZ Ankerplatz
Von Daniel Franz

„Kinder- und Jugendpsychiatrie als Ausgleich“ – habe ich gedacht. Denn hauptberuflich bin ich in einer Suchtklinik für Alkohol- und Medikamentenabhängigkeit als Musiktherapeut und Seelsorger angestellt. Von meiner dortigen Tätigkeit habe ich bereits in der Ausgabe 43/2023 (Musiktherapeutischer Klinikspaziergang) berichtet. Schon lange bin ich begeistert dabei mit Kindern und Jugendlichen zu arbeiten und sie zu begleiten – ob als Pfadfinder, im Bandprojekt mit Teens oder später als Jugendpastor. Dass jedoch die musiktherapeutische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen alles andere als ausgleichend für mich ist, bemerkte ich recht schnell. Vielmehr fordert sie mich heraus, einen Umgang mit dem Unausgeglichenem zu finden.

Das MVZ Ankerplatz
Das MVZ Ankerplatz ist ein Medizinisches Versorgungszentrum für Kinder und Jugendliche mit seelischen Symptomen und Beschwerden sowie Lern- und Entwicklungsproblemen in der östlichen Region Niedersachsens an den Standorten Jembke, Gifhorn und Helmstedt. Hervorgegangen aus der seit 2004 bestehenden Praxis Leuschner, bietet das Team von sieben Ärzt:innen und 30 Therapeut:innen sozialpsychiatrische Diagnostik, Beratung und Behandlung mit Einzel-, Gruppen- und Familientherapien an sowie bei Bedarf eine medikamentöse Behandlung. Das Behandlungsangebot umfasst unter anderem verschiedene Formen von Ängsten, psychosomatische Beschwerden, depressive Symptome, emotionale und Verhaltensstörungen, Krisenintervention, Zwänge, Ticstörungen, Störungen aus dem autistischen Spektrum, manische und psychotische Störungen, Lern- und Leistungsstörungen, Wahrnehmungsstörungen, Essstörungen sowie Suchterkrankungen. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit wird neben den Ärzt:innen von Therapeut:innen verschiedener Art gestaltet – wie aus den Bereichen der Ergo-, Musik-, Kunst-, Familien- oder Psychotherapie. Den zuständigen Therapeut:innen werden Patient:innen (von Kleinkind- bis junges Erwachsenenalter) zugeteilt. Im Sinne einer Zuarbeit werden die kleineren Bereiche wie die Musiktherapie beauftragt die Haupttherapie zu unterstützen. Dies geschieht in der Regel in Form von zunächst sechs Therapiesitzungen. Nach anschließender mehrwöchiger Pause und eventuellem Antrag auf eine Fortsetzung können weitere Sechserblöcke verordnet werden. Zudem sind regelmäßige Sprechstunden mit den zuständigen und hauptverantwortlichen Ärzt:innen wesentlich, sowohl zur Kontrolle und Diagnostik als auch zur Steuerung des Behandlungsverlaufs.
Nachdem ich damals im Rahmen meines Studiums der Musiktherapie bei den beiden bis dato einzigen
Musiktherapeut:innen in Jembke hospitierte, tat sich für mich die Möglichkeit auf, den Standort in Gifhorn als Musiktherapeut zu unterstützen. Seit Anfang 2020 biete ich nun jeden Donnerstagabend drei Therapiesitzungen an.

Die Musiktherapie
Überwiegend arbeite ich im Einzelsetting, gelegentlich auch in der Gruppe. Das Altersspektrum meiner Patient:innen liegt bis jetzt ungefähr zwischen 7 und 20 Jahren. Zunächst hatte ich den Wunsch und die Vorstellung, ausschließlich mit Älteren therapeutisch zu arbeiten und freute mich auf intellektuelle und reflexive Gespräche. Diese kamen auch zustande. Nur weitete sich das Spektrum meiner Zielgruppe aufgrund des Bedarfs so weit aus, dass ich mittlerweile insgesamt eher Jüngere zwischen 7 und 13 Jahren begleite.
Mit den Jugendlichen sitze ich gerne mal auf unserem riesigen Sofa, wir unterhalten uns und hören Musik – die optimale Atmosphäre, um in tiefgehende Gespräche einzutauchen. Instrumentale Interventionen dienen dabei häufig als Unterstützung zur Wahrnehmung und Reflexion einzelner Phänomene. Dazu dient ein kleines, aber ausreichendes Repertoire an Klang- und Rhythmusinstrumenten. Mithilfe der Gitarre sind auch schon so manche improvisierten Duette zustande gekommen.
Eine Therapiesitzung mit Kindern gestaltet sich überwiegend spielerisch. Die Phasen des informellen und reflektierenden Austauschs sind verhältnismäßig kurz oder teilweise gar nicht vorhanden – abhängig von der kognitiven Reife und der Aufmerksamkeitsspanne. In der Musiktherapie mit Kindern steht das Erleben im Vordergrund. Sie haben die Möglichkeit, alternative oder korrigierende Beziehungserfahrungen zu machen, sich auszuprobieren und ihr Potential kennenzulernen oder zu entfalten. Zudem begegnen mir im Spiel – ob Gesellschaftsspiel, Toben und Kämpfen mit Schaumstoffschwertern oder dem improvisierten, darstellerischen Instrumentalspiel – innere Konflikte, seelische Zustände, verschiedene Persönlichkeitsaspekte und vor allem systemische Phänomene der Familie.
Bereits in dieser knappen Darstellung wird deutlich, dass die Musiktherapie mit Kindern und Jugendlichen recht facettenreich sein kann. Die Gestaltung ist abhängig von Alter, Diagnose, Geschlecht, Tagesform und vielem mehr. Flexibilität und Freude am Kindsein halte ich für wesentlich und unabdingbar – beides liegt mir glücklicherweise. Dennoch kostet es viel Kraft, die ich aber gerne dafür aufbringe.

Musiktherapeutische Eindrücke
Der zwölfjährige Phillip – zunächst schüchtern und unruhig – war mein erster Patient und für mich die erste Begegnung mit dem Asperger-Syndrom. Wir konnten bereits in der ersten Sitzung über die Welt der Musik bzw. des Musikmachens gut und schnell anknüpfen. Nach einer halben Stunde befand ich mich in einer Unterrichtseinheit, in der mir Phillip vortrommelnd den korrekten Beat zeigte, den ich imitieren sollte, während im Hintergrund laut ACDC lief. Über die Jahre hatten wir mehrere musiktherapeutische Blöcke. Es entwickelte sich etwas stark Vertrautes, das ihn und mich in seinen einzelnen Entwicklungsabschnitten bis heute begleitet – mittlerweile ist er 17 Jahre alt.
Misophonie – der „Hass auf Geräusche“.
Leon, 16 Jahre alt, begeisterter Cross-Fahrer, erklärte mir betroffen in welchem Maße Wut in ihm aufsteige, wenn er mit seinem älteren Bruder am Essenstisch sitzt. Da bestimmte Geräusche wie das vermeintliche Schmatzen des Bruders Leon dazu zwängen die Küche zu verlassen, sitzt er regelmäßig im Nebenraum und isst alleine. Wir betrachteten gemeinsam die Dynamik in der Familie mit besonderem Augenmerk auf der Beziehung zum Bruder. Das konfliktgeladene Verhältnis – gefördert durch die fast übergriffigen Vermittlungsversuche der Eltern – und Leons Rolle in der Familie wurden für ihn immer deutlicher. Er war ein stückweit das „Motoröl“ des Systems – er versuchte die Stimmung aller zu regulieren und vermied weitestgehend die Konfrontation.
Hendrik, mittlerweile 13 Jahre alt, träumt vom YouTube-Influencer-Dasein. Begeistert zeigt er mir in jeder Sitzung seine aktuellen Lieblingslieder und berichtet schwer zu bremsen von seinen Erlebnissen und Gedanken aus der medialen Welt. Seinem ADHS gemäß und der gewöhnlichen Reaktion „bitte sei nicht zu viel“ legt er stets Entschuldigungspausen ein, wenn er meint, er rede zu viel. Seine damals gegenwärtigen Herausforderungen waren vor allem Konflikte und Mobbing in der Schule sowie das vermeintlich schlechte Verhältnis zu seinem Vater, bei dem er jedes zweite Wochenende übernachtet. Hendrik beweist viel Sinn für Humor, zeigt musikalisches Interesse, probiert sich regelmäßig auf der Gitarre aus und sucht gerne den Wettkampf mit mir. Momentan befinden wir uns nach zwei Jahren im vierten Musiktherapieblock. Die Beziehung zu seinem Vater ist deutlich besser geworden, die Situation in seiner Klasse hat sich positiv entwickelt und stabilisiert, er ist nun Besitzer einer eigenen Gitarre und hat seine ersten beiden YouTube-Videos hochgeladen.
„Bist du gerne mal die Bestimmerin?“, fragte ich die neunjährige Mia. Leicht verlegen und doch zufrieden strahlend antwortete sie, dass es sonst nicht ihr Ding sei, aber sie sich hier frei fühle. Mia erlebe ich sehr lebendig und dynamisch zwischen zwei Polen – dem selbstregulierenden Angepasstsein und der dominanten Selbstbestimmtheit. Sie probiert sich instrumental stets ausgiebig und ausgelassen aus, fordert mich jedoch am liebsten in verschiedenen Gesellschaftsspielen zum Wettkampf auf.
Simon kam zu mir in die Musiktherapie mit der Bitte, ihn dabei zu unterstützen seine Gefühle, vor allem seine Wut, besser regulieren zu können. Für einen Vierzehnjährigen offenbarte er sich als ziemlich reflektiert. Ein intelligenter und bedachter Junge mit ausgeprägtem Gerechtigkeitssinn. Wir stellten verschiedene konflikthafte Situationen mit Instrumenten dar, änderten die Perspektiven, begegneten Gefühlen und versuchten zu verstehen. Wir erarbeiteten und trainierten Möglichkeiten der Selbstwahrnehmung und -regulation – wahrnehmen, annehmen und ernstnehmen wurde zu unserem Motto. Seine größte Herausforderung war jedoch, sich fallen zu lassen und seinem verspielten Anteil den Raum und die Aufmerksamkeit zu geben.

Kinder- und Jugendpsychiatrie gegenüber Suchtrehabilitation
In der Klinik für Alkohol- und Medikamentenabhängige habe ich das Privileg die Doppelrolle als Musiktherapeut und Seelsorger bedienen zu dürfen – beides ergänzt sich wunderbar. Auch im MVZ erlebe ich meinen Seelsorgehintergrund als eine Bereicherung für meine Arbeit. Beispielsweise haben die Sitzungen mit Phillip, von dem ich oben berichtete, im Laufe der Zeit die Themen an philosophischen und religiösen Wesenszügen gewonnen. Mittlerweile unterhalten wir uns auch über seinen Glauben, der ihm einerseits eine bedeutende Ressource ist und ihm zugleich einen Zugang zur Jugendgruppe seiner Kirchengemeinde verschafft. Dort gelingt es ihm, soziale Kontakte zu pflegen, was ihm in anderen Bereichen eher schwerfällt. Andersherum lief es bei der zwanzigjährigen Tamara (Asperger-Syndrom), mit der ich vor drei Jahren Seelsorgegespräche führte, die das Ringen um den Sinn, Geistes- und Naturwissenschaft, Leben und Tod und vieles mehr beinhalteten. Mittlerweile befinden wir uns in einem eher musiktherapeutischen Arbeiten.
Schnell musste ich lernen, dass mein eher konfrontatives Vorgehen in der Suchtklinik zwar seine Berechtigung und Notwendigkeit haben, dies jedoch in der Therapie mit Kindern für diese zu destabilisierend sein kann. Kinder und Jugendliche sind auf ihre Bezugspersonen angewiesen. Die Strukturen mancher Familien mögen vielleicht destruktiv sein, und doch könnte es die Kinder und auch viele Jugendliche überfordern, diese in Frage zu stellen. Gelegentlich erwische ich mich dabei, wie ich innerlich in die Rolle des Fürsprechers für ein Kind gerate und gerne stellvertretend die Familie hinterfragen möchte. Doch vermutlich ist es dann nicht mehr Mitgefühl dem Kind gegenüber, sondern viel mehr mein eigenes Leiden in dieser Situation. Ebenso bin ich heraus- und aufgefordert mich ausreichend zu distanzieren, wenn das Kind im Alter eines meiner Kinder ist oder ich mit meiner eigenen Kindheit konfrontiert werde. Diese sensiblen Dynamiken erlebe ich persönlich mit Kindern und Jugendlichen stärker, als in der Arbeit mit Erwachsenen.
Besonders betroffen macht es mich, wenn mich gelegentlich Nachrichten von ehemaligen Rehabilitand:innen der Klinik erreichen, die rückfällig geworden oder sogar dem Krankheitsstadium entsprechend verstorben sind. Ähnlich geht es mir, wenn ich teilweise den weiteren Verlauf der Kinder und Jugendlichen verfolge, die bei mir in der Musiktherapie waren. Zu oft müssen Rückschläge nach vermeintlichem Therapieerfolg dokumentiert werden. Dies lässt mich manchmal müde und hilflos werden.
Bei aller Spannung und Herausforderung fühle ich mich dennoch in beiden Arbeitsfeldern sehr wohl. Die Unterschiede der Zielgruppen fordern und fördern mich in Achtsamkeit und Flexibilität und sorgen für horizonterweiternde Inspiration. Ebenso interessant und spannend sind für mich die Gemeinsamkeiten, die für übergreifende Verbundenheit sorgen.

Ein Fazit
In meiner Arbeit als Musiktherapeut fühle ich mich aufgefordert, einen konstruktiven Umgang mit dem Ungleichgewicht in mir und in meinem Gegenüber zu finden. Und dabei ist es nicht immer möglich und auch nicht immer dienlich die scheinbare Schieflage auszugleichen. Vielmehr bedarf es der Fähigkeit und dessen Förderung das Unausgeglichene zu halten und ihm wertschätzende Aufmerksamkeit zu schenken.

Daniel Franz
Musiktherapeut M.A.
Seelsorger / Theologe M.A.
Tätig in dem MVZ Ankerplatz und in der Suchtklinik der Haus Niedersachsen gGmbH
Als musikliebender und spiritueller Mensch habe ich wesentliche Bereiche meines Lebens zum Beruf gemacht. Die Begegnung mit Menschen, sowohl in der Tiefe als auch im albernen Lachflash, erlebe ich als sehr erfüllend. Besonders liebe ich es, ein Familienvater zu sein und mit meiner Frau unsere beiden Kinder zu genießen.

MVZ Ankerplatz
www.mvz-ankerplatz.de