Vorschau Heft 36 (2019)

Wem gehört die Musiktherapie?

Die Warnungen vor neuerlicher Ausuferung von Musiktherapie in außer­klinische Bereiche nehmen ebenso zu wie die Buchveröffentlichungen und wissenschaftlichen Hausarbeiten zu eben diesen: Musiktherapie in der Schule, in den sozialen Berufen, in der Heilpädagogik, in der Altenpflege... Die nächste MuG wird keine 2–3 Schwerpunktthemen-AutorInnen zu schreiben bitten, sondern etliche AutorInnen aus den verschiedenen Bereichen – und deren Berührungspunkten bzw. -flächen.

Inhaltsverzeichnis

Editorial
Hans-Helmut Decker-Voigt

Musiktherapeutischer Klinikspaziergang
Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie
Department für Psychische Erkrankungen, Uniklinikum Freiburg i. Br.
Sandra Wallmeier

Praxisvorstellung
Vorstellung der musiktherapeutischen Praxis „Ohrmuschel“
Anne Oeckinghaus

Patienteninterview
Musiktherapie nach Herzstillstand und Wiederbelebung
Alexandra Takats

Wem gehört die Musiktherapie?
Volker Bernius
Dr. med. Wolfgang Baumgärtner
Dr. Elena Fitzthum
Dr. phys. Ulrike Haase
Prof. Dr. Fritz Hegi
Prof. Karin Holzwarth
Dr. Anne-Katrin Jordan
Prof. Dr. Petra Jürgens
Dr. phil. habil. Christoph Schwabe
Dr. Peter Stippl
Prof. Dr. Tonius Timmermann
Prof. Dr. Gerhard Tucek
Prof. Dr. Dr. h.c.mult. Hans-Helmut Decker-Voigt

Schwerpunktthema II
Absolventen deutscher Hochschulstudiengänge
und Weiterbildungen Musiktherapie 2009–2019
Standards und Praxisbedeutung
Thomas Wosch

Musiktherapie in Spanien
Montserrat Lopez-Merino

Wie klingt das Alphatier? Von Platzhirschen, Heidehasen,
Honigbienen und singenden Eskimos
Thomas Stegemann

Tagungsbericht zur 27. Fachtagung
„Musiktherapie mit Opfern von Missbrauch und Gewalt“
Flora Kadar

Resonanzfelder der Musiktherapie von heute und morgen
11. Europäischer Musiktherapiekongress in Aalborg, Dänemark
Bettina Eichmanns

Zertifikat „Musiktherapeut/in DMtG“ – ein Qualitätssiegel für MusiktherapeutInnen
Dorothee von Moreau

News und Hochschulnachrichten

Singende Krankenhäuser e. V.
Dagmar Aigner, Cécile Jansen, Vera Kimmig,
Friederike Wortmann, Elke Wünnenberg

Rezension
Christine Back/Ulrike Haffa-Schmidt (Hg.):
Fokus Musiktherapeut – Von der Sorge für sich selbst
Ludger Kowal-Summek

Kleine Hilfen mit Atem, Bewegung und Stimme
Tanz der Vokale – eine tönende Bewegungssequenz
Sabine Rittner

Zum Mitmachen
Praxismodelle
Juckepuck komm her!
Therapeutisches Songwriting mit Kindern
Constanze Rüdenauer-Speck

Vorschau. Impressum

Zertifikat „Musiktherapeut/in DMtG“ – ein Qualitätssiegel für MusiktherapeutInnen

Von Dorothee von Moreau

Seit September 2019 hat er begonnen – der „Masterplan Zertifizierung“ der Deutschen Musiktherapeutischen Gesellschaft (DMtG). In den nächsten beiden Jahren nimmt der Verband zu den Mitgliedern Kontakt auf, die sich zertifizieren lassen könnten: Bei dieser Zertifizierungsoffensive fragen Mitglieder des Fach- und Berufsverbandes nach, informieren und unterstützen dabei eine Zertifizierung zu beantragen.
Als Qualitätssiegel gelten Qualitätsstandards auch in den Gesundheitsberufen, die offiziell noch nicht als solche anerkannt sind. Die DMtG will hier mit dem Zertifikat „Musiktherapeut/in DMtG“ Standards setzen und verteidigen.

Doch noch immer gibt es Vorbehalte oder Unsicherheit bzgl. der Zertifizierung zum „Musiktherapeut/in DMtG“. „Warum brauch ich das?“, „Das ist mir zu blöd!“, „Das schaff ich eh nicht“, sind übliche Einwände, die wir im Verband zu hören bekommen. Oft lassen diese sich durch ein klärendes persönliches Gespräch auflösen. Dieser Beitrag klärt auf, was Zertifizierung ist, warum man sich zertifizieren lassen sollte und wie das geht.

Zertifizierung – warum?
Im Unterschied zu einigen Nachbarländern ist der Beruf der MusiktherapeutIn Deutschland noch nicht geschützt. Obwohl MusiktherapeutInnen hierzulande zum großen Teil hoch qualifiziert und seit 40 Jahren auch akademisch (an Universitäten und Hochschulen) ausgebildet werden, gibt es noch keine staatlich geregelte Ausbildungsordnung, die garantiert, dass jede/r, der/die sich MusiktherapeutIn nennt, auch die Qualitätsstandards erfüllt, die für ausnahmslos alle Gesundheits-(fach-)berufe verpflichtend sind.
Qualifizierte Ausbildung (Studium oder inhaltlich gleichwertige Ausbildung nach den Minimalstandards der SAMT)
hinreichend praktische Erfahrung unter Anleitung/Supervision
Einhaltung ethischer Standards
regelmäßige Fortbildung …
… sind die Grundlage für qualifizierte Berufsausübung (ähnlich wie bei Ergotherapeuten, Psychotherapeuten, Ärzten u. a.), Patientensicherheit und Vertrauen bei den Kostenträgern und/oder Einrichtungen.
Die Zertifizierung unterstreicht und garantiert also die Qualität des/der MusiktherapeutIn und regelt die Standards für Fort- und Weiterbildung (in Umfang, Bandbreite und Qualität). Vor allem aber schafft sie eine klare Abgrenzung des Berufsbilds zu anderen oder ähnlichen „Musik-/Klang-/…-therapie“-Anbietern. Die Zertifizierung schützt damit den guten Ruf unserer Berufsgruppe.
Zertifizierte MusiktherapeutInnen stehen für berufliche Standards, sie stärken damit das Berufsbild und unterstützen so die Fachverbände bei der berufsrechtlichen Vertretung und Entwicklung der Musiktherapie und ihrer Interessen. Und: Möglichst viele Zertifizierungen schaffen eine starke Stimme für die qualifizierte Musiktherapie in Deutschland.

Hintergrund
Die Musiktherapie hat sich international von einem „Heilhilfsberuf“, „adjuvanten Verfahren“ oder „Orchideenfach“ zu einem wissenschaftlich fundierten Gesundheitsberuf entwickelt und Eingang in die S3-Leitlinien zahlreicher Diagnosegruppen gefunden (Eberhard-Kächele & Evers-Grewe, 2018). Parallel dazu fächerte die Musiktherapie ihr Methodenspektrum für zahlreiche Diagnosegruppen weiter auf, welches professionell, d. h. gezielt, systematisch und reflektiert in vielen klinischen, rehabilitativen oder präventiven Einrichtungen zum Einsatz kommt. Diese beachtlichen Entwicklungen finden längst Eingang in Ausbildung und Lehre, sowie in Fort- und Weiterbildungen.
Umso drängender ist die noch ausbleibende Anerkennung bzw. gesetzliche Regelung der Musiktherapie als Gesundheitsberuf. Dass dies noch nicht realisierbar war, mag an der sehr kleinen Berufsgruppe, an der in Deutschland immer noch unübersichtlichen Ausbildungssituation und an der Zersplitterung in verschiedene kleine Berufs- oder Fachverbände liegen. Die Musiktherapie sucht deshalb seit einigen Jahren Kontakt zu anderen künstlerischen Therapieberufen für ein übergreifendes Berufsbild und sie sucht den Zusammenschluss zu anderen Fachverbänden im Inland und europaweit, um diese Entwicklungen gemeinsam und damit potenter weiter voran zu treiben.

Zertifizierung – aber wie?
Für ein Zertifikat sind folgende Voraussetzungen zu erfüllen:
1. Mitgliedschaft in: Deutsche Musiktherapeutische Gesellschaft DMtG, denn diese vergibt das Zertifikat nach ihren Regelungen (Zertifizierungsordnung), solange keine staatlichen Regelungen bestehen.
2. Qualifizierte Ausbildung/Hochschulstudium: Nur Absolventen von Hochschul- oder Universitätsstudiengängen in Musiktherapie oder von privatrechtlichen Ausbildungen, die in der SAMT organisiert sind, stehen für hinreichende Ausbildungsqualität. Die Hochschulen unterziehen sich regelmäßigen Qualitätskontrollen in umfangreichen Reakkreditierungsverfahren, die SAMT prüft die Einhaltung ihrer Minimalstandards, die in enger Abstimmung mit dem Verband hohe Ausbildungsqualität und -umfang festschreiben.
3. Ethikkodex: Mit der Unterschrift unter den Ethikkodex verpflichten sich die Anwärter zur Einhaltung berufsethischer Standards. Dies dient insbesondere der Patientensicherheit.
Anwartschaft: Wer ein Musiktherapie-Studiums oder eine qualifizierte Musiktherapie-Ausbildung absolviert hat, kann sofort die Anwartschaft auf das DMtG-Zertifikat beantragen. Dafür genügt der Nachweis über die abgeschlossene Ausbildung sowie eine Kopie des unterschriebenen Ethikkodex. Und Sie müssen Mitglied in der DMtG sein oder werden. Die Anwartschaft auf die Zertifizierung zeigt an, dass Sie bereits die erste und wichtigste Hürde zum Zertifikat – nämlich eine qualifizierte Ausbildung bzw. ein Musiktherapie-Studium – erfolgreich gemeistert haben. Es fehlt Ihnen nur noch an Berufserfahrung. Mit der Anwartschaft können Sie sich in einem Bewerbungsprozess als qualifiziert ausgebildete MusiktherapeutInnen von potenziellen MitbewerberInnen abheben und sich einen Vorteil auf dem Arbeitsmarkt verschaffen.
4. Berufserfahrung: Hinreichende Praxiserfahrung unter Anleitung/Supervision ist in vielen Gesundheitsberufen geregelt. Dies dient nicht nur der Professionalisierung, sondern insbesondere der Patientensicherheit. Die Vielzahl von Ausbildungswegen zur Musiktherapie hat bisher eine Vereinheitlichung der Praxiserfahrung in Umfang und Anwendungsfeld erschwert. Die DMtG hat sich deshalb darauf festgelegt, MusiktherapeutInnen zu zertifizieren, die über mindestens 2 Jahre Praxiserfahrung nach der Ausbildung (bzw. 4 Jahre bei Teilzeittätigkeit 50 %) verfügen. Damit ist ausreichend Praxiserfahrung zertifizierter MusiktherapeutInnen garantiert, d. h. zertifizierte MusiktherapeutInnen haben sich im beruflichen Feld bewährt und sind nicht als Berufsanfänger oder praxisunerfahren einzustufen.
Zertifikat: Anwärter, die alle vier Voraussetzungen erfüllen, also auch die Berufserfahrung, werden durch die DMtG zertifiziert und erhalten eine Zertifizierungsurkunde als „Musiktherapeut/in DMtG“.
Antragsunterlagen finden sich im Mitgliederbereich der Homepage der DMtG. Ausgefüllt werden sie in zweifacher Ausführung an die DMtG-Geschäftsstelle versendet.
Alle Regelungen sind in der Zertifizierungsordnung der DMtG geregelt und nachzulesen. Die Entscheidung über die Zertifizierung einzelner Antragssteller trifft der Berufsständische Beirat der DMtG im Auftrag des Verbands auf der Grundlage der Regularien der Zertifizierungsordnung. Diese werden in den Verbandsgremien diskutiert und möglicherweise überarbeitet.

Rezertifizierung – warum?
Um die hohe Qualität kontinuierlich aufrechtzuerhalten, ist die Zertifizierung wie in anderen Gesundheitsberufen auf fünf Jahre befristet. Um die Re-Zertifizierung zu erhalten, ist nachzuweisen, dass die MusiktherapeutIn sich in ihrem Fachgebiet kontinuierlich weiterentwickelt und fortgebildet hat. Das macht Arbeit, der sich benachbarte Berufsgruppen regelmäßig und selbstverständlich unterziehen. Aber, auch diese „Arbeit“ gehört heute zur beruflichen Qualifizierung!
In diesen fünf Jahren sind 250 Fortbildungspunkte zu sammeln, z. B. durch den Besuch von Fachtagungen oder Kongressen, durch das Lesen von Fachliteratur (CME-Zertifikate!), durch die Teilnahme an Teamsitzungen oder Fachkonferenzen in Kliniken, durch Supervision oder Intervision, durch den Besuch von Stimmbildungsseminaren, Instrumentalkursen oder Musikworkshops oder durch ein Ehrenamt in beruflichen Gremien der DMtG zur Weiterentwicklung der Musiktherapie.
Nach unserer Erfahrung ist das Sammeln der Punkte nicht so schwer, wie es erscheinen mag. Engagierten MusiktherapeutInnen gelingt dies meist spielend (d. h. viele KollegInnen weisen weitaus mehr Fortbildungen nach als verlangt!). Viele Fortbildungen im praktisch-methodischen Bereich machen auch Spaß und erweitern den musikalischen Handlungsspielraum. Auch Fortbildungen in angrenzenden Fachgebieten (Psychotherapie, Traumatherapie…) sind möglich. Bei der Überprüfung zählen Ausgewogenheit (Theorie – Praxis – Reflexion) und Passung zur beruflichen Tätigkeit bzw. den persönlichen Entwicklungsplänen.
Die Qualität und die Art der Nachweise der Fortbildungen sowie alle weiteren Regularien (z. B. Aussetzen der Fortbildungspflicht bei Schwangerschaft, Arbeitslosigkeit etc.) sind in der „Fortbildungsordnung“ der DMtG geregelt und dort nachzulesen.
Antragsunterlagen zur Rezertifizierung finden sich ebenfalls im Mitgliederbereich der DMtG. Zertifizierte Mitglieder werden vom Verband schriftlich an ihre Rezertifizierung erinnert. Im Antrag ordnet der Antragsteller die Fortbildungen den unterschiedlichen Bereichen (Theorie, praktisch-klinische Kompetenz, praktisch-methodische Kompetenz, Reflexion) selbständig zu und fügt die Nachweise bei. In zweifacher Ausführung werden die Unterlagen an die Geschäftsstelle versendet.
Die Zertifizierungsordnung enthält auch alle Informationen und Regularien zur Rezertifizierung und sind dort nachzulesen.
Bei weiteren Fragen wenden Sie sich an Ihre Regionalvertretungen oder an eine/n bereits zertifizierte/n KollegIn. Unterstreichen Sie die Qualität Ihrer Arbeit und lassen Sie sich zertifizieren!

Warum Zertifizieren?
„Ich bin schon seit vielen Jahren als Musiktherapeutin in der Psychiatrie angestellt. Mir bringt die Zertifizierung nichts und Arbeit macht es auch.“
„Gerade habe ich mein Masterstudium Musiktherapie abgeschlossen und die Heilpraktikerprüfung bestanden, da kommt schon das Nächste: die Zertifizierung. Ich will mich darum nicht mehr kümmern.“
„Ich weiß, dass ich gute Arbeit mache und empfinde die Zertifizierung durch die DMtG als Misstrauen und Kontrolle“
Der Beruf des/der Musiktherapeutin ist nicht geschützt. Das verbandsinterne Zertifikat ersetzt dies. Zertifizierte Musiktherapeuten zeigen, dass sie eine qualifizierte Ausbildung absolviert und hinreichend praktische Erfahrung haben, ethische Standards einhalten und für die Qualität ihrer Arbeit regelmäßige Fortbildungen besuchen.
Effektive Berufspolitik braucht zertifizierte Mitglieder. Eine hohe Anzahl zertifizierter Musiktherapeuten können Gesundheitspolitiker, Entscheidungsträger, Arbeitgeber und Patienten mit der Qualität ihrer Arbeit besser überzeugen als ein unübersichtlicher Dschungel unterschiedlichster Angebote.

_____________________________________________

1 Siehe unter www.hochschule-heidelberg.de (40 Jahre akademische Musiktherapie in Deutschland).
2 Vgl. auch die Ausbildungslandschaft Musiktherapie, herausgegeben von der DMtG.
3 Ständige Ausbildungsleiterkonferenz privatrechtlicher Musiktherapieausbildungen in Deutschland (SAMT).
4 Vgl. HTA-Bericht des IQWiG zu „Krebs: Kann eine begleitende Musiktherapie zu besseren Behandlungsergebnissen beitragen?“, in dem das IQWiG Musiktherapie als
„neue Profession“ bezeichnet.
5 Marianne Eberhard-Kächele / Beatrix Evers-Grewe: Die Bundesarbeitsgemeinschaft Künstlerische Therapien. Erkenntnisse, Ergebnisse, Erfordernisse – zwischen
6 Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) Musiktherapie.
7 European Music Therapy Confederation (EMTC).
8 www.musiktherapie.de, Menüpunkt „Formulare“.
9 Deutsche Musiktherapeutische Gesellschaft, Berufsständischer Beirat, Naumannstr. 22, 10829 Berlin.
10 Im Mitgliederbereich der DMtG unter www.musiktherapie.de (Berufsständischer Beirat).

Editorial

Im Unfallkrankenhaus Boberg/Hamburg-Bergedorf hörte ich in den ersten Wochen dieses Jahres die Klangspektren der täglich Schwerverletzte anlandenden Hubschrauber – und eines Mittags die Fetzen von Chorgesang durch eine Schwingtür, die die Vorhalle von ersten Stationen und dem Hörsaal trennt. Ich folgte den Fetzen wie ein kranker Weiser aus dem Morgenlande dem Stern und da sang er: ein temperamentvoller Gospelchor aus Mitarbeitern der Klinik, aber auch ehemaligen Patienten und Dauergästen von außerhalb. Mit einem ebenfalls beinverletzten vitalen Dirigenten am Flügel.
Sie sängen als Beitrag zur therapeutischen Atmosphäre für Patienten und als Psychohygiene und Prävention für Ärzteschaft, Gesundheits-, Krankenpflege, Raumpflege usw. – sagte mir später eine Sängerin.
Diese communities mit der Zielrichtung des Musikerlebens aktiv und rezeptiv (wie sie auch die Bewegung der „Singenden Krankenhäuser“ verfolgt, deren Verbandsorgan unsere Zeitschrift ist) – leben zeitgleich zu den aktuellen Anstrengungen der Deutschen Musiktherapeutischen Gesellschaft (DMtG), Musiktherapie als einen akademischen Beruf endlich berufspolitisch und gesundheitspolitisch von der allgemeinen Politik anerkennen und absichern zu lassen.

Weiterlesen: Editorial

Musiktherapeutischer Klinikspaziergang

Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie

Department für Psychische Erkrankungen, Uniklinikum Freiburg i. Br.

Von Sandra Wallmeier

Die Freiburger Psychosomatik – gegründet im Jahr 1949 – steht in einer langen Tradition. Unser Verständnis von Krankheiten und ihrer Behandlung nimmt die Wechselwirkungen körperlicher, psychischer und sozialer Einflüsse auf die Gesundheit wie auf die Entstehung und den Verlauf von Krankheiten gleichermaßen in den Blick. Zu uns kommen Patienten mit Depressionen und Angststörungen, mit Essstörungen, mit vielfältigen körperlichen Beschwerden ohne erkennbare körperliche Ursache, mit übermäßigen berufsbedingten Belastungen (Burnout). Manche leiden an den Folgen einer Verletzung oder benötigen besondere Hilfe bei der Bewältigung einer körperlichen Erkrankung. Fachübergreifend eingebunden sind wir unter anderem in die Versorgung von Patienten mit Krebs, koronarer Herzkrankheit oder Herz- bzw. Lungentransplantationen.
In unseren ganzheitlichen Behandlungskonzepten berücksichtigen wir psychotherapeutische, körpermedizinische und sozialtherapeutische Ansätze. Dabei nutzen wir Methoden der psychodynamischen Therapien, der Systemtherapie (Paar- und Familientherapie) und der Verhaltenstherapie ebenso wie vielfältige körpertherapeutische, kreative oder meditative Verfahren.
Station Krehl
Die psychosomatische Behandlungsstation wurde bereits 1949 an der internistischen Abteilung des Freiburger Universitätsklinikums eingerichtet. Namensgeber ist der Heidelberger Internist Ludolf Krehl (1861–1937), der frühzeitig eine ganzheitliche Behandlung kranker Menschen forderte. Die Station Krehl bietet die Möglichkeit einer intensiven, multimodalen psychotherapeutisch-psychosomatischen Behandlung (mehrere Therapieansätze können gleichzeitig, sich gegenseitig ergänzend eingesetzt werden). In begrenztem Umfang stehen zusätzliche tagesklinische Behandlungsplätze auf unserer Station zur Verfügung, um die Behandlung zunächst stationär beginnen und ggf. später ohne Unterbrechung und unter Behandlungskontinuität tagesklinisch fortsetzen zu können.
Auf der Behandlungsstation stehen 20 Behandlungsplätze für Menschen mit psychischen und psychosomatischen Problemen zur Verfügung. Schwerpunkte bestehen in der Behandlung von somatoformen Störungen, Essstörungen, Depressionen und Zuständen nach schweren Belastungen. Die Behandlungsdauer umfasst in der Regel 6–12 Wochen.
Das Behandlungsprogramm umfasst folgende Elemente:
Einzelpsychotherapie (2 x pro Woche)
Interaktionelle Gruppentherapie (2 x pro Woche)
Konzentrative Bewegungstherapie als Gruppen- oder Einzelbehandlung
Gestaltungstherapie oder Musiktherapie (2 x pro Woche)
Symptomorientierte Gruppe, für Patienten mit körperlichen Beschwerden
Gruppe für Patienten mit Essstörungen
Familienrekonstruktionsgruppe
Entspannungstherapie
Atemtherapie
Paar- und Familiengespräche
Bezugspflege mit regelmäßigen Gesprächen
Ärztliche Visiten
Konsiliarische Vorstellungen an anderen Abteilungen
Sporttherapie
Physiotherapie
Sozialtherapie (inklusive Arbeitserprobungen) 
Naturheilkunde
Das Grundkonzept ist psychodynamisch sowie systemisch-familientherapeutisch orientiert und integriert je nach Krankheitsbild kognitiv-verhaltenstherapeutische Elemente. Die Anmeldung, Indikationsstellung und Beratung erfolgt über unsere Ambulanz. In Akut- und Krisenfällen können sich überweisende Ärzte auch direkt mit dem zuständigen Oberarzt oder dem Ärztlichen Direktor in Verbindung setzen.
Musiktherapie auf Station Krehl
Seit genau 20 Jahren wird auf Station Krehl Musiktherapie durchgeführt. Die Patienten werden gleich im Aufnahmegespräch für Gestaltungstherapie oder Musiktherapie angemeldet. Hier werden möglichst Neigungen, Vorerfahrungen und Wünsche der Patienten berücksichtigt. Musikalische Vorkenntnisse sind für die Behandlung nicht erforderlich!
Nach der Anmeldung für die Musiktherapie erfolgt zeitnah ein Vorgespräch bei der Musiktherapeutin und danach ein Einstieg entweder in die halboffene Musiktherapiegruppe mit bis zu sechs Teilnehmern oder ggf. einer musiktherapeutischen Einzel-Schmerzbehandlung.
Aktive Musiktherapie
in der Gruppe
Die Patienten sind selbst mit Instrument oder Stimme an der Therapie handelnd beteiligt. In der Regel spiele oder singe ich mit und bin dadurch in besonderer Weise affektiv eingebunden in das musikalische Geschehen. Zugleich versuche ich, rational und emotional wahrzunehmen und zu verstehen, was sich im musiktherapeutischen Prozess ereignet, und wenn nötig, hilfreich-steuernd einzugreifen. In der Aktiven Musiktherapie spielen Improvisationen eine große Rolle. Durch vorbereitende Absprachen kann die Aufmerksamkeit entweder stärker auf die Musik, ihre Form und ihr Material gelenkt werden oder z. B. mehr auf Tagtraumbilder und Einfälle, die durch das Improvisieren auftauchen. Es erfolgt eine verbale Einstimmung und ich biete im Anschluss die verbale Aufarbeitung des deutlich gewordenen Konfliktmaterials an.
Musik-imaginative Schmerz­behandlung
Die Musik-imaginative Schmerzbehandlung wird grundsätzlich als Einzeltherapie durchgeführt und umfasst drei bis fünf Sitzungen. Nach einem ausführlichen Schmerzinterview suchen wir nach Klängen und Geräuschen, die den Schmerz der Patienten so gut wie möglich widerspiegeln und solchen, die die Patienten als besonders angenehm und wohltuend empfinden. Anschließend gestalten wir daraus je eine individuelle Komposition für den Schmerz und für seine Linderung. Ich habe in der Kompositionsphase vorwiegend beratende Funktion bei der Auswahl der Instrumente, Töne und Rhythmen, denn sowohl bei der Komposition als auch in der folgenden Anwendung der Musiken entscheiden die Patienten, was für sie stimmig ist. In der Anwendungsphase spiele ich beide Musiken nacheinander. Sind die Kompositionen gelungen im Sinne eines erlebten Stimmig-Seins bei den Patienten, verspüren sie nach der Anspannung, die die Komposition Schmerz häufig auslöst, eine Erleichterung durch die Komposition Linderung. Abschließend erfolgt ein reflektierendes Nachgespräch, in dem auch die Möglichkeiten einer Weiterbehandlung erörtert werden. Die Wirkung der Musik-imaginativen Schmerzbehandlung zeigt sich vor allem in einer positiv veränderten Wahrnehmung der Schmerzqualität und Schmerzintensität bis hin zu dem Erleben von Schmerzfreiheit. Darüber hinaus hilft die Behandlung den Patienten, ihren Schmerz in komplexeren Zusammenhängen zu sehen. Auf Grund des spezifischen methodischen Vorgehens im Rahmen der Musik-imaginativen Schmerzbehandlung greifen bei dieser Behandlungsmethode unterschiedliche psychotherapeutische und neurophysiologische Wirkfaktoren ineinander.
Als Musiktherapeutin auf Station Krehl arbeite ich ca. 50 % meiner Arbeitszeit unmittelbar im Patientenkontakt. Die andere Hälfte der Arbeitszeit verbringe ich hauptsächlich mit dem multi-professionellen Team der Station, d. h. in Teambesprechungen, Fallbesprechungen und Supervision mit einem externen Supervisor. Selbstverständlich werden die Behandlungen nahtlos dokumentiert.
Außerdem sind zwei Mal im Jahr eine zweitägige Großgruppensupervision für die gesamte Klinik für psychosomatische Medizin und Psychotherapie obligatorisch sowie die Beteiligung der Fachtherapien an der Ausbildung junger Medizinstudenten im Rahmen von Workshops („Bedsideteaching“).
Einen eigenen Musiktherapieraum hat die Station bislang nicht. Musiktherapieräume, die sich auf dem Klinikgelände befinden, werden vom gesamten Department für psychische Erkrankungen (Psychiatrie und Psychosomatik) genutzt und sind von allen Patienten in wenigen Gehminuten erreichbar. Der Nachteil ist, dass ich weniger auf Station angetroffen werden kann und sich an manchen Tagen die wenigen Gehminuten für mich summieren. Andererseits genießen die Patienten oft auch den „Ausgang“ in die Musiktherapie. Die Themen in ein anderes Gebäude zu tragen, hat Vorteile, der Weg bringt etwas Abstand zum Stationsgeschehen. Das Klinikgelände grenzt direkt an den Botanischen Garten der Stadt Freiburg, in den sich ein Abstecher zu jeder Jahreszeit lohnt.
In den gemeinsam genutzten Räumen arbeite ich mit den fünf weiteren Musiktherapeuten des Departments zusammen an der musiktherapeutischen Konzeptualisierung und gewährleiste so die musiktherapeutische Versorgung des Departments.
Die Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie organisiert Veranstaltungen in der Reihe Dienstagskolloquium „Körper – Seele – Geist“ (im Audimax) u. a. im Mai 2019 zum Thema „Mentalisieren in der Musiktherapie“.
Die Klinikkonzerte – Musik dargeboten von professionellen Ensembles – finden bis zu viermal jährlich statt. Sie verstehen sich als soziokulturelles Angebot, bei dem emotionale Erlebnisfähigkeit angeregt, Kontakte geknüpft und Kommunikation gefördert werden können.
Für Patienten der Station Krehl bietet eine Musiktherapiegruppe in meiner Praxis eine Möglichkeit der nachstationären gruppentherapeutischen Behandlung. Die Gruppe findet an zwei bis drei Terminen im Monat laufend statt.

Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie
Hauptstraße 8
79104 Freiburg
Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!

Die Autorin:

Sandra Wallmeier
geb. 1980
M.A., Dipl.-Musiktherapeutin (DMtG), Heilpraktikerin für Psychotherapie, seit 2006 Angestellte des Universitätsklinikums Freiburg, seit 2015 in eigener freier Praxis tätig sowie als lehrbeauftragte Dozentin und Musikerin.
www.sandrawallmeier.de

Praxisvorstellung

Vorstellung der musiktherapeutischen Praxis „Ohrmuschel“

Von Anne Oeckinghaus

Mein Weg zur Musiktherapie
Mein Name ist Anne Oeckinghaus. Ich bin vor 13 Jahren von der Nordseeküste ins Ruhrgebiet gezogen. Dort habe ich 2009 meine musiktherapeutische Praxis Ohrmuschel eröffnet. Ich arbeite seitdem mit Müttern und Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, in Einzel- und Gruppenangeboten. Mein Weg zur Musiktherapie als psychotherapeutischem Beruf entstand aus der Auseinandersetzung mit meinen Eltern. Musik gehörte in meiner künstlerischen, akademischen Herkunftsfamilie zum Alltag. Musik war mir neben Kunst, Literatur und Theater ein sehr vertrautes Ausdrucksmedium. In meinem persönlichen Entwicklungs- und Abgrenzungsprozess konnte ich mit der Musik meine seelische Verfassung gut wiedergeben. Dies hat mir große Kraft gegeben. Diese Erfahrung wollte ich gerne an Menschen weitergeben.

Musiktherapeutisches Berufs­leben vor der Praxiseröffnung
Nach meinem Musiktherapie-Studium an der WWU Münster bei Frau Prof. Dr. Rosemarie Tüpker habe ich zunächst in einem Wohnheim für geistig behinderte Menschen u. a. in der Stiftung Alsterdorf in Hamburg gearbeitet. In meiner Diplomarbeit hatte ich mich mit der Frage nach der seelischen Behinderung von Menschen mit geistiger Behinderung beschäftigt. Welche Rahmenbedingungen sind nötig, dass unabhängig von körperlicher und geistiger Einschränkung die Bedürfnisse des Einzelnen kommuniziert werden können? Außerdem habe ich in einer Tagesklinik Musiktherapie mit heterogenen Gruppen gemacht. Auch hier die Frage: Wie gelingt Wiedereingliederung in die Gesellschaft, wenn jemand herausgefallen ist? Im Rahmen meiner Tätigkeit an einer Musikschule habe ich Therapeutisches Musizieren mit Kindern und Jugendlichen und Menschen eines Pflegeheims angeboten. Daraus entstanden inklusive Theaterstücke, inklusive Bandarbeit und in einer Kooperation mit einer Germanistin die musiktherapeutische Förderung von Kindern mit Legasthenie.
Vor der Ausbildung zur Diplom-Musiktherapeutin habe ich Lehramt für Musik, Katholische Religion und Theaterpädagogik für die Sekundarstufe I studiert. Ich habe in Schulen im Brennpunktmilieu mit Kindern und Jugendlichen Hip-Hop-Texte gedichtet, Samba- und Trommelgruppen und Stockkampf-Tanz gemacht, musikalisch frei improvisiert, eigene neue Spielideen entwickelt und an der Kommunikation gearbeitet.
Den Wechsel zwischen dem päda­gogischen und dem therapeutischen Setting empfinde ich als große Bereicherung. Auf der einen Seite gibt es den geschützten Raum, in dem der einzelne Mensch und seine individuelle Lebens- und Leidensgeschichte im Vordergrund stehen. Auf der anderen Seite steht die Herausforderung, mit immer heterogener werdenden Gruppen von MigrantInnen sowie Kindern aus sozial benachteiligten Kontexten zu arbeiten. Dadurch, dass ich beide Lebensbereiche der Kinder und Jugendlichen kenne, kann ich die Berichte der Lehrer und Erzieher realistisch einschätzen und kenne die verschiedenen Probleme und Sichtweisen.

Rahmenbedingungen und Konzeption der Ohrmuschel
Die Entwicklung meiner musiktherapeutischen Konzeption hängt eng mit meinen Erfahrungen im schulischen Kontext zusammen. Ich habe die Beo­bachtung gemacht, dass es in Gruppen oft einerseits sehr zurückhaltende und andererseits sehr temperamentvolle Menschen gibt. Die zurückhaltenden Menschen verschwinden oft in der Wahrnehmung der Gruppenleiterin, so dass man mitunter nicht einmal ihre Namen weiß. Die temperamentvollen Menschen prägen die Gruppenszenerie oft stark und irritieren manchmal, da die individuelle Wahrnehmung dieser zwei bis drei Menschen häufig die ganze Gruppe zu prägen scheint. Beide Gruppen haben wertvolle Kompetenzen. Die Zurückhaltenden haben eine gute Beobachtungsgabe, aber keinen Mut und keine Erfahrung, sich zu äußern. Die Temperamentvollen tragen häufig die ganze Verantwortung für die Gruppe, fühlen sich oft unter Druck, alles regeln zu müssen. Aus diesen Erfahrungen mit Jugendlichen habe ich das Konzept MuKomm – Musikalisches Kommunikationstraining entwickelt. Das erste MuKomm habe ich in der Hauptschule erprobt. Die Kinder und Jugendlichen verbesserten ihre Gefühlsregulation, übten Konflikt- und Streitsituationen, lernten sich in der Gruppe zu entspannen.
Im Austausch mit GrundschullehrerInnen habe ich die Rückmeldung bekommen, dass immer mehr hochindividualisierte Kinder in die Schule kommen, die keinerlei oder schlechte Gruppenkompetenzen haben und sich gegenseitig nicht helfen können, die Mühe haben, das Anderssein der Anderen zu akzeptieren. Daraufhin habe ich ein Gruppenangebot für Vorschulkinder zwischen vier und sechs Jahren entwickelt. Sechs bis acht Kinder treffen sich in einem Programm über 10 und 20 Wochen einmal pro Woche und arbeiten daran, ihre soziale und emotionale Kompetenz zu erweitern. Sie lernen, sich in einer neuen Gruppe zurechtzufinden, ihre Konzentration zu verbessern. Sie machen sprachliche Fortschritte, Fortschritte in der Fein- und Grobmotorik, werden in ihrer Selbstständigkeit angeregt, werden mit einem vielfältigen Repertoire an Liedern, Spielen und Tänzen in ihrer Gesamtpersönlichkeit gefördert und angeregt.
Das MuKomm-Programm biete ich mittlerweile auch in Gruppen mit Flüchtlingskindern an oder mit solchen Kindern, die in Bezug auf emotionale, soziale und sprachliche Bereiche als besonders förderungswürdig gelten.

Die Ohrmuschel von innen und von außen
Meine Praxis liegt in einem sehr ruhigen Hinterhof. Davor steht eine große Klanginstallation, die bei Wind schöne Töne erzeugt. Mir war wichtig, dass die 30 m2 große Praxis Ruhe und Klarheit ausstrahlt. Daher habe ich die meisten Instrumente hinter großen weißen Schranktüren versteckt. Im Therapieraum sind herkömmlich bekannte In­strumente wie Trommeln, Glockenspiele und Gitarren, aber auch ungewöhnliche Instrumente wie eine Lotusflöte, eine Schlitztrommel, ein Zupfpsalter, eine Sansula. Neben einem Klavier stehen noch zwei riesige Gongs, eine Klangwiege und ein Schlagzeug sichtbar im Raum. Einzelne Instrumente werden gezielt hervorgeholt, um sie in der Therapie zu nutzen.
In der musiktherapeutischen Beratung für Eltern mit Säuglingen oder Kleinkindern geht es unter anderem um Verhaltensauffälligkeiten, Sprachverzögerungen, sozialen Rückzug, Mutismus, Autismus, Hyperaktivität oder Mehrfachbehinderungen. Ab dem Alter von vier Jahren kommen die Kinder meist selbst zu mir, nehmen am MuKomm teil oder einzeln mit Themen wie Schulangst, Konzentrationsschwäche, Kommunikationsschwäche, Sprech- und Sprachstörungen, Verhaltensauffälligkeiten. Die erwachsenen Menschen kommen wegen depressiven Verstimmungen, Ängsten, Selbstfindungskrisen, Wahrnehmungsstörungen, körperlichen Beschwerden wie Migräne oder Tinnitus. Immer wieder habe ich auch Menschen in Behandlung, die im Wachkoma liegen oder dement sind.
Ich arbeite in meiner Praxis vorwiegend mit der freien Improvisation. Wenn Menschen bisher keinerlei Erfahrung damit hatten, klingt die Musik zu Beginn oft zart, schüchtern, tastend, später manchmal kess, herausfordernd, testend, selbstbewusst, eigensinnig. Es geht in erster Linie nicht darum, ein Instrument spielen zu lernen oder Musikstücke einzustudieren. Gespürte, gehörte und selbst gespielte Musik kann etwas in Bewegung bringen und dies kann befreien, verändern, heilen. Durch das Experimentieren mit einem Instrument, durch das Erzeugen von Klängen oder Rhythmen kann man sich öffnen, sich eigener Gefühle, Denkmuster oder Blockaden bewusst werden, Neues testen und Gegenimpulse setzen. Wenn ich mir vornehme, mutiger zu sein, dann kann ich das beim Musikmachen beispielhaft üben.

Erlebnisse aus meinem Berufsalltag
Ein Junge kommt neu in meine MuKomm-Gruppe. Er spricht bisher nur wenig Deutsch, ist aber sehr aufgeschlossen und neugierig. Er sitzt wie alle anderen Kinder auf einer „sicheren Insel“. Wir ruhen uns aus oder bewegen uns von der Insel weg, um mit den anderen zu spielen, zu tanzen, mit den Instrumenten Kontakt aufzunehmen. Der Junge erzählt mit brüchigen Worten, aber sehr eindeutig das Erlebnis eines Vierjährigen von der Flucht über das Wasser, bei dem Menschen gestorben sind und bei der sie auf einer Insel gestrandet sind. Dort waren Menschen, die sich um sie gekümmert haben. Dort gab es Edelsteine und er schliff sich bei nächster Gelegenheit aus einem Rohdiamanten ein Messer. Zum Ende der Reise beginnt er bei dem Spiel der Oceandrum bitterlich zu weinen. Wir trösten ihn mit einem Lied. Er sagt, wie froh er sei, hier auf festem Boden zu stehen.
Eine andere Situation bezieht sich auf eine Frau, die einen leichten Autismus und eine geistige Behinderung hat. Im Alltag eckt sie immer wieder mit Menschen an, da sie sich minderwertig und oft nicht verstanden fühlt. Allerdings hat diese Dame eine große Gabe, Musik zu machen und hört leidenschaftlich gerne klassische Musik. Dann treten alle sozialen Schwierigkeiten in den Hintergrund. Letzte Stunde war der Ärger darüber wieder besonders groß. Auf meinem Vorschlag hin wählt sie eine Musik aus, schließt die Augen, setzt sich bequem hin, genießt schmunzelnd und summend die Musik, erzählt hinterher von schönen Erinnerungen daran, dass sie mit 12 Jahren in Kroatien schwimmen gelernt hat und wie schön die Zeit war. Da war noch alles gut. Beim Musikhören hat die Klientin ein Selbstbewusstsein und eine Klarheit, die ihr manchmal im Alltag fehlt.

Zukunftspläne
Ich liebe die Arbeit mit den Menschen in meiner Praxis. Gerne würde ich noch mehr Gruppen zur freien Improvisation für Studierende, mit meiner Balintgruppe, mit jugendlichen Mädchen machen. Ich möchte weiterhin die Musiksprache pflegen, sei es mit Kindern mit dem Rett-Syndrom, Mutismus, William-Bourne-Syndrom, mit Frühgeborenen, mit Schreikindern. In diesem Frühjahr habe ich mein zehnjähriges Jubiläum gefeiert. Eine Tanztherapeutin, die zu Besuch kam, fasste den Tag zusammen, indem sie sagte, der Ort der Ohrmuschel leiste einen Beitrag zum Frieden und zur Demokratieerziehung. Schön wär’s.

Die Autorin:

Anne Oeckinghaus
Diplom-Musiktherapeutin, Zertifizierte Musiktherapeutin DMtG, Heilpraktikerin (Psychotherapie), Lehrerin für Musik, Religion, Theater
Ohrmuschel Praxis für Musiktherapie, Hingbergstraße 118 c, 45470 Mülheim an der Ruhr, Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!, www.ohrmuschel-therapie.de

Schwerpunktthema II

Absolventen deutscher Hochschulstudiengänge und Weiterbildungen
Musiktherapie 2009–2019 – Standards und Praxisbedeutung

Von Thomas Wosch

Seit 2009 wurden in der Rubrik Studiengang Musiktherapie Absolventen aller deutschen Hochschulstandorte Musiktherapie vorgestellt und Teilnehmer der in der SAMT qualitätsgesicherten Weiterbildungen Musiktherapie. Die Hochschulstandorte sind:
Universität Augsburg
Westfälische Wilhelms-Universität Münster
Universität Witten-Herdecke
Universität der Künste Berlin
Hochschule für Musik und Theater Hamburg
Theologische Hochschule Friedens­au
Frankfurt University of Applied Sciences
SRH Hochschule Heidelberg
Hochschule Magdeburg-Stendal
Hochschule für angewandte Wissenschaften Würzburg-Schweinfurt
Die Absolventen schlossen an diesen Standorten mit Diplom (Uni, FH), Bachelor und Master ab. Die privatrechtlichen weiterbildenden Ausbildungen sind:
Akademie für angewandte Musiktherapie Crossen
Berufsbegleitende Weiterbildung in Orff-Musiktherapie der Deutschen Akademie für Entwicklungs-Rehabilitation
Europäische Akademie für psychosoziale Gesundheit (FPI)
Institut für Gestalttherapie und Gestaltpädagogik
Institut für Musik, Imagination und Therapie
Institut für Musiktherapie am Freien Musikzentrum München
Institut für Musiktherapie Berlin
Musiktherapeutische Arbeitsstätte
Zukunftswerkstatt (therapie kreativ)
Gemeinsamkeiten und Ergebnisse der Musiktherapie-Absolventen deutscher Hochschulen und der Teilnehmer privatrechtlicher Ausbildungen werden im Folgenden genannt.
Bei den Bedeutungen der Studieninhalte für die berufliche Praxis standen bei den Absolventen der Studiengänge Musiktherapie im Vordergrund die Übungen zur musiktherapeutischen Improvisation nach verschiedenen Grundlagen und in Perkussion, selbstreflexive Kompetenzen und Selbsterfahrung, interdisziplinäre Fallkonferenzen, Praktika und Supervision, psychodynamische Ansätze und tiefenpsychologische Grundhaltung, Psychopathologie und Diagnostik, Phänomenologie der Musik, Wirkung von musical features, Musiktherapie in der Neurologie sowie Orff-Musiktherapie. Vereinzelt wurden Gruppenprozesse, Einzelmusiktherapie für ASD, Psychotherapie, Entwicklungspsychologie, wissenschaftliches Arbeiten, Morphologische Musiktherapie, internationale Musiktherapie-Methoden und philosophische Grundfragen genannt.
Von den insgesamt 16 Autoren der Studiengangabsolventen sind drei Absolventen in voller Anstellung an einer Klinik für Psychiatrie, einer Klinik für Psychotherapie und einem Sozialpädiatrischen Zentrum. Drei Absolventen sind in Teilzeitanstellung an einer Klinik für Psychotherapie und Psychiatrie, einer Praxis für Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie bei der Lebenshilfe. Drei Absolventen arbeiten in Lehre und Forschung, einer als Leiter eines Weiterbildungsinstituts für Musiktherapie und zwei angestellt im Hochschulbereich und Berufsfachschule. Drei Absolventen arbeiten als Selbstständige bei Musik auf Rädern GbR für Menschen mit Demenz, mit Behinderung, mit chronisch-psychischer Krankheit, in eigener Praxis und in eigener Praxis mit Schwerpunkt Autismus-Spektrum-Störung. Vier Absolventen arbeiten als Honorarkräfte, am häufigsten in Altenheimen und weiterhin in Schule, Kindergarten, Tagesklinik, Psychiatrischer Klinik, Palliativstation, für Menschen mit Behinderung und für Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung.
Die Zugangsbedingungen der privatrechtlichen Ausbildungen bestehen aus Hochschulreife oder einem Studium mit mindestens BA-Abschluss. Eine Ausbildung verlangt einen MA-Abschluss sowie Zulassung zur Heilkunde sowie einen anderen Fachschulabschluss. Alle Ausbildungen verlangen musikalische und persönliche Eignung sowie Berufserfahrung und die meisten ein Mindestalter.
Bei den Inhalten privatrechtlicher Ausbildungen stehen die Selbsterfahrung als Lehrtherapie und als Erlernen einer Methode, Diagnostik und Psychopathologie, Supervision, Medizin inklusive Anatomie und Physiologie, Körperarbeit und Bewegungslehre sowie Musik und Liedbegleitung im Vordergrund. Mehrfach wurde als didaktisches Konzept die unmittelbare Verknüpfung von Theorie, Methodik, Praxis, Selbsterfahrung und Supervision als spezifisches Lehrformat dieser Ausbildungen genannt. Ebenfalls spezifisch für fast alle Ausbildungen ist, dass ein Ansatz oder eine Methode in diesen Ausbildungen vermittelt wird. Weitere mehrfach genannte Inhalte sind Entwicklungspsychologie, Wissenschaftstheorie und Forschungsmethoden sowie Praktika.
Die meisten Ausbildungen schließen mit einem Zertifikat ab. Einzelne vergeben die Bezeichnung privatrechtliches Diplom oder spezifische Therapeutentitel. Mehrere Abschlüsse werden von Verbänden als Berufszuerkennung oder Mitgliedschaft anerkannt auf deutscher und europäischer Ebene sowie mit Weiterbildungsanerkennung der Psychotherapeutenkammer. Die Abschlüsse qualifizieren zur Zertifizierung als Musiktherapeut eines Berufsverbandes.
Zusammenfassend werden von den Hochschulabsolventen alle Standard-Lehrbereiche musiktherapeutischer Studiengänge mit Grundlagenwissen, insbesondere Diagnostik und Musik-Phänomenologie, mit musiktherapeutisch-methodischen Kompetenzen, insbesondere Ansätze aus Psychodynamik, Neurologie und Entwicklungsrehabilitation, mit musikpraktischen Kompetenzen, insbesondere musiktherapeutische Improvisation und Perkussion, mit Selbstreflexiven Kompetenzen, insbesondere Selbsterfahrung und Supervision, sowie mit Handlungskompetenzen, insbesondere in Praktika und interdisziplinären Fallkonferenzen, für die praktische Tätigkeit als bedeutend benannt. Die Tätigkeit wird zu gleichen Teilen in Vollanstellung, Teilzeitanstellung, als Selbstständige/r und als Honorarkraft genannt. Die Tätigkeitsfelder sind nach der Häufigkeit der Nennung der vorgestellten Absolventen der Bereich Menschen mit Behinderung und mit Entwicklungsstörung, Psychiatrie und Psychotherapie, Altenheim und Menschen mit Demenz sowie Lehre und Forschung.
Fast alle privatrechtlichen Ausbildungen fordern für den Zugang die Hochschulreife oder einen relevanten akademischen Abschluss und Berufserfahrung. Die Inhalte der Ausbildungen sind meist auf einen Ansatz fokussiert und weisen in ihrer Didaktik mehrfach die Spezifik einer unmittelbaren Verknüpfung von Theorie, Praxis, Methodik, Selbsterfahrung und Supervision als Vermittlungsformat auf. Alle Abschlüsse sind qualitätsgesichert nach gemeinsamen Standards und in Verbänden.
Insgesamt wird trotz der Veränderungen im deutschen Hochschulbereich Musiktherapie deutlich, dass Gemeinsamkeiten und Standards mit hoher Relevanz für die Praxis sowie eine breite Anwendung der Musiktherapie in verschiedensten Tätigkeitsbereichen und in allen Tätigkeitsformen vorliegen.