Musiktherapeutischer Klinikspaziergang

Musiktherapie in der Alpenklinik Santa Maria

Von Constanze Rüdenauer-Speck

Klinik

Auf meinem Weg zur Arbeit sind täglich 400 Höhenmeter zu bewältigen, denn ich fahre auf dem 105 Kurven starken Oberjochpass zur Alpenklinik. Die in Hochtallage der Allgäuer Alpen auf 1200m Höhe gelegene Rehabilitationsklinik für chronisch kranke Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene hat sich als Hochgebirgszentrum zur Behandlung von Allergien und Atemwegserkrankungen national wie international einen Namen gemacht. Hier in der Kurgemeinde Bad Hindelang-Oberjoch gibt es die „beste Luft Bayerns“ – eine Messstation des Landesamtes für Umweltschutz steht auf dem Klinikgelände und weist die Luft als besonders arm an Pollen aus. Auch Hausstaubmilben können sich so viele Meter über Normalnull nur schwer ansiedeln, sodass die jährlich ca. 1.800 Patienten mit ihren Angehörigen endlich wieder frei durchatmen können. Träger der Alpenklinik Santa Maria mit ihren rund 150 MitarbeiterInnen ist die Katholische Jugendfürsorge der Diözese Augsburg e. V., eines der größten Sozialunternehmen Bayerns mit Einrichtungen der Medizin, der Kinder- und Jugendhilfe sowie der Beruflichen und Schulischen Bildung.
Gemeinsam mit der Klinik Hochried in Murnau und der Fachklinik Prinzregent Luitpold in Scheidegg bildet die Alpenklinik Santa Maria den Verbund der KJF Rehakliniken, der größte private Anbieter im Bereich der Kinder- und Jugendrehabilitation. Seit der Entstehung im Jahr 1949 hat sich die Klink auf die Behandlung von Kindern- und Jugendlichen mit Atemwegs- und Hauterkrankungen spezialisiert. Zu den Indikationen der Alpenklinik die Alpenklinik Santa Maria den Verbund der KJF Rehakliniken, der größte private Anbieter im Bereich der Kinder- und Jugendrehabilitation.
–– Allergisches und nichtallergisches Asthma bronchiale
–– Allergische Rhinokonjunktivitis
–– Nahrungsmittelallergien
–– Atopische Dermatitis
–– Adipositas
–– Störungen der sozialen Interaktionen
–– Fütter- und Essstörungen
Aufgenommen werden können bis zu 180 Patienten vom Säuglingsalter bis zur Volljährigkeit. Ein Teil der Jugendlichen reist ohne Eltern ins Oberjoch, gehört zur Gruppe der „Wanderfalken“. Bei den restlichen Patienten reist in der Regel ein Elternteil als Begleitperson mit an. Viele kommen wiederholt in die Alpenklinik und erreichen so Stabilität in der Bewältigung chronischer Haut- und Atemwegserkrankungen. Dazu kommen noch eine Krankenstation als Außenstelle der Augsburger Fachklinik Josefinum und unsere sog. „Igel-Gruppe“, eine Wohngruppe als Langzeitrehabilitationsmaßnahme im Rahmen der Eingliederungshilfe.
Die Patienten der Station für Fütter- und Essstörungen werden „Eichhörnchen“ genannt. Dies sind Kinder mit genetischen Erkrankungen, ehemalige Frühgeborene, Kinder mit einem äußerst gering ausgeprägten Hungergefühl oder selektivem Essverhalten. Der familienzentrierte, multimodale Ansatz macht dieses Therapieangebot bundesweit einzigartig, sodass Familien aus ganz Deutschland es nutzen.
Strukturierte Schulungsprogramme bei allen Schwerpunkt-Indikationen für Patienten und Begleitpersonen, Vortragsreihen und Gesprächskreise bilden zusammen mit umfassenden labortechnischen Untersuchungen und Messungen, medizinischen Bädern und Eincreme-Workshops die Basis jeder Reha. Hinzu kommen die psychologische Betreuung und Beratung und folgende Therapien:
–– Ernährungstherapie
–– Ergotherapie
–– Mototherapie
–– Sporttherapie
–– Physiotherapie
–– Musiktherapie
Während des vier- bis sechswöchigen Aufenthalts besuchen alle schulpflichtigen Kinder und Jugendlichen die zur Klinik gehörende Sophie-Scholl-Schule, ein staatlich genehmigtes und schulartübergreifendes Förderzentrum mit zugehöriger Schule für Kranke, welches auch den „Igeln“ einen Schulabschluss ermöglicht. Die Schule wurde für ihr Konzept mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Deutschen Schulpreis, den Kanzlerin Angela Merkel persönlich überreichte. Komplettiert wird das Klinikleben durch die pädagogische Betreuung für alle Altersstufen sowie ein vielfältiges Freizeitange bot, vom „Bergabenteuer“ und Rafting im Sommer bis zu Skikursen und Schneeschuhwandern im Winter.

Musiktherapie in der Alpenklinik
Das therapeutische Spektrum wurde im Herbst 2018 um die Musiktherapie erweitert und eine Stelle mit einem Umfang von 32 Wochenstunden geschaffen. Die Konzeption meiner Arbeit konnte ich eigenverantwortlich gestalten und auf die besonderen Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen ausrichten und wachsen lassen. Die Lebensqualität und soziale Teilhabe unserer jungen Patienten und ihrer häufig mitbelasteten Familien auszugleichen oder zumindest deutlich zu verbessern, stellt allgemein unser vorrangiges Therapieziel dar. Die Musiktherapie als künstlerische Psychotherapieform unterstützt hier die medizinische Behandlung gezielt durch die Förderung der emotionalen Verarbeitung körperlicher Erkrankung, das Aufspüren von Ressourcen und die Reduktion von Stress und Spannungszuständen. Bezogen auf einzelne Indikationen bedeutet dies für die Kinder und Jugendlichen mit Asthma eine Musikalisierung ihrer Atemwege durch Singen und Musizieren. Hier spielt das „Urinstrument“ der Alpen, das Alphorn, eine wichtige Rolle und hilft dabei, körperliche Beeinträchtigung auszugleichen und ein positives Körpergefühl aufzubauen. Adipöse Patienten werden darin unterstützt, sich von ihrer oft gehemmten Ausdrucksfähigkeit zu lösen. Im geschützten Rahmen können sie sich jenseits von Leistungs- oder Schönheitsidealen zeigen und ihr Selbstwertgefühl verbessern. Zum gemeinsamen Improvisieren steht ihnen neben den Alphörnern ein großes Instrumentarium zur Verfügung.
Ein weiterer Schwerpunkt meiner Arbeit stellt die Behandlung von Neurodermitis und Fütter-Essstörungen dar. Besonders jüngere Kinder mit Hauterkrankungen befinden sich oftmals in einem schwer zu durchbrechenden Teufelskreis aus Jucken – Kratzen – nicht schlafen können – noch mehr Juckreiz. Hier hat sich die Klangwiege als sehr hilfreich erwiesen, wie die folgende Fallvignette zeigt: Als der sechsjährige B. 2019 das erste Mal zu mir in die Musiktherapie kam, hatte er bereits seit ca. einem Jahr nicht mehr richtig schlafen können. Seine Haut war am ganzen Körper gerötet und aufgekratzt, seine Hände rieben und strichen ohne Unterlass überall da über seine Haut, wo er irgendwie hinkam. Die Klangwiege gefiel ihm von Anfang an. B. genoss es sehr, darin liegend von mir bespielt zu werden und er kratzte weniger. Nach einer Woche kam der Kindsvater auf mich zu: „B. hat erstmals wieder schlafen können! Ich habe rückwärts die Therapiepläne studiert, um zu sehen, was wir an diesen Tagen gemacht haben. Da war er hier bei Ihnen in der Klangwiege – kann das sein?“ In Abstimmung mit dem behandelnden Arzt intensivierten
wir die Therapiefrequenz und legten die Termine in den Spätnachmittag, um B. gezielt im Tagesausklang zu entspannen und auf das folgende Eincremen einzustimmen. Tatsächlich: B. zeigte sich im Verlauf seiner Rehamaßnahme immer ruhiger und fröhlicher. Er entwickelte sogar auch große Lust zum eigenen musikalischen Ausdruck und trommelte lautstark auf die Pow Wow. Ich machte eine Tonaufnahme der Klangwiege, welche die Eltern auch zuhause würden einsetzen können; ohne Vibration dann zwar, aber ich erwartete, dass B.s Körpergedächtnis dies ausgleichen würde. Ein Jahr später kam B. wieder und die Eltern berichteten, dass zwischenzeitlich B.s Haut so gut war wie noch nie in seinem
jungen Leben und er zu einem glücklichen Schulkind geworden war. Aktuell war seine Haut leider etwas schlechter, die durch die Corona-Pandemie veränderten Lebensumstände stressten ihn. B. betrat den Musiktherapieraum und marschierte wie selbstverständlich direkt zur Klangwiege und legte sich hinein, als wolle er sagen: „Da bin ich wieder. Einmal ein Klangbad bitte!“


Gleichsam von Bedeutung in der Behandlung von Neurodermitis ist das gemeinsame Singen von Mantren. Die Lieder variieren je nach Alter der Kinder und stammen aus allen großen Weltreligionen. Für dieses Gruppenangebot für Kinder zwischen viereinhalb und zehn Jahren habe ich für jedes Mantra, teilweise nach Ideen der Kinder selbst, ein Körpermantra entwickelt. Zu „Feeling“ cremen wir uns imaginär genüsslich mit der eigens entwickelten Santa-Creme ein. Lebensfreude pur springt über, wird zum Ohrwurm und Eltern berichten, ihre Kinder sitzen abends auf ihrem Bett und singen: „Feeling good today!“ oder „I am happy, I am good“. Mit älteren von Neurodermitis betroffenen Kindern und Jugendlichen sind im therapeutischen Songwriting Lieder entstanden, die inhaltlich von ihrem Leid zeugen, aber auch dahin fühlen lassen, wie es ist, gesund und frei zu sein. Die zwölfjährige M. entwickelte mit mir eine Rockballade und sang im Refrain: „Scheiß Neuro! Ich brauch’ dich nicht mehr! Ich will frei sein und noch ganz viel mehr…!“ Sie fühlte sich in ihrer Befindlichkeit verstanden und konnte musikalisch vor allem endlich mal eines ungestraft tun: aus ihrer Haut fahren. Die zehnjährige M.B. kreierte und besang den „Drachen Juckepuck“, den sie rufen kann, damit er ihr den Juckreiz nimmt. Dieses Lied wurde in das neueste Kinder-Schulungsheft unserer Klinik aufgenommen und man kann es fast täglich irgendwo durch die Klinik tönen hören. Die Eltern dieser Patientengruppe sind meist nicht minder belastet und für sie biete ich jede Woche eine eigene Gruppe Musiktherapeutische Tiefenentspannung MTE (nach Decker-Voigt) an.
Im Bereich der Fütter- und Essstörungen richtet sich das musiktherapeutische Angebot im familienzentrierten Ansatz individuell an die besonderen Bedürfnisse der kleinen Patienten, ihre Geschwister und Eltern. Je nach Behandlungsauftrag findet die Therapie im Einzelsetting oder zur Förderung einer positiven Mutter-Kind-Interaktion gemeinsam mit der Mutter statt. Als Teil des multimodalen Behandlungsansatzes bietet die Musiktherapie hier einen freien, nicht pflegerischen, kreativen Kontakt, der absichtlich nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Thema Essen steht. Die Familien sollen vielmehr sich selbst wieder einmal freudig und unbelastet erfahren. Durch das Explorieren der Instrumente und das freie Spiel damit können selbstbestimmt und angstfrei wichtige Erfahrungen gemacht werden. Mit Körperinstrumenten wie Klangwiege oder Therapiemonochord können diese Kinder in ihrer Körperwahrnehmung gefördert werden und klangliche Geborgenheit erleben. Solche Erfahrungen zu integrieren und auf andere Bereiche zu übertragen, kann vielleicht bedeuten, im Anschluss mehr Lust und Bereitschaft zum Probieren neuer Speisen zu zeigen. Oder ein Kleinkind auf dem Schoß der Mutter greift in der Geborgenheit des von mir gespielten und gesungenen Wiegenliedes erstmalig zur Trinkflasche, deren Sauger es bisher im Mundbereich nie toleriert hatte. Der Einbezug von Geschwisterkindern dient neben einem besseren Verständnis der Familiendynamik auch der Würdigung und besonderen Wahrnehmung ihrer Persönlichkeiten, eben nicht nur „Bruder oder Schwester von …“ zu sein, sondern in ihren Bedürfnissen und Befindlichkeiten gesehen zu werden. Auch die Eichhörnchen-Eltern üben mit der MTE zweimal wöchentlich gemeinsam in der Gruppe ihren Körper, Gefühle und Gedanken achtsam wahrzunehmen, Verspannungen aufzuspüren, loszulassen und wieder neue Lebenskraft zu tanken.
Unsere Igel-Langzeitpatienten bleiben ein Jahr oder sogar länger bei uns. Manche von ihnen wünschen sich in der Musiktherapie, „einfach nur
ein Instrument zu erlernen“, was einen hin- und herwechselnden Grenzgang zwischen Pädagogik und Therapie bedeutet. Andere benötigen Unterstützung in der Verarbeitung ihrer schwierigen familiären Situation, aus der sie stammen, und Hilfen auf dem Weg zur Neuorientierung und Veränderung. Mit den Igeln kann ich mich tiefer in den Prozess hineinbegeben, als dies in der Reha möglich ist. Dennoch: Vier Wochen, mit Verlängerung sechs Wochen, mag für manche kurz klingen, aber es kann tatsächlich auch für die Rehapatientinnen und -patienten immer viel aufgefangen und angeregt werden. Behandlungsrelevante Themen zeigen sich plötzlich in der Musiktherapie oder Mutter und Kind können sich auf musikalischer Ebene auf Augenhöhe wieder neu begegnen. Gemeinsames Singen und Musizieren befördert schließlich jede Menge Oxytocin, so wundert es nicht, wenn durch chronische Krankheit belastete Beziehungen zu heilen beginnen. Die letzten Lücken in meinem Wochenplan füllen das Heilsame Singen „Simantra“ als freies Angebot für alle Begleitpersonen, die Eichhörnchen-Teamsitzungen, der Austausch mit den Kolleginnen der Psychologie und die Teilnahme an der Ärztesitzung zur Besprechung der Neuanreisen. 

Corona
Wie viele Rehakliniken wurde die Alpenklinik zu Beginn der Pandemie Ende März auf Anordnung des bayrischen Staatsministeriums für Gesundheit und Pflege geschlossen. Unmit telbar danach wurden wir als Hilfskrankenhaus eingerichtet (und Gott sei Dank nicht benötigt!). Erst zum 17. Juni durfte der Klinikbetrieb mit 50 Patienten ab sechs Jahren plus Begleitpersonen wiederaufgenommen werden. Ein Konzept mit umfangreichen Maßnahmen und Regeln wurde erstellt und wird seitdem aktuellen Geschehnissen und Erfahrungen angepasst, sodass die Patientenzahl wieder langsam gesteigert werden kann. Auch die Musiktherapie in Zeiten von Corona gestaltet sich anders. Auf Singen und Blasinstrumente spielen wird vorsichtshalber verzichtet, zumal das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes in der Klinik für Patienten wie Mitarbeiter Pflicht ist. Die Kinder und Jugendlichen kommen meist einzeln, die Bildung von Gruppen ist erschwert, da sie untereinander nur in bestimmten Kohorten Kontakt haben dürfen. Auch in der Einzelbegegnung heißt es Abstand wahren, sodass das Erklären eines Instruments und Zeigen eines Gitarrengriffs manchmal Einfallsreichtum erfordert. Jetzt kommt das große „Aber“: Was könnte besser geeignet sein Brücken zu bauen als die Musik? Selbst Masken und Abstand verhindern nicht, dass die Kinder durch Musik Resonanz, Nähe und Geborgenheit erfahren. Und: Die Situation befördert, was sowieso in meiner Absicht lag und was seitens des Ärzteteams sehr erwünscht ist, nämlich das Rausgehen in die Natur! Davon erzählt der letzte Abschnitt. 

Zukunftsmusik
Für die Outdoor-Musiktherapie war bisher im Therapieplan der Kinder wie auch bei mir die Zeit knapp und es war vom Wetter her schwer planbar. In diesem Sommer wandere ich mit meinen Patienten, wann immer es irgendwie geht, den Hang hinter dem Klinikgebäude hinauf, ziehe eine Auswahl an Instrumenten im Handwagen hinter mir her. Mit Blick auf unseren 1.876 m hohen Hausberg, den Iseler, genießen es die Kinder in und mit der Natur zu improvisieren – Vogelgezwitscher und Kuhglockenklang fließen in unsere Musik mit hinein. Hier brauchen wir auch keinen Mundschutz zu tragen und sehen uns lächeln. In wenigen Wochen wird ein 2019 von mir angestoßenes Projekt wahr werden: Der Klanggarten. Die durch Spenden finanzierten, speziellen wetterfesten Instrumente aus Großbritannien werden Ende August eintreffen und aufgebaut bzw. einbetoniert werden. Dann steht mit einem Grand Marimba, Congas, im Dreiklang gestimmten zwei Meter hohen Emperor Chimes und einem Mandalafon einem ganzjährig durchführbaren Gruppenangebot nichts mehr im Weg. Es sei denn, die Instrumente versinken in meterhohem Schnee…

 

Constanze Rüdenauer-Speck
Musikpädagogik mit Hauptfach Klavier an der Hochschule für Musik Karlsruhe. Abschluss: Diplom; Berufsbegleitende Weiterbildung Gemeinschaftsbildende Musiktherapie; Europäische Akademie der Heilenden Künste e. V. Gründung und Leitung der Freien Musikschule Ettlingen Forum Musicum für Musik, Ballett, Schauspiel. Eigene Praxis Musiktherapie Allgäu:
www.musiktherapie-allgäu.de.

Musiktherapeutin an der Alpenklinik Santa Maria KJF Rehaklinik für Kinder und Jugendliche
Riedlesweg 9
87541 Bad Hindelang-Oberjoch
http://www.santa-maria.de
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