Schwerpunktthema II

Ambulante Psychotherapie in Zeiten von Corona

Von Hans Ulrich Schmidt

Einführung
Ich setze den Schlusspunkt unter diesen Beitrag am Tag eines einjährigen Jubiläums der etwas anderen Art: Vor genau einem Jahr kam die Nachricht von einer ersten Infektion mit Covid-19 zu uns.
Seit gut einem Jahr fordert uns Behandler*innen – sei es in der somatischen Medizin, aber auch auf dem Feld der Psychotherapie – die Corona- Pandemie mit einer so nie gekannten rsp. erlebten Situation heraus: In einer medizinischen Entwicklung begriffen, die immer stärker auf das Individuum fokussiert, personalisierte Zugänge ausbaut, sind wir plötzlich mit einem „äußeren Gegner“ konfrontiert, der die Gesundheitssysteme der ganzen Welt zum Teil in relativ kurzer Zeit zu destabilisieren droht, bis jetzt weltweit fast 100 Millionen Infektionen und weit über 2 Millionen Todesopfer nach sich gezogen hat und nicht zuletzt dazu geführt hat/führt, dass z. B. Patient*innen auch dann nicht mehr ärztliche Hilfe suchen, wenn das – völlig unabhängig von Covid-19, z. B. im Zuge eines Schlaganfalls – unbedingt nötig wäre. Solche sekundären Folgen, aber auch Zunahme psychischer und physischer Gewalt, soziale Folgen etc. prägen zusätzlich das Geschehen. Nachdem im letzten Jahr
bei den Patient*innen Angst, mitunter ein gewisses Lähmungsgefühl, z. T. Wut über die wiederholt eingesetzten Beschränkungen affektiv im Vordergrund standen, werden aktuell stärker depressive Verstimmungen, nach wie vor Angsterkrankungen, Schlafstörungen, somatoforme Störungen (u. a. Schmerz) sowie nicht selten auch ein Gefühl von „Ausgebranntsein“ geklagt. Zitat einer Patientin: „Der Alltag ist eine zähe, graue Masse – mir fehlen die Abwechslung, das unter Menschen Sein“. Auch bislang erstaunlich positivmit der Situation umgehende Älterewerden angesichts der Dauer und ungewissen Zukunftsperspektive depressiver. So meinte gestern eine bislang erstaunlich stabile über 80jährige Patientin: „Langsam bin ich genervt von Corona, ich merke das auch körperlich.... vor allem spüre ich die lange Isolation!“
Sogar unser Umgang mit dem Sterben musste sich verändern. Nassehi u. Sake (2021): „Es gibt eine bisher unbemerkte Besonderheit des Sterbens „an und mit“ Covid – und es ist genau das, was überhaupt das Besondere dieser Covid-Krise ausmacht: die notwendige Begrenzung und Regulierung von direktem Kontakt, von physischer Nähe und habituell eingeübtem Umgang miteinander. Es sind viele Menschen vor allem allein gestorben, insbesondere alte Menschen in Altenpflegeeinrichtungen und Krankenhäusern – nicht, weil niemand da war, sondern weil niemand hindurfte“ (S. 48).
Ganze therapeutische Formate, in denen insbesondere Ressourcenaktivierung in einem Kurzzeitsetting im Vordergrund steht, wie die sog. Well-Being Therapie (s. a. Fava 1999), in den 90er Jahren im psychiatrischen Setting an und für Patient*innen mit affektiven und Angststörungen entwickelt, werden wiederbelebt und auf ein breiteres diagnostisches Spektrum ausgerichtet. Brakemeier beschreibt u. a. die folgenden Charakteristika: Therapiefokus auf Beobachtung und Maximierung eines ausbalancierten Wohlbefindens; Einbezug bewährter und evidenzbasierter Strategien der Kognitiven Verhaltenstherapie; philosophische, wachstumsorientierte existenzielle Basis; Bereicherung durch...Lebensstilmodifikationen; Hilfe zur Selbsthilfe (s. a. Brakemeier 2020, S. 167–168). Man ahnt hinter
diesen Zielpunkten die aktuellen Nöte unserer Patient*innen.
Nun gibt es auf Seiten der Psychotherapie durchaus seit längerem Bestrebungen – dieses vormals eher auf dem Feld der behavioristischen Verfahren –, in stärkerem Maße Online- Formate zu nutzen. Zudem wird in der ärztlichen „Behandlungswelt“ immer stärker ein Einsatz digitaler Kommunikation gefordert – auf den letzten Deutschen Ärztetagen nahm die Auseinandersetzung mit solchen Formaten immer mehr Raum ein. Im Grunde hat also die Pandemie eine Entwicklung gefördert, die sich länger andeutete und nun ihre einschlägige Begründung in eben dieser findet. Es gibt aus ärztlicher Sicht durchaus prominente Meinungen, die z. B. mittelfristig um die 25 Prozent der Sprechstundenkontakte digitalisieren wollen. Natürlich gibt es hier durchaus sinnvolle Gestaltungsmöglichkeiten: Wenn z. B. ein einem Neurologen bereits gut bekannter (das betone ich hier bewusst) Parkinsonpatient mitunter monatelang warten muss, um seine Medikation umstellen zu lassen, macht das wenig Sinn und
bedeutet eine große Zumutung. Eine kurze Videosprechstunde mit entsprechender Bewegungsdemonstration kann hier eine deutliche Verbesserung der Versorgung nach sich ziehen. Und hier lassen sich zahlreiche andere Beispiele finden.

Klinische Gegebenheiten
„Die rasende Verbreitung der Pandemie spiegelt sich ... bereits in der Reflexion der psychischen Folgen der Covid-19-Pandemie wider ... Erste Metaanalysen zur Thematik der psychischen Belastung von Mitarbeitenden im Gesundheitswesen zeigen dabei eine deutlich erhöhte Belastung (Prävalenzraten von 23,2% Depression, 22,8% Angststörungen und 38,9% Schlafstörungen)“ (Zipfel et al. 2020,
S. 269). Gerade für die Älteren, eine auf den möglichen Verlauf bezogene Risikogruppe, die besonders starken Schutzmaßnahmen unterworfen ist, kann „der massive Mangel an menschlichem Kontakt ... zu erheblichen psychischen Belastungen führen“ (Bühring 2020, B 1740). Eine andere wichtige diesbezügliche Risikogruppe – hier eher bezogen auf die Entwicklung psychischer Sekundärfolgen – stellen Kinder und Jugendliche dar. In einer DAK-Stichprobe gaben 29% von ca. 1.000 Kindern und Jugendlichen an, sich während der Schulschließungen ab Mitte März letzten Jahres schlechter gefühlt zu haben (ebd., B 1742). Im Juli letzten Jahres lagen bereits fast 600 internationale Publikationen zum Thema „Covid-19 and Mental Health“ vor.
Zu den Risikofaktoren für einen schweren Verlauf zählen u. a. ein höheres Alter und Vorerkrankungen wie Diabetes mellitus, chronische Lungenerkrankungen (v. a. chronisch obstruktive), kardiovaskuläre Erkrankungen, Nierenkrankheiten, neurologische Erkrankungen sowie eine Immunsuppression. Langzeitschäden können inerster Linie Nervensystem (ca. 85% der Infektionen führen zu Verlust des Geruchs- und Geschmackssinns), Gehirn (auch in Form von Psychosen und Depressionen etwa), Lunge, Herz, Gefäße (bei ca. 2% der Infizierten) und Haut betreffen. Aber auch die Manifestation einer Diabetes-Erkrankung kann z. B. getriggert werden. Am besten dokumentiert sind Langzeitfolgen für die Lunge. „Wesentlich häufiger als bleibende Organschäden ist allerdings
das Fatiguesyndrom“ (Eckert 2020, B 1737). Bei 0,2–0,7% der Patient*innen treten unter Covid-19 auch Bewegungsstörungen auf, interessanterweise auch funktionelle.
Auch wenn mittlerweile erste Patient*innenkohorten geimpft werden, ist durch die noch nicht ausreichende Verfügbarkeit verschiedener Impfstoffe, zunehmend auftretende Virus-Mutationen sowie z. T. unverändert unachtsamen Umgang mit den Hygieneregeln noch lange nicht von einer Stabilisierung der Situation auszugehen. 

Beziehung in „neuem Gewand“
Immer dann, wenn die Beziehung, deren gemeinsames Erleben und Gestaltung im Zentrum eines Kontaktes stehen, erscheint eine unmittelbare Begegnung von Nöten. Gerade in den psychodynamisch orientierten Behandlungssettings ist davon auszugehen, dass der direkte Beziehungskontakt von erheblicher Wichtigkeit ist. Non-verbale Einflüsse dürften – neben den expliziten Inhalten wie z. B. Art
einer Intervention – den Behandlungseffekt stark beeinflussen. Zahlreiche klinische Erfahrungen stützen diese Annahme. Auch wenn die therapeutische Beziehung als wichtiger allgemeiner Wirkfaktor nicht allein für die Güte und den Erfolg einer psychotherapeutischen Behandlung verantwortlich ist, macht sie doch einen wichtigen Anteil am Behandlungseffekt aus. Das gilt für die primär beziehungsorientierte Richtlinienpsychotherapie (mit den sog. Psychodynamischen Verfahren) und viele andere psychotherapeutische Methoden (wie z. B. Gesprächspsychotherapie, Gestalttherapie – und
natürlich Musiktherapie). So sind z. B. Videosprechstunden dann deutlich besser durchführbar, wenn man die Patient*innen länger kennt, ihre Mimik, Gestik, ihre „Aura“. Es passiert derart viel „zwischen den Worten“, dass die Abwesenheit eines „leiblichen“ Gegenübers zunächst nur sehr schwer mit psychotherapeutischen Erlebens- und Erkenntnisprozessen vereinbar erscheint.

Erfahrungen in der ambulanten Psychotherapie
Wir bereiten z. Zt. im UKE-Ambulanzzentrum eine Studie zum Erleben der Pandemie mit ambulanten Patient*innen vor, die tiefenpsychologisch fundiert und verhaltenstherapeutisch behandelt werden. Nach einer anfänglichen Phase mit Zunahme von Angst oder Depression (als typische Folgen) finden sich aktuell eher Einengungserleben, zunehmende Aggressivität, Erschöpfung, eine Zunahme körperlicher Symptome und – im Verhältnis zur Angst – deutlich mehr Depressivität als in der ersten Corona-Phase. Typische Zitate sind: „Mir fehlt die Abwechslung, das unter Menschen Sein – der Alltag ist eine zähe, graue Masse“. „Das menschliche Miteinander ist entfremdet“. „Mir fehlt die Perspektive – ich hab’ keine Lust mehr“. „Momentan bin ich so kopfmäßig ausgelaugt“. „Man ist immer auf der Hut, man muss immer achtgeben“. Solche Entwicklungen verwundern nicht und liegen nahe.
„Psychodynamisch dürften Spaltungs- und Verleugnungsprozesse ein größeres Gewicht bekommen, weil äußere Bedrohung bewusste und unbewusste Leidenserfahrungen berühren kann und somit archaische Abwehrmechanismen vermehrt zu Einsatz kommen. Innere Prozesse der Selbstberuhigung und die Erfahrung von Schutz in guten Beziehungen stehen dagegen weniger zur Verfügung“ (Schultze-Jena 2021).
Interessanterweise gibt es auch nicht selten gegenläufige Entwicklungen mit nicht nur ausbleibender Befindlichkeitsverschlechterung, sondern sogar Befindlichkeitsverbesserungen, die von den Patient*innen explizit mit der Pandemie in einen Zusammenhang gestellt werden. So berichtete mir unlängst eine sehr leistungsbetonte Patientin mit hohen Erwartungen an sich selbst bei ausgeprägter Internalisierung von Fremderwartungen, dass sie sich innerlich kaum jemals so wohl wie in der Corona-Zeit gefühlt habe: „Ich habe gerade ’ne ganz gute Zeit. Es sagt mir keiner, Du musst, Du musst, das entfällt, weil ich einen Super-Grund habe ... ich habe überhaupt keinen Stress, mir geht es richtig gut!“. Eine andere Patientin äußerte: „Es geht mir wirklich gut mit der Corona-Situation – ich kann tun, was ich will, muss mich nicht mehr nach den Erwartungen der anderen richten, was vor allem bei Wochenendunternehmungen ziemlich stressig sein konnte“.
Die persönliche Betroffenheit der Behandler*innen nimmt zu, etwa durch das Erleben einer deutlich veränderten Atmosphäre in Alten- oder Pflegeheimen – je besser die dortigen Hygienekonzepte seien, desto schwieriger sei dort manchmal die menschliche Seite (Müller-Thomsen 2021). Menschen mit Unterstützungsbedarf – etwa mit Behinderungen und/oder chronischpsychiatrischen Erkrankungen – müssen z. Zt. oft monatelang Einrichtungen, in denen sie tagsüber beschäftigt sind, meiden, was zu zusätzlich massiven sozialen Beeinträchtigungen führt. In der ambulanten Psychotherapie werden – im Falle des „leiblichen“ Kontakts – je nach persönlichen, institutionellen und räumlichen Gegebenheiten häufig Masken getragen, was neben einer Beeinträchtigung des gemeinsamen Beziehungserlebens u. a. zu Unkonzentriertheit und Müdigkeit auch auf Behandler*in-Seite führt. Man befindet sich gleichsam in einer Art Kokon. Desweiteren kommt es zu einer Art professioneller Deformation (Schultze-Jena 2021): Von uns Therapeuten werde erwartet, dass wir jederzeit auch in kritischen Situationen handlungsfähig sind, quasi ungestört funktionierten. Naturgemäß seien wir aktuell aber stark mit eigenen Abwehrvorgängen beschäftigt, z. B. etwa damit, unsere eigene Angst zu verleugnen, um mit unseren Patient*innen arbeiten zu können. Das könne zu Einschränkungen im Blick auf das Gegenüber führen. Dazu komme, dass interessanterweise gerade psychiatrisch schwer kranke Patient*innen oft intuitiv Gefühle im Gegenüber wahrnähmen. Gerade die Arbeit mit misstrauischen Patient*innen könne dadurch noch erschwert sein.
Nach übereinstimmender Auffassung vieler ambulanter Behandler*innen ist es sicherlich sinnvoll und hilfreich, den klassischen Abstinenzbegriff neu auszuloten. Beide Parteien sind nun quasi – bezogen
auf die äußere Gefahr – „in einem Boot“, es kann hilfreich sein, das therapeut*innenseitige Erleben transparenter zu machen, ohne allerdings möglichst im Gegenüber Angst in dem Sinne zu erzeugen, dass man nicht mehr hilfreich wirken könne. Ein Gleichgewicht zwischen einer abstinenten Haltung zum einen und der Notwendigkeit, sich teilauthentisch zu „zeigen“, zu halten, fordert zusätzliche behandler*inseitige Aufmerksamkeit und Kraft.
Manchmal berichten uns Patient*innen auch darüber, dass sie in der Online-Situation die Wege zur Behandlung vermissen, auf denen sie kleinen Ritualen nachgehen, reflektieren, auf dem „verdauen“, was gerade miteinander erlebt worden ist – ein sehr interessanter und wichtiger Aspekt!

Sonderfall Musiktherapie
In der Musiktherapie ist die Situation noch komplexer: Zwar gibt es mittlerweile eine Menge Formate, mit denen es z. B. möglich ist, quasi synchron online miteinander zu musizieren, sich da durchaus auch fein abzustimmen. Die Beiträge von Kappelhoff und Wormit beschäftigen sich u. a. damit. Aber das Atmosphärische, so ist übereinstimmend zu hören, geht zu weiten Teilen verloren. Das muss in besonderem Maße für eine Therapieform gelten, die – zumindest auf die aktive Musiktherapie mit Improvisation etc. bezogen – doch darauf ausgerichtet ist, Selbst- und Beziehungserleben mithilfe von Musik zu vertiefen. Trotzdem „sind wir überzeugt, dass sich die musiktherapeutische Community gerade jetzt nicht ins Vertagen zurückziehen darf“ (Haugwitz u. Schmidt 2020, S. 313). Auch die Musiktherapie sollte versuchen, der Online-Situation zum einen so konstruktiv wie möglich zu begegnen – natürlich stets im Bewusstsein der entsprechenden Limitationen. Zum anderen sollte sie sich dort nicht verschließen, wo neue digitale Formate einerseits Patient*innen zugute kommen könnten, für die sonst eine entsprechende Behandlung organisatorisch nicht möglich wäre, andererseits
digitale Formate „ausreichen“ könnten (ich denke etwa an rhythmische Stimulation von Patient*innen mit einer Parkinson-Erkrankung).

Voranschreitende Digitalisierung
Während in ärztlichen Praxen seit März 2020 der Einsatz von Videosprechstunden um 25% (vs. 10% davor) zugenommen hat, ist in der psychotherapeutischen Versorgung ein Zuwachs von 74% (vs. 3% vor März 2020) zu verzeichnen. Die Zahl der Praxen, die Videosprechstunden anbieten, stieg 2020 auf fast 40%. Eine große Mehrheit der dort arbeitenden Kolleg*innen ist der Auffassung, dass sich das Format gut oder sehr gut für die Besprechung von Untersuchungsergebnissen (69%), Arzt-Patienten-Gesprächen ohne Untersuchung (69%) und Anamnese (61%) eignet (s. a. Haserück, 2020). In einem Positionspapier nimmt die Ärztekammer Hamburg Stellung zum Thema Digitalisierung (s. a. Wilsdorf, 2020). „Fernbehandlung wird keine Randerscheinung bleiben, sondern ein wichtiger Baustein in der Patientenversorgung ... werden. Ärztliche Kompetenzen in allen Bereichen der Digitalisierung müssen nachhaltig gefördert und ausgebaut werden (Wilsdorf, S. 22). Verschiedene Plattformen für Videosprechstunden wie die Hamburger „Zava“, die bislang z. B. Beratungen für Selbstzahler anboten (initial „Lifestyle-Fragen“, später chronische Erkrankungen, zuletzt bereits „normale Hausarztbesuche“), werden zukünftig auch direkt in die ambulante Regelversorgung eingebunden. Es erfolgt eine Kooperation bereits mit 12.000 Ärzt*innen und Therapeut*innen. Deutschlands größte gesetzliche Krankenkasse, die „Techniker“, zählte auf einer eigenen Plattform im 2. Quartal 2020 fast 20.000 Videosprechstunden. Im letzten Quartal 2019 waren es dagegen gerade einmal 23! David Meinertz, Sohn eines prominenten Hamburger Kardiologen: „Die Corona-Pandemie hat den Blick auf die Telemedizin geschärft. Das Verhältnis zwischen Ärzten und Patienten sowie den Krankenkassen hat sich durch Corona grundlegend verändert. Viele Patienten und auch Ärzte erfahren gerade, was online möglich ist.“ (Hamburger Abendblatt 2020, S. 8). Es geht aber weiter: „Es hat ja schon ohne
Corona keinen Spaß gemacht, sich in ein Wartezimmer zu setzen. Jetzt kann man den Arzt online aufsuchen. Wenn der Arzt online nicht weiterhelfen kann, vermitteln wir einen direkten Termin“ (ebd., S. 8). Die Video- Sprechstunden ergänzen u. a. ebenfalls zunehmende Gesundheits-App- Formate. Die App „Kalmeda“ kann bereits für Patient*innen mit chronischem Tinnitus verschrieben werden. Auf ihr werden leitliniengerechte verhaltenstherapeutische Interventionen angeboten. 

Risiken und Nebenwirkungen digitaler psychotherapeutischer Kommunikation
Vielen Äußerungen im Zusammenhang etwa mit ärztlichen/psychotherapeutischen Online-Sprechstunden ist zu entnehmen, dass die Covid-19-Pandemie eine Entwicklung deutlich beschleunigt hat, die aller Orten in den „Startlöchern“ steckte. Lange Wartezeiten, fehlende Ressourcen oder andere organisatorische Hürden sind hier typische Argumente. Sicherlich spricht vieles dafür, auch zukünftig digitale Formate mehr in psychotherapeutische Settings einzubauen. Schwierig wird es, wenn sich damit Motivationssituationen verändern: So erlebte ich während einer digitalen Behandlung (aufgrund einer ungeschickten patientenseitigen Kameraeinstellung), dass mein Gegenüber noch im Bett lag. Ein anderer, relativ junger Patient mit einer zwar chronischen, psychosomatisch tingierten Darmerkrankung, der aber kein Risikopatient war, sah sich selbst als genau einen solchen und bestand darauf, keine „Live“-Kontakte wahrnehmen zu wollen. Diesen – ohnehin schwierig zu führenden, aber sehr behandlungsbedürftigen – Patienten verlor ich durch dieses Setting. Es ist m. E. also sinnvoll und wichtig, für jeden Einzelfall Vor- und Nachteile digitaler Kommunikation abzuwägen (immer natürlich unter der Berücksichtigung infektiologischer Risiken). Die Angstbekundung eines Nicht-Risiko-Patienten sollte insofern nicht per se zur „automatischen“ Vereinbarung einer Videosprechstunde führen! Die psychotherapeutische Situation ist eine besondere, ihr gebührt Aufmerksamkeit, Respekt und eine entsprechende patienten- und behandlerseitige Ein-stellung. Auch wir Behandler sind ja
zunehmend „verführt“, (auch zukünftig) mit der online-Behandlung ein Medium zu wählen, das es ggf. auch für uns unter Umständen bequemer – oder gar zu bequem – macht.

Der Autor:
Hans Ulrich Schmidt, Prof. Dr.
Zentrum für Musik und Musikpädagogik der Universität Augsburg Leopold-Mozart-Zentrum, Grottenau 1, 86150 Augsburg;
Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!.">Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!.
Ambulanzzentrum und Institut und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie,
Dir. Prof. Dr. Dipl.-Psych. B. Löwe,
Universitätskrankenhaus Eppendorf,
Zentrum für Innere Medizin, Martinistr. 52, 20246 Hamburg;
Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein! 

Literatur:
Brakemeier, E.-L. (2020): Die Well-Being Therapie. Eine Kurzzeittherapie zur psychischen Stabilisierung – auch in Zeiten der Corona- Pandemie. Ärztliche Psychotherapie, 1151, S. 166–174
Bühring, P. (2020): Allgemeine Verunsicherung – Psychische Belastungen in der COVID-19-Pandemie. Deutsches Ärzteblatt 117, 43, B 1740–1742
Eckert, N. (2020): Infektion mit SARS-CoV-2. Abwehr im Ausnahmezustand. Deutsches Ärzteblatt 117, 43, B 1736–1737
Fava, G. A. (1999): Well-being therapy: conceptual and technical issues. Psychother Psychosom 68, 4, S. 171–179
Gilian D., Röthke N. et al. (2020): Psychische Belastungen, Resilienz, Risiko- und protektive Faktoren während der SARS-CoV-2-Pandemie. Deutsches Ärzteblatt, 117, 38, S. 625–632
Haserück A. (2020): Praxen brauchen Mehrwerte. Deutsches Ärzteblatt, 117, 48, B 1964–1967
Haugwitz, B, Schmidt, H. U. (2020): Plötzlich alles auf dem Schirm. Musikth. Umsch. 41, 3, S. 311–313
Kessler, H., Dangella, L., Herpertz, S., Kehyayab, A. (2020): Digitale Medien in der Psychotherapie – Neue Ansätze und Perspektiven in der Behandlung von Traumafolgestörungen. Psychother Psych Med, 70, S. 371–377
Müller-Thomsen, T., Schultze-Jena, H. (2021) „Psychodynamik im Lockdown – Austausch über die Situation im ambulanten psychiatrischen und psychotherapeutischen Behandlungssetting. NAPP – Norddeutsche Arbeitsgemeinschaft für Psychiatrie e. V. Online-Seminar 22.1.21
Nassehi A., Saake, I. (2021): Selbst der Tod hat sich verändert. Die Zeit, 14.1.21, S. 48
Petzold M. B., Plag, J., Ströhle, A. (2020): Psychische Belastungen können reduziert werden. Deutsches Ärzteblatt, 117, 13. B 552 – B 556
Rubels G., Ketteler, D. (2020): Wem nützt die App? Internet- und mobilgestützte Interventionen (IMIs) im Spannungsfeld von Autonomie und Patientenwohl. Psychother Psych Med 70, S. 467–474
Rybarcyk, C. (2021): Online-Visite boomt – nicht nur wegen Corona. Hamburger Abendblatt 18.1.21, S. 8
Wilsdorf, S. (2020): Digitalisierung – Baustein für eine bessere Patientenversorgung. Hamburger Ärzteblatt 7,8/20, S. 22–23
Zielasek, J., Gouzoulis-Mayfrank (2020): Psychische Störungen werden zunehmen. Deutsches Ärzteblatt, 117, 21, B 938–939
Zipfel, S., Stengel, A., Junne, F. (2020): Psychotherapie in Zeiten der Covid-19-Pandemie – Eine kurze Reflexion. Psychother Psych Med 70, S. 269–271
Weitere Literatur beim Verfasser