Schwerpunktthema I

Zwischen den Kulturen – musiktherapeutische Identitätssuche

Von Udo Baer

Am Beispiel einer musiktherapeutischen Einzelarbeit werde ich zentrale Aspekte interkultureller Arbeit vorstellen.

Als Elena zu mir kam, hieß sie Helen. Ihren 40. Geburtstag hatte sie in der Psychiatrie mit einem Stück Marmorkuchen gefeiert. Dort hatte sie sich zwei Wochen aufgehalten, um eine wahnhafte Episode mit aggressiven Attacken ausklingen zu lassen. „Ich möchte nie mehr in die Psychiatrie. Sorgen Sie dafür!“ Mit diesen Worten hatte sie mich begrüßt. Die Erfüllung dieses Auftrags konnte ich ihr nicht versprechen, aber ich konnte ihr versichern, dass ich mein Bestes versuchen würde, und dass Musiktherapie in jedem Fall helfen würde. Also legten wir los.

„Ich bin immer dazwischen.“
Helen wurde Mitte der 70er Jahre als Elena in Polen in einer Kleinstadt nahe Krakau geboren. Ihr vor kurzem verstorbener Vater war Pole, der Großvater väterlicherseits Bulgare. Die Mutter war deutscher Herkunft, Kriegswaise, sprach polnisch mit einem leichten Akzent, ohne mehr als einige deutsche Worte zu kennen. Beide Eltern arbeite ten in Polen als Ingenieure. Helen war als Textildesignerin in einer bekannten Modefirma tätig.
Als ich Helen bat, am Klavier mit einigen Tönen etwas über sich zu erzählen, begann sie äußerst nervös und hektisch nach Klängen zu suchen. „Das geht nicht. Ich finde mich nicht.“ Sie erzählte, dass sie sich „immer schon“ als ruhelos und dahintreibend empfunden habe. Suchend, aber ohne zu wissen, was sie suche.
„Versuchen Sie, das auf dem Klavier zu spielen.“
Sie tat es, helle Töne, zerrissen, abgehackt, unruhig.
„War das schon immer so?“
„Seit ich in Deutschland bin.“
„Und davor?“
Davor klang es zwei Oktaven tiefer, ruhiger, getragen.
Sie war zwölf gewesen, als die Familie nach Deutschland auswanderte. Auch wenn die Mutter nach Abstammung Deutsche war und in Polen oft darunter gelitten hatte, als „Hitlermädchen“ diskreditiert zu werden, waren alle in Deutschland fremd und erlebten sich als Ausländer. Zwischen dem vorher und nachher, zwischen Polen und Deutschland, gab es keine Verbindung, nur ein „Dazwischen“: „Ich bin immer dazwischen“, erzählte Helen, „des arbeitewegen finde ich auch keinen Ton für mich. Wir wollten Deutsche sein und ich lernte schnell Deutsch und paukte viel für die Schule. Doch wir hatten nie deutsche Freunde, zuhause gab es nur Besuch von Polen und im Urlaub fuhren wir immer nach Hause, nach Polen. Hier waren wir nicht richtig und da auch nicht, da waren wir die Reichen aus Deutschland, die nicht mehr richtig polnisch sprachen.“
Dieses Dazwischen-Sein ist mir bei zahlreichen Menschen aus anderen Ländern und anderen Kulturen begegnet. Mögen sie noch so perfekt die deutsche Sprache sprechen und äußerlich integriert sein, innerlich befinden sich viele im Dazwischen, im Niemandsland zwischen den Kulturen, zwischen alter und neuer Heimat. Erst recht gilt dies für viele Jugendliche der zweiten Generation, in Deutschland geboren, in türkischen (oder anderen) Enklaven aufgewachsen. Das Dazwischen-Sein festzustellen und zu beklagen, ist ein erster Schritt, um sich überhaupt mit diesem Befinden beschäftigen zu können.

Hinter dem Verlorensein: die Trauer
Ich bat Helen, mit Seilen im Therapieraum einen Raum für „Polen“ (was immer sie gerade damit verbindet) und einen Raum für „Deutschland“ zu legen. Sie legte die Seile so, dass in einer Ecke ein kleiner Raum für „Polen“ entstand und gegenüber ein großer Raum für „Deutschland“. Die Fläche zwischen diese Räumen war der Raum des „Dazwischen“. Aufgefordert, sich einen Platz zu suchen, der ihrem jetzigen Befinden entspreche, stellte sie sich in den Raum des Dazwischen. „Ja, so ist das gerade. Ich bin zwar in Deutschland und ich bin es nicht.“ Ihr Blick ging hin und her, häufiger zum
Polen-Raum. Sie wirkte auf mich einsam und verloren. Als ich ihr dies mitteilte, lehnte sie das Wort „einsam“ ab, da sie ja mit zahlreichen Menschen zusammen sei. „Aber verloren, das trifft es gut. Ich komme mir oft so verloren vor.“
„Wenn Menschen sich verloren fühlen, kann es sein, dass sie etwas verloren haben. Ich schlage Ihnen ein Experiment vor, um dem Verlorensein vielleicht ein wenig mehr auf die Spur zu kommen. Bitte suchen Sie sich von den Instrumenten eins aus und gehen Sie damit wieder dorthin, wo Sie jetzt stehen.“
Sie wählte ein Blechxylofon und begann zu spielen. Erst scheppernd und schrill und wirr und wild, dann abwechselnd mit kleinen melodischen Bruchstücken. Sehr intensiv und sehr konzentriert. Sie war dabei mehr dem polnischen Raum zugewendet. Schließlich blieb sie bei einem Ton „hängen“, wiederholte ihn mehrmals. Tränen stiegen in ihre Augen.
„Was ist jetzt?“, fragte ich.
„Ich denke an meine Schulfreundin.“
Und sie erzählte von der Freundschaft, die durch die Auswanderung zerbrach. Bei späteren Besuchen waren sie sich fremd geworden.
Während sie erzählte, spielte sie oft den „Ton der Freundschaft“, wie sie ihn nannte. Dabei wurde sie traurig und wandte sich immer mehr dem „Polen“-Raum zu.
„Was haben Sie noch zurückgelassen?“
Sie erzählte und erinnerte sich immer mehr: die geliebte Großmutter, deren Kaninchen, die Lieblingsbücher, den Baum vor dem Fenster usw. Traurig zwar, doch diese Trauer war nicht verkrampft, sondern löste sich. Gegen Ende der Stunde spielte sie ein „Lied der Trauer“ auf dem Balafon, ergreifend und loslassend zugleich.
Die folgenden Stunden waren von weiterer Trauerarbeit gezeichnet. Der Prozess war schmerzhaft, aber lohnend. Trauern ist das Gefühl des Loslassens (Baer/Frick-Baer 2006). Wird aus der festgefrorenen Trauer ein Prozess des Trauerns, kommt ein fließender Prozess des Loslassens in Gang. Dazu ist es notwendig, zuerst einmal hinzuschauen und das zu betrachten wovon es loszulassen gilt. Helen war nicht mehr bewusst gewesen, was sie verloren hatte. Der konkrete Schmerz hatte sich in dem diffusen Befinden des Verlorenseins aufgelöst. Vom Verlorensein zu der Beschäftigung mit dem zu gelangen, was ein Mensch verloren hat, ist ein Weg, den ich mit zahlreichen KlientInnen zwischen den Kulturen beschritten habe. Ich kenne keine
Klientin und keinen Klienten mit einem interkulturellen Hintergrund, bei dem dieses Thema nicht von wesentlicher Bedeutung war.
Die Trauer tritt in der Regel nicht offen auf, sondern äußert sich in Unruhe und ähnlich diffusem Befinden. Wird dieser Unruhe näher nachgespürt oder wird sie zum Klingen gebracht, taucht das Gefühl des Verlorenseins auf. Der Schriftsteller W. G. Sebald bezeichnet es in seiner Erzählung „Die Ausgewanderten“ als „mir unbegreifliches Gefühl der Unverbundenheit“. Oft hat der Umstand, dass den Menschen die Tatsache, dass sie etwas verloren haben, entglitten ist, damit zu tun, wie der Abschied erfolgte. Eine Klientin beschrieb ihn, sie sei aus ihrer Heimat „herausgerissen“ worden. Helen sagte, sie sei nach Deutschland „versetzt“ worden. Als ihre Trauer wieder lebendig geworden war, erinnerte sie sich, dass alle sehr traurig waren, als sie die alte Heimat verließen, „selbst der Vater hat geweint“. Doch dann war es so, als hätte es „keine Zeit mehr“ gegeben zu trauern. Der Abschiedsschmerz war wie weggewischt, Trauern war verboten. Ich beobachte oft, dass je mehr Verlorensein entsteht, je weniger um das Verlorene getrauert werden durfte oder konnte.


Hinter dem Druck: die Scham
„Ich durfte zu Hause nur Deutsch sprechen. Wenn mein Vater von mir ein polnisches Wort hörte, bekam ich eine Ohrfeige.“ Als Helen in den Raum für „Deutschland“ ein Musikinstrument setzte und es spielte, erklang eine Atmosphäre, die sie als „Druck“ beschrieb. Die Familie musste viel arbeiten, um Geld zu verdienen und so zu leben wie die Deutschen. Die Eltern lernten auch ein wenig Deutsch, sprachen aber Polnisch untereinander. Die Tochter sollte „es einmal besser haben“ – deswegen der Druck hinsichtlich der Sprache. Der große Maßstab, nach dem in der Familie „alles“ bewertet wurde, war die Leistung, die schulische Leistung, die Leistung im Studium, die berufliche Leistung und das Geld, das verdient wurde.
Bei Familien, die auswandern oder fliehen mussten, ist dieser Druck besonders häufig und intensiv anzutreffen und scheint eine existenzielle Bedeutung zu haben. Die materielle Not des Übergangs macht ebenso Druck wie die Sorge um die Zukunft der Kinder. Den größten Druck macht das Ringen um die Identität. Wenn die eigene Identität verloren geht oder neu definiert werden soll, ist dies eine
große Anstrengung, die nach innen bedrückt und nach außen eine Atmosphäre des Drucks ausstrahlt.
Manche Familien, die aus anderen Ländern nach Deutschland gekommen sind, versuchen, ihre alte Identität zu bewahren. Doch auch diese wird brüchig, vor allem aber für die Heranwachsenden der zweiten Generation. Bei polnischen und anderen osteuropäischen Familien ist oft eine große Anstrengung zu beobachten, unsichtbar zu werden, um in Deutschland wie Deutsche zu wirken und nicht aufzufallen.


In dem Drang, nicht als Zugewanderte gesehen zu werden, ist oft Scham enthalten, die Scham, „anders“ zu sein, die Scham, „nicht richtig“ zu sein. Helen erzählte oft davon, dass sie sich in der Schule geschämt hatte, weil sie die Sprache nicht konnte, oft Worte verwechselte und zudem manchmal ausgelacht wurde. Die Scham verstärkte den Druck, zu lernen und „es den andern zu zeigen“. Doch die Scham ging noch tiefer.
Einmal beschäftigte sie sich mit ihrer Mutter. Sie saß am Klavier und improvisierte, was ihr zu ihrer Mutter einfiel und was sie ihr gegenüber empfand. Wieder war viel Druck in den Klängen und in der Atmosphäre, so wie auch die Beziehung zwischen Helen und ihrer Mutter sehr bedrückend und von Druck gekennzeichnet war, ohne dass Helen benennen konnte, was denn den Druck produzierte. Sie spielte und spielte und verstummte plötzlich.
„Was ist jetzt?“
„Ich weiß nicht. Es ist still und so leer …“
„Lauschen Sie der Stille und der Leere. Wie klingt sie?“
Helen lauschte, lange Zeit.
„Ich höre Schritte.“
„Wie klingen sie?“
„Da kommt jemand die Treppe hoch. Langsam.“
„Hören Sie zu, lauschen Sie.“
„Das ist meine Mutter. Es ist Abend. Sie ist müde und kommt von der Arbeit zurück.“
Und sie erzählt, dass ihre Mutter vormittags und abends putzen ging. Wenn sie am Abend nach Hause kam, hörte Helen schon an den Schritten, wie müde sie war. „Wenn sie sehr müde
war, hat sie danach geweint. Das sollte ich nicht mitbekommen, aber ich habe es trotzdem gehört.“ Ihre Augen füllen sich mit Tränen.
„Wie ging es Ihnen, wenn Sie Ihre Mutter weinen gehört haben?“
„Ich habe mich geschämt, weil sie ja für mich gearbeitet hat, damit ich zur Schule gehen kann und studieren kann. Und ich habe abends oft dagesessen und im Radio Musik gehört. Und sie hat gearbeitet.“
Ich bat sie, einen Raum der Scham zu gestalten. Sie legte mit einem Seil einen kleinen Raum aus und baute um den Raum herum eine Mauer aus Kissen.
„Der Raum der Scham ist zwar klein, da ist aber viel drin. Drumherum ist ein Mauer, damit die Scham unsichtbar bleibt. Das ist die Fassade, das ist der Druck. Dass ich mich geschämt habe, habe ich außer Ihnen noch niemanden erzählt.“
„Was ist in dem Raum an Vielem drin?“
Helen stellte vier Musikinstrumente hinein: eines für die Mutter, die sich furchtbar geschämt habe, dass sie als Putzfrau arbeitete, was niemand wissen durfte; eines für den Vater, der sich schämte, dass er vom Ingenieur zum einfachen Arbeiter „abgestiegen“ war; eines für sie selbst, die sich schämte, dass sie anders als die anderen war und dass sie ihrer Mutter nicht helfen konnte; und eines für die Besuche aus Polen, die sich ihrer Armut schämten. „Viel Scham, nicht wahr?“, meinte sie. „Und eine dicke Mauer drum herum.“ In der Weiterarbeit spielte sie die „Posaunen von Jericho“ mit einer Blockflöte, um die Mauer aufzuweichen. Als ihren „Schamfresser“ entdeckte sie ihren Mut, die eigene Scham zu zeigen und sich mit der Mutter über das Schämen auszutauschen. Ihrer beider Beziehung
verlor danach an Druck.
Auch in anderen Therapien mit KlientInnen, die zwischen Kulturen wanderten, bin ich oft der Scham begegnet. Armut und Anderssein können Anlass sein, sich zu schämen, Beschä- mungen tun ihr Übriges. Oft ist die Auswanderung auch wie bei Helens Eltern mit einem Verlust des sozialen Status’ verbunden, was Scham hervorruft. Nun haben Menschen, die sich schämen, selten die Neigung, ihre Scham öffentlich kund zu tun. Die Scham wird eher unsichtbar und unhörbar und erscheint wie die von Helen als Stille und Leere. Immer lohnt es sich, in der Therapie mit Menschen wie Helen, aus welchen Ländern sie auch kommen, auf die Scham zu achten und darauf, wie insbesondere die existenzielle Scham über Generationen weitergegeben wird. Ein solches Thema wird selten am Anfang stehen, es braucht Vertrauen.

Hinter den Brüchen: die Sehnsucht
Als Helen einen Erfahrungsprozess musizierte, erklang ein wellenförmig ansteigendes Crescendo, das plötzlich dramatisch abbrach. „So geht es mir immer wieder. Ich lass mich auf etwas ein, ich freue mich – und dann kommt die Katastrophe.“ In der Musiktherapie haben wir die wunderbare Möglichkeit, solche Prozesse erklingen zu lassen und im Erklingen zu variieren, mit ihnen zu spielen und Veränderungen zu erproben. Dabei werden Lebensmuster in Mustern des Musizierens hörbar und biografische Zusammenhänge deutlich. Ich bat Helen, das „so geht es mir immer wieder“ zu musizieren. Sie tat es auf dem Klavier, eine Viertelstunde lang und durchlebte dabei eine Fülle von Emotionen.
Bei der Arbeit mit Erregungskonturen ist es oft entscheidend, hilfreich zu fragen, was vor Beginn eines Prozesses geschah. Auch hier erklang Verlorensein – und hier wurde vor allem eine brennende Sehnsucht hörbar. Helen gab der Sehnsucht einen Raum, der fast das ganze Therapiezimmer ausfüllte. „Die Sehnsucht tut immer so klein und unscheinbar. In Wirklichkeit ist die aber so groß.“ Sie wollte genauer wissen, wonach sie sich eigentlich sehnte, und legte verschiedene Instrumente in den Sehnsuchtsraum. „Bitte spielen Sie, improvisieren Sie, lassen
Sie ihre Sehnsucht erklingen. Wenn Sie sich zuhören, werden Sie hören, wonach Sie sich sehnen.“
Sie spielte und probierte vieles aus. „Zuerst dachte ich, ich sehne mich danach zurück, wie es früher war, wieder nach Polen. Aber das war es nicht. Das ist vorbei.“ Helen macht damit eine Erfahrung, die ich von vielen Menschen zwischen den Kulturen kenne. Oft ist die Sehnsucht zuerst einmal rückwärtsgewandt. Doch viele entdecken in der Sehnsucht neue Qualitäten. Helen entdeckte in ihrem Raum der Sehnsucht: „Ich will selbstverständlich werden.“


Aktion Brückenschlag
Das große Drama der Verbindungslosigkeit begann für Helen mit dem abrupten Verlust ihrer polnischen Heimat. „Plötzlich war ich im Westen. Plötzlich war alles anders.“
In jeder Therapie mit entwurzelten Menschen geht es irgendwann darum, diesen Weg von dem einen Ort zum anderen noch einmal zu gehen und damit einen inneren Weg zu beschreiten, der eine Verbindung ermöglicht, einen Brückenschlag, einen Übergang. Gelingt dieser Übergang, verbindet sich auch innerlich in dem Menschen etwas und wächst ein Boden für die Entwicklung der eigenen Identität bis hin zu einem Boden des Selbstverständlich-Seins.
Helen baute irgendwann das gleiche Szenario wieder auf, wie am Anfang beschrieben: auf der einen Seite die polnische Heimat und Vergangenheit, auf der anderen Seite die deutsche Gegenwart. Doch diesmal verlor sie sich nicht im Dazwischen, sondern stand auf der polnischen Seite, wohin sie über die Trauerarbeit wieder Zugang gefunden hatte. Sie sagte: „Hier komme ich her. Damals bin ich wie ein Vogel von hier nach drüben geflogen und war so schnell da drüben, dass ich den Übergang gar nicht mitbekommen habe. Jetzt muss das anders gehen, jetzt will ich es anders probieren.“
„Was sehen Sie in dem Zwischenraum vor sich oder was hören Sie dort?“
„Das ist wie ein Fluss, nicht tief, aber doch kraftvoll, und ich stehe am Ufer und ich höre das Rauschen des Wassers.“
„Wie können Sie hinüberkommen?“
„Da sind Steine im Fluss. Ich kann nicht alle sehen, aber ich sehe den nächsten und ich möchte probieren, dorthin zu gehen, um zu sehen, ob es doch wieder einen nächsten gibt und ich darüber einen Weg finde.“
So begann die Aktion Brückenschlag. Sie betrat den ersten Stein und die nächsten folgten. Auf jedem Stein spielte sie Musik oder sang sie, denn in der Zwischenzeit hatte sie den Mut gefunden, ihre Stimme zu entdecken. Auf dem ersten Stein erklang ein herzzerreißendes polnisches Kinderlied. Als sie voller Tränen dieses Lied gesungen hatte, sah sie den nächsten Stein und konnte dorthin gehen. Von diesem Stein aus blickte sie zurück und spielte eine Abschiedsmusik an ihre Freunde, dankte ihnen für ihre Freundschaft in ihren Kinderjahren. Den nächsten Stein konnte sie nur erreichen, indem ich ihr von diesem Stein aus die Hand reichte und Halt gab. Und so ging es weiter, Stein für Stein, Klang für Klang durchquerte sie den Fluss.
Diese Aktion Brückenschlag war der entscheidende Prozess auf dem Weg zur Selbstverständlichkeit. Das, was vorher übersprungen worden war, konnte sich verbinden. Solche Schlüsselprozesse, in denen sich das Drama und die Lösung verdichtet, können eine Form wie bei Helen annehmen oder einen anderen kreativen Ausdruck finden. Wesentlich ist der Prozess eines Übergangs, der bewusst und schrittweise erfolgt und in dem jeder Aspekt des Erlebens erklingen darf.
Die Zugehörigkeit erstreckt sich nach solcher Arbeit nicht mehr auf die Frage: „Bin ich Polin oder Türkin oder Armenierin oder Tunesier oder Deutscher?“ Die KlientInnen fühlen sich eher den Menschen zugehörig, mit denen sie ein ähnliches Schicksal verbinden und ähnliche Herausforderungen und Aufgaben. Dieser Prozess ist auch ein Weg vom Erdulden zum Aktivwerden, ein Schritt ins Handeln, ein Akt, das eigene Schicksal in die Hände zu nehmen, nicht allein, sondern gemeinsam mit anderen. Die Frage Deutscher oder Pole wird dann nicht mehr so wichtig, Helen sagte am Ende der Therapie:
„Ich nenne mich jetzt Elena, das war ich eigentlich immer und das bin ich wieder geworden. Ich bin die deutsche Elena.“

Der Autor:

Ulrich Baer
Dr. phil. (Gesundheitswissenschaften), Diplom-Pädagoge, Kreativer Leibtherapeut AKL, Musiktherapeut, Mitbegründer und Wissenschaftlicher Berater der Zukunftswerkstatt therapie kreativ und Wissenschaftlicher Leiter des Instituts für soziale Innovationen (ISI) sowie des Instituts für Gerontopsychiatrie (IGP), Vorsitzender der Stiftung Würde, Mitinhaber des Pädagogischen Instituts Berlin (PIB), Autor

Literatur
Baer, U., Frick-Baer, G. (2004): Klingen, um in sich zu wohnen. Methoden und Modelle leiborientierter Musiktherapie. Neukirchen-Vluyn
Baer, U., Frick-Baer, G. (2006): Vom Trauern und Loslassen. Bibliothek der Gefühle Band 8. Neukirchen-Vluyn
Baer, U., Frick-Baer, G. (2016): Flucht und Trauma. Gütersloh
Sebald, W. G. (2002): Die Ausgewanderten. Vier lange Erzählungen. Frankfurt am Main