Inhaltsverzeichnis

Editorial
Hans-Helmut Decker-Voigt

Musiktherapeutischer Klinikspaziergang
„Können wir kurz in den Krachraum?"
kbo-Heckscher-Klinikum München
Michael Metzger

Praxisvorstellung
StimmeKlangMusik – Praxis für heilkundliche Psychotherapie/
Musiktherapie, Saarbrücken
Christine Kukula

Schwerpunktthema I
Neue Medien – neue Chance
Mit virtuellen Instrumenten in die Welt der Musik
Kerstin Krekeler

Einsatz der Computermusik in der Musiktherapie – Love Bytes
Eva Merckling-Mihok

Spiel-Ideen zum digitalen Instrument
Hans-Helmut Decker-Voigt

Weiterbildung am Institut für Musik, Imagination und Therapie (IMIT)
Rahel Jansen

Musiktherapie in Norwegen
Viggo Krüger

Von Mozarts Geistesblitzen über Brain-Computer-Interfaces
zum Encephalophone
Thomas Stegemann

„Blicke über Gartenzäune“ – Treffen der Sommerwege
Die 1. Musiktherapie Sommerakademie
vom 25.–28.7.2018 in Wien
Karin Holzwarth

Innovation: 3D-Audioprojekt
an einer Klinik für Neurorehabiliation
Alexandra Takats

News und Hochschulnachrichten

Zur Person. Laudatio zum 60. Geburtstag von Hans Ulrich Schmidt
Tonius Timmermann

Singende Krankenhäuser e. V.
Elke Wünnenberg, Gabriele Wanger, Wolfgang Baumgärtner, Thomas Jüchter

Rezension
Karin Schumacher: Musiktherapie bei Kindern mit Autismus
Lucia Kessler-Kakoulidis

Zum Mitmachen
Kleine Hilfen mit Atem, Bewegung und Stimme
„Ist so’n kleines Rückrat…“ – Die Wirbelsäule
als tönendes Organ der Würde
Sabine Rittner

Praxismodelle
Fühl‘ mal
Constanze Rüdenauer-Speck

AufgeMuGt
Von unserem Lachen und Lächeln
Hans-Helmut Decker-Voigt

Editorial

Das Tablet zieht ins Altersheim

Erinnern wir uns, besonders ich mich: Gegenüber dem Einzug erster elektronischer Musikinstrumente in die Therapie Ende der 70er Jahre waren wir, war nicht nur ich, skeptisch, sondern dagegen. Mit wenigen Ausnahmen:
Wie in der Heilpädagogik, in der z. B. ein Hans Henning Haacke seine Patienten mit erworbenen Hirnschädigungen an die frühen Keyboards heranführte, durch die sie Musik als Verstehens- und kreatives Gestaltungsmittel entdeckten. Überrascht, dass sie mit dem Input eines Ein- oder Zwei-Finger-Spiels ein orchestrales Output erlebten. Die mögliche Steigerung der Ich-Stärke, Wiederentdeckung von Urheberschaft und Selbstwirksamkeit waren die therapeutischen Richtungsziele.
Oder wie in der Jugendpsychia­trie, in der MusiktherapeutInnen auch zwischen Skepsis und Begeisterung schwankend Keyboards und elektronische Drumsets besorgten und sie dann einbezogen.
Es gab auf dem Musiktherapie-Lesemarkt gleich mehrere öffentliche Warnungen vor der Welt der künstlichen Schwingungen im Musikerleben in der Therapie statt der natürlichen Ausschwingvorgänge. Auch von mir.
Diese Warnung und meine Skepsis setzten sich fort mit der Digitalisierung, deren unbegrenzte Möglichkeiten eher Patienten schuf als ihnen half.
Heute bin ich dank „Markus“ nicht „bekehrt“ (ich präferiere nach wie vor natürliche Ausschwingvorgänge), aber überzeugt von der Möglichkeit, Menschen durch digitale Musikinstrumente und Musikgestaltung am Computer eine Sinngebung ihres Lebens zu ermöglichen, die ohne den Einzug digitaler Instrumente in therapeutischen Begleitungen sehr viel mühsamer wäre.
Die Arbeit der Therapeutin Kerstin Krekeler mit Markus, einem schwerstmehrfachbehinderten jungen Mann, lernen wir im Schwerpunktthema mehr kennen: Mit seinen Augenbewegungen steuert er auf dem Touchscreen eines speziellen Tablets seine Mitgestaltung in musikalischer Improvisation und erlebt dadurch überraschende, gelingende Affektabstimmung und interaktive Momente.

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Musiktherapeutischer Klinikspaziergang

„Können wir kurz in den Krachraum?“ kbo-Heckscher-Klinikum München

kbo-Heckscher-Klinikum gemeinnützige GmbH im Verbund mit den Kliniken des Bezirks Oberbayern – Kommunalunternehmen (kbo) in München

Von Michael Metzger, David Westphäling und Axel-Helge Orlovius

Der Krachraum im Münchner kbo-Heckscher-Klinikum heißt wirklich so. Das liegt am Architekten des Hauses und an Axel-Helge Orlovius. Den hatte der Planer beim Neubau des Hauses gefragt, wie laut es in der Musiktherapie denn schlimmstenfalls werde. Kurzerhand lud der pragmatische Musiktherapeut Orlovius zu einer Gruppenstunde mit Schlagzeug, Bass und E-Gitarren ein und nach wenigen Takten war dem Architekten klar: „Ihr braucht ja einen Krachraum!“ Seitdem steht dieser Name auf dem Türschild neben der Nummer 01.K.01 am Ende eines Ganges im ersten Untergeschoss. Was hinter der dicken Tür des Krachraums geschieht, unterliegt der Schweigepflicht*.
Wenn man im Münchner Stadtteil Obergiesing das kbo-Heckscher-Klinikum für Kinder- und Jugendpsy­chia­trie, Psychosomatik und Psychotherapie betritt, dann steht man zunächst vor einem großen Aquarium. Über dem Kopf dreht sich ein mächtiges Kaleidoskop, das symbolisch den Blick in die Weite öffnet. Bewegt wird es von einer schwebenden Spielzeugeisenbahn. Und wenn es abends im Fo­yer dunkler wird, spaziert ein farbig leuchtender Fleck über den Granitboden, was besonders den jüngeren Kindern staunendes Vergnügen bereitet.
Für all das werden PatientInnen* bei ihrem ersten Ankommen aber kaum einen Blick haben. Denn wer zur Notfallambulanz mit den eigenen Eltern, vielleicht auch allein im Rettungswagen oder mit der Polizei ins Haus kommt, ist womöglich in einer suizidalen Lebenskrise. „Die Heckscherklinik“, wie sie umgangssprachlich heißt, ist ein versorgungspflichtiges psychiatrisches Krankenhaus für Kinder und Jugendliche. Behandelt werden Störungsbilder wie Depressionen, Ängste, Süchte und Psychosen, der ganze Umfang aller Angebote und behandelten Erkrankungen findet sich im Internet unter www.kbo-heckscher-klinikum.de. Wenn man alle Abteilungen und Außenstellen zusammennimmt, ist das kbo-Heckscher-Klinikum die größte alleinstehende Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Deutschland. Und vielleicht die einzige mit einem offiziellen Krachraum.
Morgens gegen 9 Uhr sitzen die Musiktherapeuten Axel-Helge Orlovius, David Westphäling und Michael Metzger beim Kaffee in der Kantine und planen den neuen Tag. „Bist Du um halb zwölf im Krachraum?“ „Nö, Angelique ist heute Nacht wegen einer Krise auf Station sieben in den Wachbereich verlegt worden, sie darf die Station gerade nicht verlassen.“ „Dann kann ich ja mit Timo noch die letzten zwei Strophen von seinem Lied aufnehmen.“ Damit die drei Musiktherapeuten ihren PatientInnen möglichst viel Kontinuität und Verlässlichkeit bieten können, ist ein hohes Maß an Flexibilität, Absprachen und Umsicht gefordert. Denn häufig werden die drei sich für den Rest des Tages buchstäblich nur noch die Klinke in die Hand geben. Während eine Musiktherapiestunde andauert, sitzen die nächsten jungen PatientInnen oft schon eine Weile vor der Tür des Krachraums und warten auf „ihren“ Musiktherapeuten.

Du musst auf dein Herz hören
In die Musiktherapiegruppe von Station 3 kommen heute nur vier Patientinnen. Eine fünfte, die 15-jährige Paula, besichtigt gerade eine therapeutische Wohngruppe (TWG), in die sie bald entlassen werden könnte. Dass Paula nach gut vier Monaten Klinikaufenthalt voraussichtlich für ein bis zwei Jahre nicht bei ihrer Familie wohnen wird, liegt vielleicht auch an dem, was sie in der Musiktherapie erlebt und erarbeitet hat: „Du musst auf dein Herz hören“, singt der Berliner Rapper Sido, die Textzeilen des Liedes laufen auf Youtube mit, ein riesiger Computermonitor, dicke Lautsprecher und die gemütliche Beleuchtung im Raum erinnern mehr an ein Musikstudio oder einen Bandübungsraum als an ein Krankenhaus. „…hör’, wie es lebt, wie es lacht, wie es weint“, singt Sido weiter.
In der nächsten Gruppenstunde erzählt Paula vom Besichtigungstermin in der TWG. „Kann ich das meinen Eltern wirklich antun, dass ich nicht mehr heimgehe?“ Nachdenkliches Schweigen bei den fünf Mädchen. „Aber hast du schon mal überlegt“, fragt eine Mitpatientin, „ob du dir das eigentlich selbst antun kannst – nach Hause zurückgehen?“ Tonnenschwere Fragen, wenn man gerade mal 15 oder 16 Jahre alt ist. Die Stimmung im Raum ist angespannt, einem Mädchen zittern die Beine, eine weitere knetet ihren Igelball. „Wollt ihr weiter reden oder lieber spielen?“, fragt der Musiktherapeut. Kaum ein Mädchen wagt einen Blick, so tief rühren die Themen in diesem Moment. „Spielen“, sagt schließlich Paula, die übrigen Mädchen nicken still. Das ist das Signal, auf das der Therapeut gewartet hat. Die fünf nehmen sich E-Gitarren, Mikrofon und Bass oder gehen an eines der beiden Keyboards. „Wie fängt nochmal die Strophe an? Erste Saite dritter Bund?“ Ein wenig dreht sich die Stimmung, jetzt ist erstmal Ed Sheeran dran: „I see fire“.
Die Patientinnen und Patienten des kbo-Heckscher-Klinikums sind in der Regel zwischen 6 und 18 Jahren alt und kommen aus allen Teilen des Regierungsbezirks Oberbayern. Dieser reicht mehr als 100 km über die Stadtgrenzen von München hinaus, das kbo-Heckscher-Klinikum ist damit laut statistischem Landesamt theoretisch für ca. 500.000 Kinder und Jugendliche versorgungspflichtig. Ein Großteil der stationären Aufnahmen ist ungeplant und führt über ein kurzfristig anberaumtes Gespräch mit einem Dienstarzt zunächst auf eine der drei geschlossenen Aufnahmestationen. Wer hier über Nacht bleibt, ist wirklich in Not und unmittelbar „selbst- oder fremdgefährdend“, wie es in der Fachsprache heißt.
Schon nach wenigen Tagen auf einer solchen Akutstation können viele PatientInnen auf eine von fünf weiterbehandelnden offenen Stationen verlegt werden. Dort wird deren weitere Perspektive im Dialog mit Eltern, Schule und manchmal auch dem Jugendamt erarbeitet. In einer teilstationären Tagesklinik werden die PatientInnen nach einem familientherapeutischen Ansatz behandelt. Dazu kommen noch drei Fachambulanzen mit einigen tausend Fällen pro Jahr. Als Klinikschule steht für alle PatientInnen die „Carl-August-Heckscher-Schule“ zur Verfügung. In dem Haus steckt richtig Leben.

Kann man mit Youtube die Seele heilen?
Die Musiktherapeuten Orlovius, Westphäling und Metzger arbeiten mit PatientInnen aus allen Fachabteilungen, sowohl in Einzelstunden als auch in Gruppen mit bis zu fünf Mädchen und Jungen. „Aber ich kann doch gar keine Noten!“, hören sie oft, wenn sie einen neuen Patienten, eine neue Patientin kennenlernen. Da ahnt dieser noch nicht, dass auf dem Keyboard im Krachraum kleine Aufkleber mit bunten Ziffern helfen, die richtigen Töne zu finden. Und dass es in der Musiktherapie sowieso nicht um die „richtigen“ Töne geht. „Sollen wir wieder Rot-Blau spielen?“, könnte zum Beispiel David Westphäling in einer Musiktherapiestunde fragen. Im Krachraum gibt es unter anderem LED-Leuchten, die ihre Farbe wechseln, wenn man einen genügend lauten Ton spielt. Durch etwas Geschick und Geduld kann man so mit den eigenen Tönen die Farben Rot und Blau in den Raum zaubern.
Geschick und Geduld scheinen auf den ersten Blick keine tiefschürfenden Therapieziele zu sein. Geht es nicht um Wichtigeres als bunte Lichter? Aber wie findet man den ersten Schritt zu verborgen sitzenden emotionalen Themen und Konflikten? „Niederschwelligkeit“ lautet ein zentraler Begriff in der Arbeitsweise der Musiktherapeuten in der Heckscherklinik. Gemeint ist damit, die Eingangsschwelle zu einer altersgemäßen, vertrauensfördernden Kontaktaufnahme für die PatientInnen möglichst niedrig zu halten. Kaum ein Medium dürfte aufgrund der Nähe zur unmittelbaren Lebenswelt junger Leute dafür geeigneter sein als die Musik, die Kinder- und Jugendliche auf ihren mp3-Playern und Handys täglich hören. David Westphäling hat als Student nach einem Praktikum bei seinen zukünftigen Kollegen Metzger und Orlovius eine Masterarbeit an der Uni Augsburg über das Thema geschrieben: „Von der Unverbindlichkeit zur Verbindlichkeit – Niederschwelligkeit in der Musiktherapie mit Jugendlichen“. Mittlerweile arbeitet Westphäling seit zwei Jahren selbst in der Heckscherklinik und leitet eigene Praktikanten an. Zur Niederschwelligkeit gehört im Krachraum zum Beispiel, dass die Therapiestunden manchmal einfach damit beginnen, auf Youtube gemeinsam Musik zu hören. Um so in die persönlichen Erfahrungs- und Herzenswelten der Kinder und Jugendlichen gemeinsam einzutauchen.
Kann man mit Youtube die Seele heilen? Diese Frage ist vielschichtig. Das Videoportal Youtube allein könnte im Zweifelsfall auch Schaden anrichten. Aber wenn ein Lied den Ausdruck geben kann für etwas Unsagbares, für ein ganz vages ungewohntes Gefühl, das PatientInnen gerade erst neu erkunden – dann kann Youtube auch helfen, einen Weg zu bahnen. Frei nach der Musiktherapie-Pionierin Rosemarie Tüpker könnte man sagen: „Ich höre Lieder, die ausdrücken, was ich nicht sagen kann.“ Manchmal wird zum Beispiel eine Misshandlungs-Thematik erstmals über eine Liedzeile oder ein Bild beim Musikhören auf Youtube plötzlich greifbar. Dann kann es oft noch einige Stunden dauern, bis im therapeutischen Dialog die Frage vielleicht offener angesprochen wird, ob eine körperliche oder seelische Misshandlung für den betreffenden Patienten eine relevante Erfahrung sein könnte. Musiktherapie mit Youtube bedeutet auch, mit größter Geistesgegenwart und Achtsamkeit auf das einzugehen, was Töne und Bilder anklingen lassen, um dann mit musikalischen Improvisationen und Rollenspielen oder auch einer therapeutischen Safe-Place- oder Körperwahrnehmungsübung das zu entwickeln, was trägt und hilft.

Brennpunktthema Smartphone und Soziale Medien
„Dürfen wir 187 hören?“, fragt forschend der 12-jährige Emre in einer Kleingruppe mit zwei weiteren Jungs an der Schwelle zur Pubertät. Die Berliner Band Straßenbande 187 polarisiert mit provokanten Texten und Musikvideos nicht nur Erwachsene, sondern häufig auch Jugendliche. „Nein Alter, ich hasse die!“, schießt der 11-jährige Anton ins Gespräch. Ein heißes Thema, der Krachraum ist jetzt in seinem Element. „Straßenbande geht in Ordnung“, sagt Orlovius, „aber nur, wenn Du am Schlagzeug mitspielst, Emre.“ Emre wägt das Risiko ab, sich vor seinen Mitpatienten am Schlagzeug womöglich zu blamieren. Die Kinder und Jugendlichen in ihrer unmittelbaren Erfahrungswelt absolut ernstzunehmen und „abzuholen“ und sie zugleich zum vertrauensvollen Spielen mit den Tönen und Instrumenten einzuladen, auch das steckt hinter dem unscheinbaren Wörtchen „Niederschwelligkeit“.
Das geht dann manchmal aber doch recht schnell in die Tiefe. „Was für ein Handy hast du eigentlich?“, fragt Orlovius. Emre beginnt stolz von seinem Smartphone und den neuesten Apps zu schwärmen und merkt nicht sofort, wie er in ein ziemlich ernstes Gespräch mit seinem Musiktherapeuten gerät. „Und verschickst du manchmal selbst Sachen, die eigentlich ein bisschen eklig sind?“ Emre zögert. Soll er es wagen dem Musiktherapeuten zu offenbaren, dass er mit seinem Handy in den sozialen Netzwerken schon sehr beschämende Erfahrungen gemacht hat? Auch wenn ihm das Wort „Cybermobbing“ nicht sehr geläufig ist – Emre könnte bereits Einiges darüber erzählen. Auch für diese Themen ist in der Musiktherapie der Heckscherklinik ein Platz.

Kleiner Dialog mit dem 8-jährigen Florian
Florian: „Das Herz geht nicht richtig.“
Therapeut: „Wie soll es denn gehen?“
Florian: „Gemütlich.“

Visite auf Station 3: Um den Oberarzt Dr. Thomas Boetsch versammelt sich am Donnerstagvormittag das multiprofessionelle Behandlungsteam und diskutiert ausführlich den aktuellen Stand aller PatientInnen auf Station. Aus allen Richtungen werden Beobachtungen und Fragen zusammengetragen. Wenn es die Zeit erlaubt, kommen zur Visite neben den beiden Assistenzärztinnen, der Stationspsychologin und KollegInnen vom Pflege- und Erziehungsdienst auch Ergo-, Kunst-, Sport-, Sprach- oder MusiktherapeutInnen zur Visite und nicht zuletzt die häufig sehr wichtige Kollegin vom Sozialpädagogischen Fachdienst. Dann sitzen sie manchmal zu zwölft um einen Tisch und fragen sich: Wie werden Paula und Ihre Eltern sich wohl entscheiden – für die therapeutische WG oder dagegen?
In der Visite spielt auch der Beitrag der Musiktherapeuten eine Rolle: Ja, in der letzten Stunde klang Paula so, als wäre die TWG wirklich eine Option für sie. Und beim Spielen an der Gitarre wirkte sie sicherer und entschiedener, sie konnte sogar ein wenig lächeln. Oft sind es auch diagnostische Hinweise, die aus der Musiktherapie heraus Impulse für die weitere Behandlung geben können: Ist Jeremy eher sozial ängstlich oder vielleicht doch Autist? Liegt hinter der ADHS-Symp­tomatik bei Melina eine unerkannte Depression? Können wir Jakob schon entlassen oder wäre es wichtig, ihn im Sinne einer Belastungserprobung noch für ein paar Tage von der Klinik aus in seine externe Schule zu schicken? So wichtig diese Zusammenschau in der Visite auch ist, häufig bleibt den Musiktherapeuten dafür nicht viel Zeit. Weil dann bereits eine nächste Patientin vor der Tür des Krachraums auf ihre Musiktherapiestunde wartet.
15:15 Uhr, eine Musiktherapiestunde im vierten Stock. Dieser Raum ist zugleich das Büro der drei Musiktherapeuten und der zweite reguläre Musiktherapieraum, der ihnen zur Verfügung steht. Das Zimmer ist sehr hell mit weiten Fenstern, etwas größer als der Krachraum. Neben dem Klavier steht ein Elektroschlagzeug, auf dem man mit ungebremsten Schlägen gerade noch erträglich laute Töne spielen kann, wenn Worte nicht mehr weiterhelfen. Der 8-jährige Jamie ist nämlich ziemlich geladen. Er soll sich schon nächste Woche aus der Klinik und aus der Musiktherapie verabschieden! Hinter dem Ärger und seiner Sorge vor der Entlassung liegt auch noch Jamies Traurigkeit. Aber für die ist noch kein Platz, jetzt muss erstmal der Ärger raus.
Jamie teilt am Elektroschlagzeug mit satten Schlägen in alle Richtungen aus, begleitet von den nicht minder scharfen Tönen seines Musiktherapeuten am Klavier. Nach einer Weile ebbt Jamies Gedonner ab, jetzt steht er erhobenen Hauptes im Raum. Noch ein kleiner Tritt gegen den Schrank, dann ist sein Ärger fürs Erste verflogen und neben ihm steht wie zufällig das Windspiel. Der Klang des Windspiels ist Jamies Abschiedssignal am Ende jeder Stunde. Das Ritual haben Herr Metzger und sein kleiner Patient seit der ersten Stunde entwickelt, aber heute ist etwas anders an der Art, wie Jamies Finger über die Metallstäbe gleiten: Zögerlich und leise, vielleicht sogar ein bisschen traurig. Und vielleicht wird die Traurigkeit über den Abschied aus der Klinik und aus der Musiktherapie in der kommenden, vorletzten Stunde ja noch ein wenig mehr Raum bekommen.

Musiktherapie im Eiscafé?
Ein wichtiges Ziel der drei Musiktherapeuten ist es, über den Weg der fast unscheinbaren Annäherung in einen herzlichen und belastbaren Kontakt mit den PatientInnen zu kommen, wenn möglich in eine persönliche Verbindlichkeit. Denn erst auf dieser Grundlage können die größeren und tieferen Themen wirklich angegangen werden. So wichtig dieser Beziehungsaufbau ist, so wichtig ist es aber auch, sich aus den entstehenden Verbindungen wieder gut zu verabschieden. Bei PatientInnen, die sich mit dem Herzen sehr auf die Musiktherapie eingelassen haben, kann das dann auch mal heißen, in der letzten Stunde gemeinsam hinaus auf die Straße und ins nächste Eiscafé zu gehen.
Die sogenannten Spezialtherapien, zu denen die Musiktherapie am kbo-Heckscher-Klinikum zählt, genießen ein hohes Maß an Wertschätzung innerhalb des Hauses. Das liegt nicht zuletzt am ärztlichen Direktor Prof. Dr. Franz-Joseph Freisleder und dem Geschäftsführer Anton Oberbauer sowie an der Leitenden Therapeutin Dr. Simone Baur. Sie überlassen es der fachlichen Kompetenz und Einschätzung „ihrer“ SpezialtherapeutInnen, zu tun, was sie für richtig und hilfreich halten. Und dazu darf dann eben auch gehören, mit einem Patienten oder einer Patientin Eis essen zu gehen. Dass das Konzept aufgeht, merkt man unter anderem dann, wenn ehemalige PatientInnen viele Jahre später plötzlich an der Pforte neben dem Aquarium stehen und fragen: „Ist der Herr Orlovius noch hier? Der war mal mein Musiktherapeut!“ Dann kann es vorkommen, dass Axel-Helge Orlovius mit einer ehemaligen Patientin knapp 20 Jahre später noch ein zweites Mal Eis essen geht und erzählt bekommt, wie es so weitergegangen ist mit dem Leben nach der Klinik.
Die 15-jährige Paula hat sich gemeinsam mit ihren Eltern dann übrigens tatsächlich entschieden in eine therapeutische WG zu gehen. Einige Wochen nach ihrer Entlassung steht sie plötzlich überraschend im Foyer mit einer ehemaligen Mitpatientin, die nach der gemeinsamen Zeit auf Station noch in der Tagesklinik ist. Als die beiden an der Treppe zum Untergeschoss zufällig auf ihren ehemaligen Musiktherapeuten treffen und merken, dass er ein paar Minuten Zeit für sie hat, tauschen die Mädchen ein paar rasche Blicke, dann traut sich Paula zu fragen: „Können wir kurz in den Krachraum?“

*Die Namen und das Alter von PatientInnen sind in allen Fallvignetten geändert und lassen keine Rückschlüsse auf konkrete Personen zu.

Das Copyright für die Außenaufnahme liegt beim kbo-Heckscher-Klinikum gGmbH, alle übrigen Fotocredits beim Autor.

Die Autoren:

Michael Metzger
Dipl. Musiktherapeut (Hochschule der Künste, Berlin), B.A. Music and Psychology (London University). Seit 2010 Musiktherapeut am kbo-Heckscher-Klinikum. Langjähriges Mitglied der musiktherapeutischen Balintgruppe von Dr. Wolfgang Strobel, dreijährige Fortbildung in Prozessarbeit nach Arnold Mindell (IAPOP).

David Westphäling
Master Musiktherapie (Universität Augs­burg), Mag. für angewandte Sozialwissenschaften (Hochschule Vorarl­berg). Zusatzausbildungen als TrommelPower-Trainer und im Theater der Unterdrückten nach A. Boal. Musiker in verschiedenen Projekten und Bands. Seit 2016 Musiktherapeut am kbo-Heckscher-Klinikum.

Axel-Helge Orlovius
Dipl. Sozialpädagoge (FH). Seit 1990 Musiktherapeut und seit 2000 Kinder-und Jugendlichenpsychotherapeut am kbo-Heckscher-Klinikum. Seit Jahrzehnten aktiver Live-Musiker in verschiedensten Bandformationen. Nebenberuflich als Bandcoach für Jugendlichenbands in eigenen Musik- und Studioräumen tätig.

kbo-Heckscher-Klinikum gemein­nützige GmbH
Dr. Simone Baur
Leitende Therapeutin
Deisenhofener Straße 28
D-81539 München
Telefon +49-89-9999-0
E-Mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!
www.kbo-heckscher-klinikum.de

Praxisvorstellung

StimmeKlangMusik – Praxis für heilkundliche Psychotherapie/Musiktherapie, Saarbrücken

Von Christine Kukula

Mein Weg zur Musiktherapie
Mein Name ist Christine Kukula. In Baden-Württemberg geboren, lebe ich seit vielen Jahren im Saarland. Hier habe ich eine kirchenmusikalische Ausbildung (C-Prüfung) absolviert und Sozialarbeit studiert. An jeder sozialpädagogischen Arbeitsstelle floss Musik in die Arbeit ein. Als Kirchenmusikerin war mir wichtig, mit Musik die Gemeinschaft und die Freude am Singen ohne Bewertungen zu fördern.
Musik ist bis heute meine ständige Begleiterin in den unterschiedlichsten Lebenslagen. Diese persönliche Erfahrung und der Wunsch, Musik im therapeutischen Sinne fundiert in meine Arbeit einfließen zu lassen, ließen mich im Alter von 40 Jahren Musiktherapie an der Fachhochschule Frankfurt studieren. Selbsterfahrung, kontemplative Zeiten, Fortbildungen im therapeutischen wie im kreativen Bereich ergänzten die im Studium erworbenen Kenntnisse und schufen so eine weitere Grundlage für die Arbeit in meiner Praxis für heilkundliche Psychotherapie und Musiktherapie in Alt-Saarbrücken.

„Soll’s das gewesen sein?“ – was vor der Eröffnung der ambulanten Praxis lag
Im Rahmen meines Musiktherapiestudiums führte ich Musiktherapie auf der Palliativstation des Krankenhauses, in dem ich als Sozialarbeiterin arbeitete, ein. Nach Beendigung des Studiums konnte ich die musiktherapeutische Arbeit auf der Palliativstation nebenberuflich gegen Honorar fortführen. Musiktherapie wurde so zum zweiten beruflichen Standbein. In meiner späteren Tätigkeit im ambulanten Hospizdienst gewann ich den Förderverein für die Finanzierung von Musiktherapie. Seitdem begleite ich regelmäßig HospizpatientInnen zu Hause. Verschiedene weitere Honorarstellen kamen hinzu. Es war im Nachklang eines Gesprächs mit einem Palliativpatienten, der über sein ungelebtes Leben sprach, das letztendlich den Impuls gab, die Anstellung als Sozialpädagogin aufzugeben und mich hauptberuflich als selbstständige Musiktherapeutin niederzulassen.

„StimmeKlangMusik“ – Rahmen und Konzeption
Die schon vorhandenen musiktherapeutischen Tätigkeiten bildeten zusammen mit dem Zuschuss für ExistenzgründerInnen eine Ausgangsbasis für die Arbeit als selbstständige Musiktherapeutin. Dazu kam das Angebot, im neu gegründeten palliativen Konsiliardienst an der Universitätsklinik Homburg als Honorarkraft mitzuarbeiten. Da ich jedoch nicht nur außer Haus tätig sein wollte, suchte ich einen Praxisraum, der sowohl für Einzel- wie auch für Gruppenarbeit geeignet war. Es sollte möglichst ein freistehender, gut erreichbarer und barrierefreier Raum sein. Ich hatte Glück und fand in Alt-Saarbrücken ein Gebäude, das diese Kriterien erfüllte.
Stimme – Klang – Musiktherapie, das waren und sind die drei Pfeiler, auf die sich meine Arbeit stützt: Die Stimme als das Instrument, das uns am nächsten ist, über das sich Stimmung ausdrückt und das Körper und Seele in sich vereint. Klang als Medium, das schon seit Urzeiten in der Menschheitsgeschichte zielgerichtet eingesetzt wird, um Körper, Geist und Seele in Einklang zu bringen. Musiktherapie als ganzheitliche Therapie, die über das Medium Musik den Menschen auf allen Ebenen anspricht. Meine Praxis steht für erwachsene PatientInnen mit psychischen und psychosomatischen Erkrankungen sowie für Menschen mit Behinderungen offen. Aber auch Menschen, die sich Klarheit verschaffen möchten über ihren persönlichen oder beruflichen Weg, finden hier einen geschützten Raum. Ich gehe davon aus, dass jeder Mensch über gesunde Anteile verfügt und die Lösung seiner Probleme in sich trägt. In Krisenzeiten scheint die Lösung verschüttet. In Zeiten schwerer Erkrankung werden die gesunden Anteile nicht mehr wahrgenommen. Ich sehe meine Aufgabe darin, beim Entdecken der Lösung behilflich zu sein. Das Bewusstwerden der eigenen Ressourcen, Chancen und Möglichkeiten sind wichtige Bausteine auf diesem Weg. Im Rahmen der Musiktherapie gesunde Anteile bewusstwerden zu lassen und zu fördern, ist ein weiteres wichtiges Anliegen in meinem Arbeitsverständnis. Von daher bilden Selbsterfahrung, Persönlichkeitsentwicklung und Gesundheitsförderung sowie Erwachsenenbildung, Fortbildung v. a. im Bereich Demenz, Palliativarbeit und an Schulen für Gesundheitsberufe eine bunte Palette.

Die Praxis
Licht, Helligkeit und Ruhe sollten die Praxis prägen. Die Wände sind bewusst weiß gehalten. Leere Flächen geben den KlientInnen die Möglichkeit, ohne Ablenkung durch zu viele äußere Reize eigene innere Bilder zu entwickeln. Die Instrumente stehen offen im Raum und sind oft ein erster Blickfang. Farbe kommt durch rote Stühle und bunte Sitzkissen in den Raum. Es gibt eine Sitzecke für Eingangsgespräche und die musikimaginative Arbeit. Musikalische Interventionen finden im anderen Teil des Praxisraums statt.

Was die Menschen in die Praxis führt
Über die Jahre hinweg ist der Schwerpunkt meiner Arbeit im onkologischen, palliativ-hospizlichen Bereich geblieben. Onkologische PatientInnen kommen zur Einzeltherapie in meine Praxis. In Zusammenarbeit mit der Saarländischen Krebsgesellschaft biete ich eine psychoonkologische Musik-therapiegruppe an. Inhalte der psychoonkologischen Einzel- wie auch der Gruppenarbeit sind der Umgang mit der Erkrankung, das Erkennen von alten, blockierenden Mustern, die Bewusstwerdung vorhandener Ressourcen, Versöhnung bzw. Neudefinition bei körperlicher Versehrtheit, das Erproben und Erweitern von Handlungsspielräumen und damit verbunden die Stärkung des Selbstvertrauens. PalliativpatientInnen begleite ich im Rahmen von Hausbesuchen. Auch hier geht es um die Stärkung von Ressourcen und Förderung der Lebensqualität. Daneben kommen Menschen mit Depression, psychosomatischen Beschwerden, Anpassungsstörungen, traumatischen Belastungsstörungen oder Trauer zur psychotherapeutischen Behandlung in meine Praxis. Zunehmend finden sich Menschen ein, die den Zusammenhang zwischen Stimme und Psyche erkennen, die Zugang zu ihrer Stimme finden und da­ran arbeiten möchten. Gelegenheit zum Singen in der Gemeinschaft finden Interessierte im Rahmen des „Heilsamen Singens“, einer offenen Singgruppe, sowie bei „Stimmlust – Chor für Frauen, die schon immer in einer Gemeinschaft singen wollten und sich nun trauen“. Die Themen Entspannung und Körperwahrnehmung sind ebenso Anliegen, mit denen sich Menschen an mich wenden. Hierzu biete ich Klangbehandlungen mit Klangschalen oder im Klangstuhl an.
 

„… dieses gemeinsame Erleben, das ist schon etwas ganz Kostbares …“ –
Was in der Therapie hilft
Ich verstehe meine Arbeit als Beziehungsarbeit. Es ist die Begegnung zwischen Menschen, im Rahmen einer offenen Beziehung, in der sich Selbsterkenntnis und Veränderung entwickeln können. Mir ist es wichtig, dem Gegenüber unvoreingenommen und wertschätzend zu begegnen. Die Arbeit mit Menschen in der letzten Lebensphase lehrt mich immer wieder, dass die Kategorien „gesund“ und „krank“ nicht ausschlaggebend sind. Entscheidend scheint letztendlich, ob wir mit uns und dem Leben in Einklang sind, ob wir uns selbst erkennen und in der Welt verwirklichen können. Mein methodischer Ansatz ist tiefenpsychologisch orientiert. Ressourcenorientierung, Elemente aus der Gestalttherapie, der Traumatherapie und dem systemischen Arbeiten kommen hinzu. Immer wieder melden KlientInnen und PatientInnen zurück, wie vielfältig sie Musiktherapie erleben. In der Gruppentherapie sind es u. a. die Aspekte des gemeinsamen Erlebens und des Experimentierens im geschützten Rahmen, die nachhaltig wirken. Ein Patient erinnert sich: „… wir hatten ja innerhalb der Gruppe ganz unterschiedliche Themen. Und es ist phänomenal, dass wir diese über die Musik ausgedrückt haben… Das hätten wir vielleicht sprachlich nicht so hingekriegt.“ Eine Patientin äußert im Abschlussgespräch: „Wir haben so vielseitige Sachen gemacht: Improvisation oder auch Musik­reisen, wo man sich in seiner Fantasie irgendwohin bewegt. Es war überhaupt gar kein Problem, da mitzumachen. Vor allem aber, weil man wusste: Keiner hat Erfahrung, keiner ist da irgendwie besser oder schlechter. Wir sind irgendwie alle gleich, in einem geschützten Rahmen…“ Auf die Frage, ob es und was Überwindung gekostet habe, schildert ein weiteres Gruppenmitglied: „Ich hab mir auch mal das Cello geschnappt, in der Annahme: ach, das sieht so leicht aus. Da hab ich mit dem Bogen drauf gespielt. Das war ’ne große Überwindung. Was zu produzieren, was in meinen Ohren nicht schön oder auch in anderen Ohren vielleicht nicht schön ist. Einfach auf einer Saite rumzustreichen, zu denken: oje, oje, wie hört sich das an, und trotzdem mich damit zu beschäftigen und am Schluss mich richtig zu versöhnen mit dem Instrument. Es war richtig schön, auch mal was zu tun, was man nicht vorahnen kann oder wo man nicht direkt perfekt sein muss… “
Musik ist für mich ein wunderbares Hilfsmittel, ähnlich einer Co-Therapeutin, die Impulse gibt, die hilft, zu halten und aufzufangen. Dies zeigt sich nicht nur in der aktiven Improvisation, sondern auch immer wieder auf beeindruckende Weise im Rahmen der musikimaginativen Arbeit von Guided Imagery and Music.

Musik, die erklingt
Die Musik ist so unterschiedlich, wie die Menschen, die sie spielen und hören. Im palliativen und hospizlichen Setting überwiegen zur Entspannung führende Klänge von Oceandrum, Klangschale, Sansula. Aber es kommen auch percussive Instrumente zum Einsatz und dementsprechend aktive und lebendige Klänge und Rhythmen. So drückte eine Patientin einmal ihre Trauer und Enttäuschung über das Fortschreiten der Erkrankung in einem 40-minütigen Spiel auf der Rahmentrommel mit anfangs kräftigen, schnell pulsierenden Schlägen aus, die sich am Ende in einem fade out verloren. Ein anderes Mal dichtete und sang sie zu ihrem Spiel auf dem Xylophon im Dreivierteltakt: „Die Sonne scheint, es geht mir gut. Wir machen Musik, das macht mir Mut“. Menschen am Ende ihres Lebens schauen oft zurück und ziehen Bilanz. Hier unterstütze ich mit Liedern – häufig vom Akkordeon begleitet – und Musikstücken vom Tonträger, die im Leben der Patientin eine Rolle spielten, wie z. B. die Musik, bei der sich ein Paar gefunden hat oder Musik, mit der Lebensfreude und schöne Erinnerungen verknüpft werden. Die Bandbreite reicht vom alten Volkslied oder Schlager über Rock, Pop und synthetischer Musik bis zu klassischer Musik. In der musiktherapeutischen Selbsterfahrungsgruppe klingt die Musik von chaotisch bis klar strukturiert, laut und leise, bruchstückhaft, schräg, harmonisch, je nach Zusammensetzung der Gruppe und Stimmung der Gruppenmitglieder.

„Ich bin nicht musikalisch…“ – Typisches aus dem Berufsalltag
Das Angebot der Musiktherapie ist nicht selbsterklärend. Viele Menschen haben von Musiktherapie noch nichts gehört. Vor allem in der klinischen Arbeit mit PalliativpatientInnen besteht immer wieder Erklärungsbedarf. Denn hier ist es die Therapeutin, die auf PatientInnen zugeht, im Gegensatz zum klassischen psychotherapeutischen Setting, in dem PatientInnen von sich aus die Therapie aufsuchen. Häufig begegnet mir im Erstkontakt die Aussage: „Ich bin nicht musikalisch. Ich kann kein Instrument spielen.“ Ich versuche dann zunächst, eine Beziehung bzw. Vertrauen aufzubauen. Ist „das Eis“ erst einmal gebrochen, lassen sich die PatientInnen in der Regel auf Musiktherapie ein und stellen fest, dass sie davon profitieren.
Es gibt viele berührende Momente in meiner Arbeit. Im Hospiz z. B., wenn Angehörige mit einem Hospizgast gemeinsam musizieren und es dabei lustig und freudvoll zugeht – wenn also eine Situation entsteht, die niemand an diesem Ort erwartet hätte. Oder wenn im gemeinsamen Spiel von Musiktherapeutin und Angehörigen für die Patientin eine Nähe entsteht, die in den oft durch Unsicherheit und Trauer geprägten Gesprächen nicht zustande kommt. Aber auch in der Einzel- oder Gruppentherapie in der Praxis, wenn spürbar wird, dass etwas Festgefahrenes sich löst und Bewegung wieder möglich wird.

Was ich mir für die Musiktherapie wünsche
Im Laufe meiner selbstständigen Tätigkeit konnte ich meine musiktherapeutische Identität festigen. Ein gutes Netzwerk ist entstanden, die Praxis mit ihren Möglichkeiten ist mittlerweile bekannt. Die bunte Palette an Betätigungsfeldern bereichert mein berufliches Leben. Musiktherapie in der psychoonkologischen Arbeit im Rahmen einer Beratungsstelle zu verankern, ist dabei ein neues Projekt.
Für die Musiktherapie wünsche ich mir, dass sie in unserem Gesundheitssystem als wirkungsvolle Behandlungsform anerkannt und finanziert wird.

Die Autorin

Christine Kukula
Musiktherapeutin DMtG, seit 2011 in eigener Praxis tätig, Diplom Sozialpädagogin, Heilpraktikerin auf dem Gebiet der Psychotherapie, Therapeutin für Guided Imagery and Music, Psychoonkologin DKG, Entspannungstrainerin, Mitglied im Bundesarbeitskreis Musiktherapie in der Onkologie/Hämatologie, Palliative Care und Hospizarbeit.

StimmeKlangMusik – Praxis für heilkundliche Psychotherapie/Musiktherapie
Hohenzollernstr. 84a
66117 Saarbrücken
0681 5848561
Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!
www.stimme-klang-musik.de

Glossar
Palliativer Konsiliardienst:
Ein Team bestehend aus PalliativmedizinerInnen, Palliative-Care-Fachkrankenschwestern und -pflegern, einer Psychoonkologin und Vertreterinnen supportiver Therapien (musik-, kunst-, tiergestützte Therapie), das von allen Kliniken des Universitätsklinikums angefordert werden kann, um PalliativpatientInnen zu beraten und zu begleiten.
Guided Imagery and Music:
Eine Form der Psychotherapie bzw. Musiktherapie, die klassische Musik gezielt einsetzt, um psychische Blockaden zu lösen sowie die seelische und persönliche Entwicklung zu fördern.

Schwerpunktthema I

Neue Medien – neue Chance Mit virtuellen Instrumenten in die Welt der Musik

Von Kerstin Krekeler

In meiner langjährigen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen mit komplexen Behinderungen hat sich immer wieder gezeigt, dass Musik nahezu jeden ansprechen, berühren, Reaktionen hervorrufen und Aktivität provozieren kann. Aus diesem Grund ist Musik ein fester Bestandteil meines Unterrichts an einem SBBZ für körperliche und motorische Entwicklung in Baden-Württemberg.
Wir hören Musik.
Wir machen Musik.
Wir erleben Musik.
Musik begleitet uns durch den Alltag und unterstützt im Unterricht. Die Lieblingsbeschäftigung in der Pause ist Musikhören. Singen und frei improvisiertes Instrumentenspiel sind sehr beliebte Tätigkeiten, und das nicht nur im Musikunterricht. So helfen Rhythmusübungen beim Sprechen- und Lesen, sowie beim Zählen und Rechnen. Zur Strukturierung des Tages gehören feste Lieder und Klänge.
Das Instrumentenspiel kann bei meinen Schülerinnen und Schülern, die alle eine körperliche und eine geistige Beeinträchtigung aufweisen, ekstatische Freude, aber auch absolute Frustration auslösen. Letzteres ist schlicht und einfach darin begründet, dass man zum Spielen der meisten Instrumente bewegliche Hände, eine gute Koordinationsfähigkeit und einen relativ großen Bewegungsspielraum benötigt, um ihnen Töne zu entlocken. Diese Voraussetzungen fehlen bei unseren Kindern und Jugendlichen zum größten Teil.
Trotzdem ist die Motivation, Musik zu machen, bei allen sehr groß. In der Regel ist dieses gut mit körpereigenen Instrumenten, einfachen Rhythmusinstrumenten wie Rasseln, Glöckchen und Trommeln und bedingt auch mit Orffinstrumenten möglich, was bei den jüngeren Kindern gut ankommt. Schwieriger ist es bei den Älteren. Sie hören im Radio Popmusik oder entwickeln Vorlieben für Instrumentengruppen wie Streicher oder Flöten. Einer meiner Schüler liebt zum Beispiel Saxophone und hört diese aus den unterschiedlichsten Musikarten heraus. Von seinen körperlichen Voraussetzungen her wird er jedoch nie in der Lage sein, einen Ton auf einem Saxophon zu spielen.
Nicht selten wird Menschen mit komplexen Behinderungen auch heute noch die Fähigkeit, musizieren zu können, abgesprochen. Ihre Versuche zu singen, körpereigene Instrumente zu spielen, aber auch Töne mit Gegenständen herzustellen, werden oft übersehen oder sogar als „lästig“ oder „nervend“ unterbunden. Ihr Instrumentenspiel wird als „Spielerei“ abgewertet. Ich kenne mehrere Schülerinnen und Schüler, die nach konventionellen Maßstäben nicht in der Lage sind, Klavier zu spielen. Haben sie aber die Möglichkeit, die Tasten zu erreichen, produzieren sie eine wunderschöne Musik, die zwar immer anders ist, den Zuhörer jedoch stark berühren kann, wenn er sich darauf einlässt.
Neue digitale Medien können Menschen, die in ihrem Leben durch eine schwere Behinderung beeinträchtigt sind, helfen, an der Welt des Musizierens teilzuhaben. Die einfache Bedienung von Tablet-Computern und die Entwicklung von Hilfsmitteln für Menschen mit Behinderungen, die sich nicht nur auf die Erfüllung essentieller Bedürfnisse richtet, sondern auch Freizeit, Kreativität und Selbstverwirklichung berücksichtigt, macht dieses möglich.
Ich möchte zunächst einen jungen Mann vorstellen, der sehr lange in meiner Klasse war. Ich nenne ihn Mark, er ist inzwischen 22 Jahre alt. Er sitzt im Rollstuhl und kann seine Hände nur sehr eingeschränkt benutzen. Es fällt ihm schwer, seine Sitzposition zu halten, er ist durch seine starke Spastik immer verkrampft und unwillkürlichen Bewegungen ausgesetzt. Zielgerichtetes Handeln fällt ihm schwer, was ihn oft frustriert. Er ist in allen Bereichen des Lebens vollständig auf Hilfe angewiesen.
Mark ist im Rahmen seiner Möglichkeiten aktiv, lebensfroh und liebt die Gemeinschaft. Er kann sich durch einige wenige Laute und seine Mimik ausdrücken, die aber nur die Menschen verstehen, die ihn gut kennen. Oft gerät er mit seinen Kommunikationsmöglichkeiten an Grenzen, da sein Mitteilungsbedürfnis diese bei weitem übersteigt.
Mark ist sehr gut in das Dorfleben seiner Heimatgemeinde eingebunden. Sein Vater spielt in der Musikkapelle und er besucht oft Feste. Besonders mag er die regionsspezifische Volksmusik. Hört er Musik, singt er mit, was für einen Außenstehenden aber kaum erkennbar ist und gegebenenfalls sogar als störend abgetan wird.
Er liebt es, selbst Musik zu produzieren und würde gerne auf allen In­strumenten spielen. Doch die Rasseln und Schellen fallen ihm aus der Hand, die Trommel trifft er nicht, die Gitarre ist zu groß … Am Keyboard gelingt es ihm am ehesten, Töne zu erzeugen. Dabei singt er laut mit.
Ein absolutes Highlight war es für Mark, im Rahmen einer Unterrichtsreihe zum Thema Orchester das „Orchester“ seiner Mitschüler zu dirigieren. Damals wurden zwei Gebärden ausgemacht, die er ausführen und mit denen er die Lautstärke seines Orchesters aktiv steuern konnte. Diese Stunden hatten nachhaltige Wirkungen. Mark war den ganzen Tag gelöster und deutlich entspannter und vor allem – stolz.
Mark besitzt einen Computer, den er mit den Augen bedienen kann und der angeschafft wurde, um seine Kommunikations- und Aktionsmöglichkeiten zu erweitern. Die Bedienung stellt für ihn eine große Herausforderung dar und ist sehr anstrengend. Die erhofften Erfolge stellten sich nicht in dem Maße ein, wie es Marks Umfeld erhofft hatte. Er selbst resignierte.
Dann entdeckte und kaufte seine Mutter die Software „Beamz“ für Marks Computer. In der Schule unternahmen wir gemeinsam die ersten Schritte.
Beamz ist ein Programm, das einer Laserharfe nachempfunden ist. Diese erscheint auf dem Bildschirm. Der Benutzer kann einen Grundbeat aus vielen verschiedenen Genres, von Rock über Pop, Klassik, Volksmusik bis Jazz auswählen. Die einzelnen Laserstrahlen sind passende Instrumente, die sich harmonisch in den Beat einfügen. Das können zum Beispiel Streicher oder Flöten bei klassischen Stücken oder Gitarre, Bass und Drum in der Rockmusik sein. Ausgelöst werden sie entweder durch Berührung (Touchscreen) oder per Augensteuerung (www.tobiidynavoxx/beamz/).
Mit diesem Programm war Marks Interesse an seinem Computer neu geweckt. Es hat sich für ihn eine neue Welt aufgetan. Er macht jetzt Musik. Musik, die toll klingt. Er sucht die Musik aus, nach der ihm gerade ist. Mal ein ruhiges klassisches Stück, dann einen fetzigen Technobeat und das nächste Mal seine geliebte Volksmusik.
Als Mark seine Musik seinen Mitschülern vorführte, sprang der Funke über. Die ersten trommelten direkt auf dem Tisch mit. Schnell kam die Idee auf, eine Band zu gründen. Mark wurde zum Bandleader, und die anderen begleiteten ihn mit Instrumenten, die ihnen gefielen. Das Spiel in der Gruppe bekam eine Eigendynamik. Und Mark war glücklich. Er lachte, war aufgeregt und wiederholte immer wieder eines seiner wenigen Worte. „Papa“. Auf die Nachfrage, ob er sich jetzt wie sein Papa fühle, antwortete er ganz klar und direkt „Ja“.
Was kann es jetzt für Mark bedeuten, mithilfe seines Computers und der Software „Beamz“ Musik zu machen?
Musik schafft Ausdrucksmöglichkeiten (Ich).
Mark erlebt sich. Er macht Musik. Er erlebt verschiedenste Arten von Musik und kann die Musik erzeugen, die er gerade braucht, die er gerade fühlt. Er handelt selbstbestimmter.
Musik verbindet Menschen – Menschen, die Musik erzeugen mit Menschen, die Musik hören (Ich und Du).
Mark hört Musik und weiß, dass die Anderen Musik erzeugen können. Mark erzeugt Musik und wird gehört. Er erhält ein Feedback.
Musik verbindet Menschen, die gemeinsam musizieren (Wir).
Mark erlebt Gemeinschaft. Er teilt seine Gefühle und erlebt die der Anderen durch das gemeinsame Musizieren (vgl. Decker-Voigt 2008, 199ff.).

Unabhängig von Hilfsmitteln aus dem Bereich der Rehabilitation entwickelt sich die Software für Tablet-Computer und Smartphones gerade rasant. Schaut man in den verschiedenen AppStores nach, findet man zahlreiche Apps, die scheinbar jedermann das Musizieren ermöglichen. Diese reichen von einfachen Musikspielen für Kinder über die Simulation einzelner Instrumente bis zu umfangreichen Apps, mit denen Musik produziert werden kann.
Eine dieser Apps ist „GarageBand“ von der Firma Apple. Mit diesem Programm ist fast jeder in der Lage, komplette Musikstücke zu arrangieren, zu spielen und aufzunehmen, ohne dass ein reales Instrument gespielt werden muss. In diese Komplexität muss man sich ordentlich einarbeiten, was aber durch die gute Übersichtlichkeit auch Laien nach einiger Zeit gelingt. Schaltet man die App ein, erscheint eine Übersicht der Instrumente, die nach Berührung auf dem Bildschirm originalgetreu erscheinen. Mit nur einem Click kann man zwischen Soloinstrument und dem Begleitmodus wählen. Im letzteren ist es möglich, Tonarten einzustellen, so dass auf den Saiten oder Tasten direkt die richtigen Akkorde liegen, welche wiederum mit nur wenigen „Wischbewegungen“ angepasst werden können. Am oberen Bildschirmrand befinden sich immer die Tools zum aufnehmen und bearbeiten.
Bei meiner Arbeit in der Schule ist es zunächst einmal nebensächlich, dass man mit dem Programm komplette Songs aufnehmen könnte. Das Spannende daran ist, dass sich den jungen Menschen ganz neue Möglichkeiten Musik zu machen erschließen. Es gibt Gitarren, Drums, Klaviere und Keyboards und Streichinstrumente. Die Keyboardtasten lassen sich so einstellen, dass sie nahezu jedes Instrument imitieren. All diese Instrumente, deren Klang wirklich gut ist, lassen sich auf dem Touchscreen ohne Kraftaufwand spielen.
Im nächsten Beispiel möchte ich den Einsatz dieser App auf einem Tablet im Rahmen einer Einzelsituation zeigen.
Cem (Name geändert) ist ein türkischer 20-jähriger Mann. Durch seine körperlichen Beeinträchtigungen ist er kaum in der Lage, gezielte Bewegungen auszuführen. Er kann Gegenstände greifen, ist aber sehr empfindlich an der Handinnenseite, weshalb er die Hand meistens zur Faust schließt und zum Handgelenk hin einrollt. Er benötigt einen Rollstuhl und ist in allen Bereichen des Lebens auf Assistenz angewiesen. Cem scheint seiner Umwelt nur selten zugewandt zu sein, und er kommuniziert über kaum wahrnehmbare Ja- und Nein-Zeichen. Seinen Unmut bringt er durch lautes Schreien zum Ausdruck, wobei er oft ein stark selbstverletzendes Verhalten zeigt.
Cem liebt Musik. Besonders rockige Rhythmen haben es ihm angetan. Dann lacht er und bewegt sich im Rhythmus der Musik. Aber auch ruhige Musik mag er gerne. Wichtig für Cem ist allerdings, dass Musik harmonisch ist. So mag er es zum Beispiel nicht, wenn auf dem Keyboard oder der Zauberharfe wild herumgeklimpert wird, wohl aber, wenn auf diesen „richtig“ gespielt wird. Auf arrhythmische Musik oder Jazz reagiert er durch Schreien. Er selbst lässt sich auf Angebote wie Keyboard, Zauberharfe oder Chimes (aufgehängte Klangstäbe, die durch leichte Berührung Töne erzeugen) zu spielen nicht ein und möchte auch keine Rhythmusinstrumente in die Hand nehmen. Besonders gut gefällt es ihm, wenn meine Kollegin Gitarre spielt.
In einer Einzelsituation zeige ich Cem unser neues Tablet. Er hat bisher noch nicht damit gearbeitet. Ich zeige ihm die App Garage Band und spiele für ihn verschiedene Instrumente an. Cem ist mit seiner Aufmerksamkeit ganz bei mir. Als ich bei den Gitarren ankomme, wird er ganz ruhig. Ich halte ihm das Tablet so, dass er es mit der Hand berühren kann, die zur Faust geballt ist. Die Gitarre ist als Soloin­strument eingestellt. Cem berührt zum ersten Mal die Saiten auf dem Touchscreen und hält dann inne. Ich spiele für ihn die Saiten an. Er zieht die Hand weg und hört zu. Schlage ich einzelne Saiten an, entspannt er sich, bei mehreren gleichzeitig wird er unruhig. Da ich nur eine Hand frei habe und deshalb keine Akkorde spielen kann, stelle ich auf den Begleitmodus um. Cem schaut interessiert zu. Ich stelle die C-Dur-Akkorde ein und spiele sie hintereinander. Da bewegt sich auf einmal Cems Hand in Richtung des Tablets. Er berührt den Touchscreen vorsichtig, dann nochmals gezielter. Er lacht und macht weiter. Jetzt kommt die Kollegin mit der Gitarre dazu. Sie improvisiert zu Cems Spiel. Er hält inne, schaut sie direkt an und macht mit einem hochkonzentrierten Gesichtsausdruck weiter. So jammen die beiden gemeinsam eine Weile, wobei Cem immer wieder den Blickkontakt zur Gitarrenspielerin sucht. Dabei öffnet sich Cems Hand und er spielt die Tablet-Gitarre nicht mehr mit den Fingerknöcheln, sondern mit den Fingerspitzen. Nach der kleinen Session ist Cem sehr entspannt. Auf seinem Gesicht liegt ein zufriedenes Lächeln.
Mark und Cem sind zwei sehr gegensätzliche Charaktere. Während Mark extrovertiert und aktiv ist und für ihn das Musizieren an sich wichtig ist, ist Cem introvertiert und passiv. Er scheint sehr genaue Vorstellungen davon zu haben, wie etwas klingen muss. Er interessiert sich dafür, was ich mit dem Tablet mache, aber erst als es für seine Ohren, seine Klangvorstellung richtig erscheint, wird er aktiv. Diese Stunde hat uns, die wir mit Cem den Schulalltag erleben, aufmerksamer gemacht. Verweigert er sich etwas oder jemandem, schauen wir jetzt sehr genau hin, um erkennen zu können, was seiner Vorstellungswelt nicht entsprechen könnte? Immer öfter finden wir das aktuelle Problem und ermöglichen es Cem dadurch, aktiver am Leben teilzuhaben, da er sich nicht mehr auf „Disharmonien“ konzentrieren muss.
Die digitale Welt ermöglicht es immer mehr Menschen, an der Welt der aktiven Musik teilzuhaben, Musik zu produzieren und sich dadurch selbst zu verwirklichen. Man kann jetzt diskutieren, ob Musik aus dem Computer noch echte Musik ist und ob da nicht die Qualität „guter Musik“ darunter leidet. Ich möchte behaupten, dass das nicht der Fall ist. Es wird immer die talentierten Musiker geben, die unser Leben bereichern und verschönern, indem sie mit ihrer Stimme und ihren Instrumenten Magie auslösen. Gleichzeitig wird es immer die Menschen geben, die von dieser Magie berührt werden. Aus dieser Berührung entsteht dann der Wunsch, ebenfalls ein Teil dieser wunderbaren Welt zu werden, dazuzugehören. Diesen Wunsch und die Freude darüber, plötzlich zu den „Musizierenden“ dazuzugehören, drückte ein Schüler aus, der zufällig zu einer Musikstunde mit Cem dazukam. Auch Daniel kann seine Hände kaum benutzen.

Daniel: „Was macht ihr da?“
Ich: „Wir machen Musik“
Daniel: „Ach so! Das kann ich ja eh nicht!“
Ich: „Ich glaube doch. Komm her, versuch es mal!“
Er kommt zögernd näher. Schaut sich das Tablet eine Weile an. Probiert es aus und bricht im selben Moment in einen ohrenbetäubenden Jubel aus.
Daniel: „Meine Hände können Musik machen! Das ist so ein schöner Tag!“

Der Eintritt in die musizierende Welt ist einem großen Teil der Menschen aus den verschiedensten Gründen bisher oft verschlossen geblieben, nicht nur z. B. wegen körperlicher Beeinträchtigungen, sondern auch anderen Gründen wie Geldproblemen, Zeitaufwand, Sozialisation, erlebter Frustrationen beim Erlernen von Instrumenten, aber auch fehlenden Fertigkeiten. Der Wunsch, dazuzugehören, ist aber bei vielen Menschen da. Die Sätze „Ach, hätte ich doch ein Instrument gelernt“, „Ich würde ja gerne, aber ich bin total unmusikalisch“ oder „Ich würde ja gerne Klavierspielen, aber mir fehlt die Zeit dazu“ hört man nicht selten. Ich habe das Tablet mit der Band App mehreren Kollegen und Freunden in die Hand gegeben, von denen ich genau diese Sätze gehört habe. Ausnahmslos alle von ihnen haben sich innerhalb weniger Minuten in das Musizieren verloren. Sie probierten (sich) aus, ihr Gesichtsausdruck wurde entspannter, einige lächelten selig, andere fingen an zu rocken. Eines war jedoch bei allen gleich: Ich hatte stets Mühe, mein Tablet wiederzubekommen.

Die Autorin:

Kerstin Krekeler
Kerstin Krekeler ist Sonderschullehrerin in der Geschwister-Scholl-Schule in Weingarten. In ihrer Arbeit mit Schülerinnen und Schülern mit komplexen Behinderungen ist Musik ein tragender Bestandteil. Im Jahre 2017 absolvierte sie die Weiterbildung zur Fachkraft für Musiktherapie am Instiut für Soziale Berufe in Ravensburg.

Literatur (Auszug):
Decker-Voigt, Hans-Helmut: Mit Musik ins Leben. München 2008.
Decker-Voigt, Hans-Helmut: „…das berührt mich tief“ – Musiktherapie und Basale Stimulation/Basale Bildung. Wiesbaden 2016.
Wieczorek, Marion: Mit jedem Schritt wächst meine Welt – Bildung und schwere Behinderung. Düsseldorf 2018.
Apple Distribution International: GarageBand für iOS, aktualisiert 2018
Beamz Interactive Inc. www.tobiidynavoxx/beamz/

Glossar
SBBZ mit dem Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung (KMENT):
Seit 2015 entwickeln sich die baden-württembergischen Sonderschulen zu Sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentren. Mit dem Ziel Teilhabe durch schulische Bildung werden Kinder und Jugendliche mit körperlichen Einschränkungen am SBBZ KMENT unterrichtet oder durch die Einrichtung an allgemeinen Schulen betreut.
Komplexe Behinderung:
Von Komplexer Behinderung wird gesprochen, wenn neben einer körperlichen oder geistigen Behinderung weitere intensive Beeinträchtigungen vorliegen (vgl. Fornefeld 2008).

Zum Mitmachen

Kleine Hilfen mit Atem, Bewegung und Stimme

Von Sabine Rittner

„Ist so’n kleines Rückgrat…“ – Die Wirbelsäule als tönendes Organ der Würde

Ist so’n kleines Rückgrat,
sieht man fast noch nicht.
Darf man niemals beugen,
weil es sonst zerbricht.
Grade klare Menschen,
wär’n ein schönes Ziel.
Leute ohne Rückgrat,
hab’n wir schon zuviel.

Manche von Ihnen erinnern sich vielleicht an Bettina Wegeners berühmten sanften Protestsong von 1978: „Kinder“. Dessen letzte zwei Strophen sind aktueller denn je und haben mich zu einer Übungssequenz inspiriert, die ich nachfolgend gerne mit Ihnen teile. Wenn Sie sie mitmachen möchten, benötigen Sie lediglich einen ruhigen Ort, eine Sitzgelegenheit, am besten einen Hocker oder Stuhl mit gerader Sitzfläche und etwa 15–20 Minuten Zeit.

a) Im Sitzen:
Stellen Sie sich vor, Ihre Wirbelsäule sei ein Schwanenhals. Die Füße stehen sehr breit. Stützen Sie Ihre Hände mit den Fingern nach innen auf Ihre Oberschenkel. Nun bewegen Sie Ihren Kopf, der die gesamte Wirbelsäule sowie den Rücken anführt, in sanft fließenden Bewegungen, mal nach links, mal nach rechts, mal nach unten, vielleicht sogar bis zwischen die Beine, mit der Vorstellung, dass der Schwan im Fluss nach Futter taucht. Dabei genießen Sie die Dehnung und Beweglichkeit Ihrer Wirbelsäule, ohne sich dabei allzu sehr anzustrengen.

b) Nun richten Sie sich wieder auf. Tönen Sie im Sitzen den Vokal „ü“, indem Sie sich innerlich auf Ihre Wirbelsäule konzentrieren. Halten Sie das Ü auf einer Tonhöhe und spüren Sie, wie es einen ganz bestimmten Bereich Ihrer Wirbelsäule in Vibration versetzt. Wenn Sie es nicht spüren, so gibt es die wunderbar wirksame Methode des „So tun als ob“, in der Sie sich vorstellen, der Ton würde in einer bestimmten Stelle der Wirbelsäule vibrieren. Verändern Sie nun die Tonhöhe und finden Sie heraus, wo der Ton abhängig von der Tonhöhe diesmal vibriert. Dabei spielen Sie auch mit der Formung des Ü und experimentieren dabei mit der Spannung im Mundraum.

c) Lassen Sie das Ü nun in der Wirbelsäule auf- und absteigen, indem Sie es in unterschiedlichen Tonhöhen intonieren. Dabei gleitet der Ton die Wirbelsäule hinauf und hinab. Lassen Sie die Töne ineinander über fließen.

d) Im Stehen:
Verlagern Sie nun Ihr Gewicht nach vorne auf die Beine und setzen Sie die Übung im Stehen fort, so dass Ihre Wirbelsäule sich in ihrer Schlangenkraft entfalten kann. Wie die Schlange von der Flöte des Schlangenbeschwörers in Marrakesch lassen Sie sich zu einem Tanz inspirieren, der von dem tönenden Ü in Ihrer Wirbelsäule angeführt wird. Dort, wo Sie die Vibrationen des Vokals spüren, lassen Sie sich zu freien Bewegungen inspirieren, in die Sie nun auch die Arme mit einbeziehen.

e) Ausgehend vom Vokal Ü erweitert sich das Tönen nun hin zu anderen Vokalen: „ü – e – ü“ oder „ü – i – ü“ oder „ü – ö – ü“ usw. und regt Sie zu weiteren freien tanzenden Bewegungen an, in die Sie alle Körperteile mit einbeziehen. Dabei bleibt die Wirbelsäule jedoch weiterhin im Zentrum Ihrer Aufmerksamkeit.

f) Abschließend setzen Sie sich in Stille und innerer flexibler Aufrichtung hin, als hätten Sie eine sanfte und doch würdevolle Krone auf dem Kopf. Richten Sie Ihre Aufmerksamkeit nach innen und spüren Sie nach. Was ist jetzt anders als zu Beginn der Übung? Was spüren Sie? Was fühlen Sie? Wie hat sich Ihre Stimmung, Ihr Gestimmtsein verändert? Wie Ihr Körperempfinden? Welche Bilder tauchen vielleicht auf? Dies Nachspüren ist der wunderbare Moment der „Ernte“, in dem Sie staunend und neugierig Veränderungen wahrnehmen, ohne sie jedoch zu bewerten. Sollte sich in diesem Moment vielleicht ein zensierender, meckernder Teil in Ihnen bemerkbar machen, so bitten Sie ihn, beiseite zu treten und genießen Sie weiterhin jede noch so kleine, wohltuende Veränderung wie ein kostbares Kleinod.

Variante mit Partner:
Sollten Sie diese Übung gemeinsam mit einem/r Partner/Partnerin oder in einer Gruppe machen, so lässt sie sich im Anschluss von e) auch sehr gut stehend im Rückenkontakt durchführen: Anfangs tönend die Vibrationen des Ü in der Berührung spürend, nach und nach sich in die gemeinsame Bewegung erweiternd.
In der körperorientierten Musikpsychotherapie bezeichnen wir die Wirbelsäule als tönendes Organ der Würde. Ich wünsche Ihnen, dass Sie aus dieser Übung Inspiration für Ihren Alltag in Aufrichtigkeit, Flexibilität und Klarheit mitnehmen. Denn: „Menschen mit Rückgrat zeigen auch in den Kurven des Lebens ihre Geradlinigkeit.“ Ernst Ferstl (*1955)

Anmerkungen /Literaturtipps:
Diese Übungssequenz ist u. a. inspiriert von einer meiner ganz frühen Lehrerinnen, der Atemtherapeutin Ilse Middendorf. Mehr dazu finden Sie in: Middendorf, Ilse (2017): Der erfahrbare Atem. Eine Atemlehre. (Mit 2 CDs). Junfermann Verlag: Paderborn 2001.
Rittner, Sabine (2017): Die Bedeutung des Körpers in der Musikpsychotherapie. In: Musik und Gesundsein 31/2017. Reichert: Wiesbaden.
Rittner, Sabine (2008): Der Wirkfaktor Stimme in der Psychotherapie/in der Musiktherapie. In: Musiktherapeutische Umschau, Themenheft „Die Stimme im therapeutischen Dialog“, Bd. 29, 3/2008. Göttingen: Vandenhoeck & Rupprecht, S. 201–220.

Heft 34 (2018) ist erschienen!

Digitale Instrumente in der Musiktherapie

Digitale Medien begleiten uns durch den Alltag hindurch und gehören inzwischen zu einem selbstverständlichen Teil im Bereich unserer Interaktionswelt. Neben den verstärkten Warnungen in Bezug auf das Suchtpotenzial, welches die Nutzung in sich birgt, erleben wir eine Erweiterung unseres Repertoires in der Interaktion mit unseren Patienten. Die Einbeziehung der digitalen Welt birgt neue Möglichkeiten, ohne das herkömmliche Instrumentarium zu ersetzen oder zu verdrängen.